Kitabı oku: «Drei Meister: Balzac, Dickens, Dostojewski», sayfa 5

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DOSTOJEWSKI

„Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß.“

Goethe, Westöstlicher Divan

EINKLANG

ES ist schwer und verantwortungsvoll, von Fedor Michailowitsch Dostojewski und seiner Bedeutung für unsere innere Welt würdig zu sprechen, denn dieses Einzigen Weite und Gewalt will ein neues Maß.

Ein umschlossenes Werk, einen Dichter vermeinte erstes Nahen zu finden und entdeckt Grenzenloses, einen Kosmos mit eigen kreisenden Gestirnen und anderer Musik der Sphären. Mutlos wird der Sinn, diese Welt jemals restlos zu durchdringen: zu fremd ist erster Erkenntnis ihre Magie, zu weit ins Unendliche verwölkt ihr Gedanke, zu fremd ihre Botschaft, als daß die Seele unvermittelt aufschauen könnte in diesen neuen wie in heimatlichen Himmel. Dostojewski ist nichts, wenn nicht von innen erlebt. Im tiefsten müssen wir die eigene Kraft des Mitfühlens und Mitleidens erst prüfen und stählen zu einer neuen gesteigerten Empfänglichkeit: bis zu den untersten geheimsten Wurzeln unseres Wesens müssen wir graben, um die Zusammenhänge mit seiner erst phantastischen und dann wundervoll wahren Menschlichkeit zu entdecken. Nur dort, ganz im Untersten, im Ewigen und Unabänderlichen unseres Seins, Wurzel in Wurzel, können wir uns Dostojewski zu verbinden hoffen; denn wie fremd scheint äußerem Blick diese russische Landschaft, die, wie die Steppen seiner Heimat, weglose und wie wenig Welt von unserer Welt! Nichts Freundliches umfriedet dort lieblich den Blick, selten rät eine sanfte Stunde zur Rast. Mystische Dämmerung des Gefühls, trächtig von Blitzen, wechselt mit einer frostigen, oft eisigen Klarheit des Geistes, statt warmer Sonne flammt vom Himmel ein geheimnisvoll blutendes Nordlicht. Urweltlandschaft, mystische Welt hat man mit Dostojewskis Sphäre betreten, uralt und jungfräulich zugleich, und süßes Grauen schlägt einem entgegen wie vor jeder Nahheit ewiger Elemente. Bald schon sehnt sich Bewunderung gläubig zu verweilen, und doch warnt eine Ahnung das ergriffene Herz, hier dürfe es nicht heimisch werden für immer, müsse es doch wieder zurück in unsere wärmere, freundlichere, aber auch engere Welt. Zu groß ist, spürt man beschämt, diese erzene Landschaft für den täglichen Blick, zu stark, zu beklemmend diese bald eisige, bald feurige Luft für den zitternden Atem. Und die Seele würde fliehen vor der Majestät solchen Grauens, wäre nicht über dieser unerbittlich tragischen, entsetzlich irdischen Landschaft ein unendlicher Himmel der Güte sternenklar ausgespannt, Himmel auch unserer Welt, doch höher ins Unendliche gewölbt in solchem scharfen geistigen Frost, als in unseren linden Zonen. Beruhigter Aufblick aus dieser Landschaft zu ihrem Himmel spürt erst die unendliche Tröstung dieser unendlichen irdischen Trauer, und ahnt im Grauen die Größe, im Dunkel den Gott.

Nur solcher Aufblick zu seinem letzten Sinne vermag unsere Ehrfurcht vor dem Werke Dostojewskis in eine brennende Liebe zu verwandeln, nur der innerste Einblick in seine Eigenheit das Tiefbrüderliche, das Allmenschliche dieses russischen Menschen uns klarzutun. Aber wie weit und wie labyrinthisch ist dieser Niederstieg bis zum innersten Herzen des Gewaltigen; machtvoll in seiner Weite, schreckhaft durch seine Ferne, wird dies einzige Werk in gleichem Maße geheimnisvoller, als wir von seiner unendlichen Weite in seine unendliche Tiefe zu dringen suchen. Denn überall ist es mit Geheimnis getränkt. Von jeder seiner Gestalten führt ein Schacht hinab in die dämonischen Abgründe des Irdischen, jeder Aufschwung ins Geistige rührt mit seiner Schwinge bis an Gottes Antlitz. Hinter jeder Wand seines Werkes, jedem Antlitz seiner Menschen, jeder Falte seiner Verhüllungen liegt die ewige Nacht und glänzt das ewige Licht: denn Dostojewski ist durch Lebensbestimmung und Schicksalsgestaltung allen Mysterien des Seins restlos verschwistert. Zwischen Tod und Wahnsinn, Traum und brennend klarer Wirklichkeit steht seine Welt. Überall grenzt sein persönliches Problem an ein unlösbares der Menschheit, jede einzelne belichtete Fläche spiegelt Unendlichkeit. Als Mensch, als Dichter, als Russe, als Politiker, als Prophet: überall strahlt sein Wesen von ewigem Sinn. Kein Weg führt an sein Ende, keine Frage bis in den untersten Abgrund seines Herzens. Nur Begeisterung darf ihm nahen, und auch sie nur demütig in der Beschämung, geringer zu sein als seine eigene liebende Ehrfurcht vor dem Mysterium des Menschen.

Er selbst, Dostojewski, hat niemals die Hand gerührt, um uns an sich heranzuhelfen. Die anderen Baumeister des Gewaltigen in unserer Zeit offenbarten ihren Willen. Wagner legte neben sein Werk die programmatische Erläuterung, die polemische Verteidigung, Tolstoi riß alle Türen seines täglichen Lebens auf, jeder Neugier Zutritt, jeder Frage Rechenschaft zu geben. Er aber, Dostojewski, verriet seine Absicht nie anders als im vollendeten Werk, die Pläne verbrannte er in der Glut der Schöpfung. Schweigsam und scheu war er ein Leben lang, kaum das Äußerliche, das Körperliche seiner Existenz ist zwingend bezeugt. Freunde besaß er nur als Jüngling, der Mann war einsam: wie Verminderung seiner Liebe zur ganzen Menschheit schien es ihm, einzelnen sich hinzugeben. Auch seine Briefe verraten nur Notdurft der Existenz, Qual des gefolterten Körpers, alle haben sie verschlossene Lippen, so sehr sie Klage und Notruf sind. Viele Jahre, seine ganze Kindheit sind von Dunkel umschattet, und schon heute ist er, dessen Blick manche in unserer Zeit noch brennen sahen, menschlich etwas ganz Fernes und Unsinnliches geworden, eine Legende, ein Heros und ein Heiliger. Jenes Zwielicht von Wahrheit und Ahnung, das die erhabenen Lebensbilder Homers, Dantes und Shakespeares umwittert, entirdischt uns auch sein Antlitz. Nicht aus Dokumenten, sondern einzig aus wissender Liebe läßt sich sein Schicksal gestalten.

Allein also und führerlos muß man hinab in das Herz dieses Labyrinths zu tasten suchen und den Faden Ariadnes, der Seele, vom Knäuel der eigenen Lebensleidenschaft ablösen. Denn je tiefer wir uns in ihn versenken, desto tiefer fühlen wir uns selbst. Nur wenn wir an unser wahres allmenschliches Wesen hinangelangen, sind wir ihm nah. Wer viel von sich selbst weiß, weiß auch viel von ihm, der oder keiner das letzte Maß aller Menschlichkeit gewesen. Und dieser Gang in sein Werk führt durch alle Purgatorien der Leidenschaft, durch die Hölle der Laster, führt über alle Stufen irdischer Qual: Qual des Menschen, Qual der Menschheit, Qual des Künstlers und der letzten, der grausamsten, der Gottesqual. Dunkel ist der Weg, und von innen muß man glühen in Leidenschaft und Wahrheitswillen, um nicht in die Irre zu gehen: unsere eigene Tiefe erst müssen wir durchwandern, ehe wir uns in die seine wagen. Er sendet keine Boten, einzig das Erlebnis führt Dostojewski zu. Und er hat keine Zeugen, keine anderen als des Künstlers mystische Dreieinheit in Fleisch und Geist: sein Antlitz, sein Schicksal und sein Werk.

DAS ANTLITZ

Sein Antlitz scheint zuerst das eines Bauern. Lehmfarben, fast schmutzig falten sich die eingesunkenen Wangen, zerpflügt von vieljährigem Leid, dürstend und versengt spannt sich mit vielen Sprüngen die rissige Haut, der jener Vampir zwanzigjährigen Siechtums Blut und Farbe entzogen. Rechts und links starren, zwei mächtige Steinblöcke, die slawischen Backenknochen heraus, den herben Mund, das brüchige Kinn überwuchert wirrer Busch von Bart. Erde, Fels und Wald, eine tragisch elementare Landschaft, das sind die Tiefen von Dostojewskis Gesicht. Alles ist dunkel, irdisch und ohne Schönheit in diesem Bauern- und beinahe Bettlerantlitz; flach und farblos, ohne Glanz dunkelt es hin, ein Stück russische Steppe auf Stein versprengt. Selbst die Augen, die tief eingesenkten, vermögen aus ihren Klüften nicht diesen mürben Lehm zu erleuchten, denn nicht nach außen schlägt klar und blendend ihre gerade Flamme, gleichsam nach innen ins Blut hinein brennen zehrend ihre spitzen Blicke. Wenn sie sich schließen, stürzt der Tod sofort über dies Gesicht, und die nervöse Hochspannung, die sonst die mürben Züge zusammenhält, sinkt nieder ins lethargisch Unbelebte.

Wie sein Werk ruft dies Antlitz erst das Grauen vom Reigen der Gefühle auf, dem sich zögernd Scheu und dann leidenschaftlich, in wachsender Bezauberung, Bewunderung gesellt. Denn nur die irdische Niederung, die fleischliche, seines Antlitzes dämmert hin in dieser düster-erhabenen naturhaften Trauer. Aber wie eine Kuppel, weißstrahlend und gewölbt, hebt sich ragend über dem engen bäurischen Gesicht die aufstrebende Rundung der Stirne: aus Schatten und Dunkel steigt blank und gehämmert der geistige Dom: harter Marmor über den weichen Lehm des Fleisches, das wüste Dickicht des Haares. Alles Licht strömt in diesem Antlitz nach oben, und blickt man in sein Bild, so fühlt man immer nur sie, diese breite mächtige, königliche Stirne, sie, die immer strahlender leuchtet und sich zu weiten scheint, je mehr das alternde Antlitz in Krankheit vergrämt und vergeht. Wie ein Himmel steht sie hoch und unerschütterlich über der Hinfälligkeit des gebrestigen Körpers, Glorie von Geist über irdischer Trauer. Und auf keinem Bilde leuchtet dies heilige Gehäuse des sieghaften Geistes glorreicher als von jenem des Totenbetts, da die Lider schlaff über die gebrochenen Augen gefallen sind, die entfärbten Hände, fahl und doch fest, das Kreuz gierig umfassen (jenes arme kleine Holzkruzifix, das einst eine Bäuerin dem Zuchthäusler schenkte). Da strahlt sie wie von morgens die Sonne über nächtiges Land nieder auf das entseelte Antlitz und kündet mit ihrem Glanz die gleiche Botschaft wie alle seine Werke: daß der Geist und der Glaube ihn erlösten vom dumpfen niederen und körperlichen Leben. In letzter Tiefe ist immer Dostojewskis letzte Größe: und nie spricht sein Antlitz stärker als aus seinem Tod.

DIE TRAGÖDIE SEINES LEBENS

„Non vi si pensa quanto sangue costa.“

Dante

Immer ist bei Dostojewski Grauen der erste Eindruck und der zweite dann Größe. Auch sein Schicksal scheint anfangs dem flüchtigen Blick so grausam und gemein, wie sein Antlitz bäuerisch und gewöhnlich. Zuerst empfindet man es nur als eine sinnlose Marter, denn mit allen Instrumenten der Qual foltern diese sechzig Jahre den hinfälligen Körper. Die Feile der Not reibt seiner Jugend und seinem Alter die Süße weg, die Säge des körperlichen Schmerzes knirscht in sein Gebein, die Schraube der Entbehrung wühlt ihm hart bis an den Lebensnerv, die brennenden Drähte der Nerven zucken und zerren unaufhörlich durch seine Glieder, der feine Stachel der Wollust reizt unersättlich seine Leidenschaft. Keine Qual ist gespart, keine Marter vergessen. Eine sinnlose Grausamkeit, eine blindwütige Feindseligkeit scheint dies Schicksal vorerst. Rückschauend nur begreift man, daß es sich so hart zum Hammer geschmiedet, weil es Ewiges aus ihm meißeln wollte, daß es gewaltig war, um einem Gewaltigen gemäß zu sein. Denn nichts mißt es dem Maßlosen gemächlich zu, nirgends ähnelt sein Lebensgang dem gut gepflasterten breiten Bürgersteig aller anderen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, immer fühlt man hier eines finstern Schicksalsgottes Lust, sich stark an dem Stärksten zu versuchen. Alttestamentarisch, heroisch und in nichts neuzeitlich und bürgerlich ist Dostojewskis Schicksal. Ewig muß er mit dem Engel ringen wie Jakob, ewig sich gegen Gott empören und ewig sich beugen wie Hiob. Nie läßt es ihn sicher werden, nie träge, immer muß er den Gott spüren, der ihn straft, weil er ihn liebt. Nicht eine Minute darf er rasten im Glück, damit sein Weg bis ins Unendliche gehe. Manchmal scheint der Dämon seines Schicksals schon innezuhalten in seinem Zorn und ihm zu verstatten, wie alle anderen die gemeine Straße des Lebens zu gehen, aber immer wieder reckt sich die gewaltige Hand und stößt ihn ins Dickicht zurück, in die brennenden Dornen. Schleudert es ihn hoch, so ists nur, um ihn in tiefere Abgründe hinabzustürzen, ihn die ganze Weite der Ekstase und Verzweiflung zu lehren; es hebt ihn auf in Höhen des Hoffens, wo andere schwach zerschmelzen in Wollust, und wirft ihn in Schlünde des Leidens, wo alle andern zerschellen in Schmerz: und eben wie Hiob zerschmettert es ihn immer in den Augenblicken der höchsten Sicherheiten, nimmt ihm Frau und Kind, belädt ihn mit Krankheit und schändet ihn mit Verachtung, damit er nicht innehalte, mit Gott zu rechten und ihm durch seine unaufhörliche Empörung und seine unaufhörliche Hoffnung nur mehr gewonnen sei. Es ist, als hätte sich diese Zeit lauer Menschen gerade diesen einen aufgespart, um zu zeigen, welche titanischen Maße in Lust und Qual auch unserer Welt noch möglich seien, und er, Dostojewski, scheint dumpf den gewaltigen Willen über sich zu spüren. Denn niemals wehrt er sich gegen sein Schicksal, niemals hebt er die Faust. Der Körper, der wunde, bäumt sich konvulsivisch in Zuckungen empor, aus seinen Briefen bricht manchmal wie Blutsturz ein heißer Schrei, aber der Geist, der Glaube, zwingt die Revolte nieder. Der mystisch Wissende in Dostojewski spürt das Heilige dieser Hand, den tragisch fruchtbaren Sinn seines Schicksals. Aus seinem Leid wird Liebe zum Leiden, und mit der wissenden Glut seiner Qual umflammt er seine Zeit, seine Welt.

Dreimal schwingt ihn das Leben empor, dreimal reißt es ihn nieder. Früh schon atzt es ihn mit der süßen Speise des Ruhms: sein erstes Buch schenkt ihm einen Namen; aber rasch faßt ihn die harte Kralle und schleudert ihn wieder zurück ins Namenlose: ins Zuchthaus, in die Katorga, nach Sibirien. Wieder taucht er, nur noch stärker und mutiger, empor: seine Memoiren aus dem Totenhause reißen Rußland in einen Taumel. Der Zar selbst netzt das Buch mit seinen Tränen, die russische Jugend steht in Flammen für ihn. Er gründet eine Zeitschrift, seine Stimme tönt zum ganzen Volke, die ersten Romane entstehen. Da bricht im Wettersturz seine materielle Existenz zusammen, Schulden und Sorgen peitschen ihn aus dem Land, Krankheit beißt sich in sein Fleisch, ein Nomade, irrt er durch ganz Europa, vergessen von seiner Nation. Aber zum drittenmal, nach Jahren der Arbeit und Entbehrung, taucht er aus den grauen Gewässern namenloser Not: die Rede zu Puschkins Gedächtnis bezeugt ihn als den ersten Dichter, den Propheten seines Landes. Unauslöschlich ist nun sein Ruhm. Aber gerade jetzt schlägt ihn die eiserne Hand nieder, und die verzückte Begeisterung seines ganzen Volkes schäumt ohnmächtig gegen einen Sarg. Das Schicksal bedarf seiner nicht mehr, der grausam weise Wille hat alles erreicht, aus seiner Existenz das Höchste gewonnen an geistiger Frucht: achtlos wirft es nun die leere Hülse des Körpers hin.

Durch diese sinnvolle Grausamkeit wird Dostojewskis Leben zum Kunstwerk, seine Biographie zur Tragödie. Und in wundervoller Symbolik nimmt sein künstlerisches Werk die typische Form des eigenen Schicksals an. Es gibt da geheimnisvolle Identitäten, mystische Zusammenhänge, wunderbare Spiegelungen, die nicht zu deuten und zu erklären sind. Schon der Anbeginn seines Lebens ist Symbol: Fedor Michailowitsch Dostojewski wird im Armenhaus geboren. Mit der ersten Stunde ist ihm so schon die Stelle seiner Existenz angewiesen, irgendwo im Abseits, im Verachteten, nahe dem Bodensatz des Lebens und doch mitten im menschlichen Schicksal, nachbarlich von Leiden, Schmerz und Tod. Niemals bis zum letzten Tage (er starb in einem Arbeiterviertel, in einer Winkelwohnung des vierten Stocks) ist er dieser Umgürtung entronnen, alle die sechsundfünfzig schweren Jahre seines [Seite 100] Lebens bleibt er mit Elend, Armut, Krankheit und Entbehrung im Armenhaus des Lebens. Sein Vater, Militärarzt wie der Schillers, ist adliger Abstammung, seine Mutter aus Bauernblut: beide Quellen des russischen Volkstums strömen so befruchtend in seine Existenz zusammen, strenggläubige Erziehung wendet schon früh seine Sinnlichkeit zur Ekstase. Dort im Moskauer Armenhaus, in einem engen Verschlag, den er mit seinem Bruder teilt, hat er die ersten Jahre seines Lebens verbracht. Die ersten Jahre: man wagt nicht zu sagen: seine Kindheit, denn dieser Begriff ist irgendwo aus seinem Leben verschollen. Niemals hat er von ihr gesprochen, und Dostojewskis Schweigen war immer Scham oder stolze Angst vor fremdem Mitleid. Ein grauer leerer Fleck ist dort in seiner Biographie, wo sonst bei Dichtern bunte Bilder lächelnd aufsteigen, zärtliche Erinnerungen und ein süßes Bedauern. Und doch meint man ihn zu kennen, blickt man tiefer in die brennenden Augen der Kindergestalten, die er schuf. Wie Koljä muß er gewesen sein, frühreif, phantasievoll bis zur Halluzination, voll jener flackernden, unsicheren Glut, etwas Großes zu werden, voll jenes gewaltsamen und knabenhaften Fanatismus, über sich selbst hinauszuwachsen und „für die ganze Menschheit zu leiden“. Wie die kleine Njetoscha Neswanowa muß er kelchvoll gewesen sein mit Liebe und zugleich der hysterischen Angst, sie zu verraten. Und wie jener Iljutschka, der Sohn des betrunkenen Hauptmanns, voll Scham über häusliche Kläglichkeiten und den Jammer der Entbehrungen, aber doch immer bereit, seine Nächsten vor der Welt zu verteidigen.

Wie er dann, ein Jüngling, aus dieser finsteren Welt vortritt, ist die Kindheit schon weggelöscht. In die ewige Freistatt aller Unbefriedigten, das Asyl der Vernachlässigten [Seite 101] ist er geflohen, in die bunte und gefährliche Welt der Bücher. Er hat unendlich viel damals mit seinem Bruder gemeinsam gelesen, Tag um Tag und Nacht für Nacht – schon damals trieb er, der Unersättliche, jede Neigung bis zum Laster empor –, und diese phantastische Welt entfernt ihn noch mehr von der Wirklichkeit. Voll stärkster Begeisterung zur Menschheit ist er doch bis ins Krankhafte menschenscheu und verschlossen, Glut und Eis zugleich, ein Fanatiker gefährlichster Einsamkeit. Seine Leidenschaft tappt wirr umher, geht in diesen „Kellerjahren“ alle dunklen Wege der Ausschweifung, aber immer einsam mit Ekel in aller Lust, Schuldgefühl bei jedem Glück und immer mit verbissenen Lippen. Aus Geldnot, nur um der paar Rubel willen, geht er zum Militär: auch dort findet er keinen Freund. Ein paar dumpfe Jünglingsjahre kommen. Wie die Helden aller seiner Bücher lebt er in einem Winkel ein troglodytisches Dasein, träumend, sinnend, mit allen geheimen Lastern des Denkens und der Sinne. Sein Ehrgeiz weiß noch keinen Weg, er lauscht auf sich selbst und bebrütet seine Kraft. Er spürt sie mit Wollust und Grauen tief unten gären, er liebt sie und fürchtet sie, er wagt nicht, sich zu rühren, um dies dumpfe Werden nicht zu zerstören. Ein paar Jahre verharrt er in diesem schwarzen, formlosen Puppenstand von Einsamkeit und Schweigen, Hypochondrie fällt ihn an, eine mystische Angst zu sterben, ein Grauen oft vor der Welt, oft vor sich selbst, ein urmächtiger Schauer vor dem Chaos in der eigenen Brust. In den Nächten übersetzt er, um seinen verwirrten Finanzen aufzuhelfen (sein Geld zerfloß, typisch genug, in den gegensätzlichen Neigungen, in Almosen und Ausschweifungen), Balzacs Eugenie Grandet und Schillers Don Carlos. Aus dem trüben Dunst dieser Tage ballen [Seite 102] sich langsam eigene Formen, und endlich reift aus diesem vernebelten traumhaften Zustand von Angst und Ekstase sein erstes dichterisches Werk, der kleine Roman „Arme Leute“.

1844, mit vierundzwanzig Jahren, hat er diese meisterhafte Menschenstudie geschrieben, er, der Einsamste, „mit leidenschaftlicher Glut, ja fast unter Tränen“. Seine tiefste Demütigung, die Armut, hat es gezeugt, seine höchste Gewalt, die Liebe zum Leid, das unendliche Mitleiden es gesegnet. Mißtrauisch betrachtet er die beschriebenen Blätter. Er ahnt darin eine Frage an das Schicksal, die Entscheidung, und nur mühsam entschließt er sich, Nekrasoff, dem Dichter, das Manuskript zur Prüfung anzuvertrauen. Zwei Tage vergehen ohne Antwort. Einsam grüblerisch sitzt er nachts zu Hause, arbeitet, bis die Lampe verqualmt. Plötzlich um vier Uhr morgens wird heftig an der Klingel gerissen, und Dostojewski, dem erstaunt Öffnenden, stürzt Nekrasoff in die Arme, umhalst, küßt ihn und jubelt ihm zu. Er und ein Freund hatten gemeinsam das Manuskript gelesen, die ganze Nacht gehorcht, gejubelt und geweint, und am Ende hielt es beide nicht: sie mußten ihn umarmen. Es ist Dostojewskis erste Lebenssekunde, diese Klingel nachts, die ihn zum Ruhm ruft. Bis in den hellen Morgen tauschen die Freunde Glück und Ekstase in heißen Worten. Dann eilt Nekrasoff zu Bjelinski, dem allmächtigen Kritiker Rußlands. „Ein neuer Gogol ist erstanden“, ruft er schon an der Türe, das Manuskript wie eine Fahne schwingend. „Bei euch wachsen die Gogols wie die Pilze“, brummt der Mißtrauische, durch so viel Begeisterung verärgert. Aber als Dostojewski ihn am nächsten Tag besucht, ist er verwandelt. „Ja, begreifen Sie denn selbst, was Sie da geschaffen haben“, schreit er [Seite 103] voll Erregung den verwirrten jungen Menschen an. Grauen überfällt Dostojewski, ein süßer Schauer vor diesem neuen plötzlichen Ruhm. Wie im Traum geht er die Treppe hinab, an der Straßenecke bleibt er taumelnd stehen. Zum erstenmal fühlt er und wagt doch nicht, es zu glauben, daß all dies Dunkle und Gefährliche, das ihm das Herz auftrieb, ein Gewaltiges ist und vielleicht das „Große“, von dem seine Kindheit wirr geträumt, die Unsterblichkeit, das Leiden für die ganze Welt. Erhebung und Zerknirschung, Stolz und Demut schwanken wirr durch seine Brust, er weiß nicht, welcher Stimme er glauben soll. Trunken taumelt er über die Straße, und in seine Tränen mischen sich Glück und Schmerz.

So melodramatisch geschieht Dostojewskis Entdeckung zum Dichter. Auch hier ahmt die Form seines Lebens die seiner Werke geheimnisvoll nach. Hier wie dort haben die rohen Konturen etwas von der banalen Romantik eines Schauerromans, die Schicksalsschläge etwas Kindlich-Primitives, und nur die innere Größe und Wahrheit reißt sie empor zum Grandiosen. In Dostojewskis Leben ist oft der Ansatz Melodram, aber immer wird es zur Tragödie. Es ist ganz auf Spannung gestellt: in einzelne Sekunden, ohne Übergang, sind die Entscheidungen komprimiert, mit zehn oder zwanzig solcher Sekunden der Ekstase oder des Niedersturzes sein ganzes Schicksal fixiert. Epileptische Ausbrüche des Lebens – eine Sekunde Ekstase und ohnmächtiger Zusammenbruch – könnte man sie nennen. Hinter jeder Ekstase steht schon drohend die graue Dämmerung des erschlaffenden Gefühls, und aus langem Gewölk ballt sich behutsam der neue mörderische Lebensblitz. Jeder Aufschwung ist bezahlt durch Niedersturz und diese eine Sekunde der Begnadung mit [Seite 104] vielen hoffnungslosen Stunden des Robots und der Verzweiflung. Der Ruhm, dieser funkelnde Reif, den ihm Bjelinski in jener Stunde aufs Haupt drückt, ist auch gleichzeitig schon der erste Ring einer Fußkette, an der Dostojewski klirrend sein Leben lang die schwere Kugel der Arbeit schleppt. Die „Hellen Nächte“, sein erstes Buch, bleibt auch das letzte, das er als freier Mann einzig um der schöpferischen Freude willen schuf. Dichten besagt für ihn von nun ab auch: erwerben, zurückerstatten, abzahlen, denn jedes Werk, das er seither beginnt, ist vor der ersten Zeile schon mit Vorschuß verpfändet, das noch ungeborene Kind in die Sklaverei des Gewerbes verkauft. Für immer ist er jetzt in das Bagno der Literatur gemauert, ein Leben lang gellen die verzweifelten Schreie des Eingesperrten nach Freiheit, aber erst der Tod bricht seine Ketten. Noch ahnt der Beginner nicht die Qual in der ersten Lust. Ein paar Novellen sind rasch vollendet, und schon plant er einen neuen Roman.

Da hebt das Schicksal warnend den Finger. Er will nicht, sein wachsamer Dämon, daß ihm das Leben zu leicht werde. Und damit er es erkennen lerne in allen seinen Tiefen, sendet ihm der Gott, der ihn liebt, seine Prüfung.

Wieder wie damals in der Nacht gellt die Klingel, Dostojewski öffnet erstaunt, aber diesmal ists nicht die Stimme des Lebens, ein jubelnder Freund, Botschaft des Ruhms, sondern Ruf des Todes. Offiziere und Kosaken dringen in sein Zimmer, der Aufgestörte wird verhaftet, seine Papiere versiegelt. Vier Monate schmachtet er in einer Zelle der Sankt-Pauls-Festung, ohne das Verbrechen zu ahnen, dessen man ihn beschuldigt: Teilnahme an den Diskussionen einiger aufgeregter Freunde, die man übertrieben [Seite 105] die Petraschewskysche Verschwörung genannt hat, ist sein ganzes Delikt, seine Verhaftung zweifellos ein Mißverständnis. Dennoch blitzt plötzlich die Verurteilung nieder zur härtesten Strafe, zum Tode durch Pulver und Blei.

Wieder drängt sich sein Schicksal in eine neue Sekunde, die engste und reichste seiner Existenz, eine unendliche Sekunde, in der sich Tod und Leben die Lippen reichen zum brennenden Kuß. Im Morgengrauen wird er mit neun Gefährten aus dem Gefängnis geholt, ein Sterbehemd ihm umgeworfen, die Glieder an den Pfahl geschnürt und die Augen verbunden. Er hört sein Todesurteil lesen und die Trommeln knattern – sein ganzes Schicksal ist zusammengepreßt in eine Handvoll Erwartung, unendliche Verzweiflung und unendliche Lebensgier in ein einziges Molekül Zeit. Da hebt der Offizier die Hand, winkt mit dem weißen Tuche und verliest die Begnadigung, das Todesurteil in sibirisches Gefängnis verwandelnd.

In einen Abgrund ohne Namen stürzt er jetzt hinab aus seinem ersten jungen Ruhm. Vier Jahre lang umgrenzen fünfzehnhundert eichene Pfähle seinen ganzen Horizont. An ihnen zählt er mit Kerben und mit Tränen Tag um Tag die viermal dreihundertfünfundsechzig Tage ab. Seine Genossen sind Verbrecher, Diebe und Mörder, seine Arbeit Alabasterschleifen, Ziegeltragen, Schneeschaufeln. Die Bibel wird das einzig verstattete Buch, ein räudiger Hund und ein flügellahmer Adler seine einzigen Freunde. Vier Jahre weilt er im „Totenhaus“, in der Unterwelt, Schatten zwischen Schatten, namenlos und vergessen. Als sie ihm dann die Kette von den wunden Füßen abschmieden und die Pfähle hinter ihm liegen, eine braune morsche Mauer, ist er ein anderer: seine Gesundheit zerstört, sein Ruhm zerstäubt, seine Existenz vernichtet. Nur seine Lebenslust [Seite 106] bleibt unversehrt und unversehrbar: heller als je flammt aus dem schmelzenden Wachs seines zerkneteten Körpers die heiße Flamme der Ekstase. Ein paar Jahre noch muß er in Sibirien verbleiben, halbfrei und ohne die Verstattung, eine Zeile zu veröffentlichen. Dort in der Verbannung, in bitterster Verzweiflung und Einsamkeit geht er jene seltsame Ehe mit seiner ersten Frau ein, einer kranken und eigenartigen, die seine mitleidige Liebe unwillig erwidert. Irgendeine dunkle Tragödie der Aufopferung ist in diesem seinen Entschluß für immer der Neugier und Ehrfurcht verborgen, nur aus einigen Andeutungen in den „Erniedrigten und Beleidigten“ vermag man den schweigsamen Heroismus dieser phantastischen Opfertat zu ahnen.

Ein Vergessener, kehrt er nach Petersburg zurück. Seine literarischen Gönner haben ihn fallen gelassen, seine Freunde sich verloren. Aber mutig und kraftvoll ringt er sich aus der Welle, die ihn niederwarf, wieder ans Licht. Seine „Erinnerungen aus dem Totenhause“, diese unvergängliche Schilderung einer Sträflingszeit, reißen Rußland aus der Lethargie gleichgültigen Miterlebens. Mit Grauen entdeckt die ganze Nation, daß ganz atemnah unter der flachen Schicht ihrer ruhigen Welt eine andere waltet, ein Purgatorium aller Qualen. Bis in den Kreml empor schlägt die Flamme der Anklage, der Zar schluchzt über dem Buche, von tausend Lippen klingt Dostojewskis Name. In einem einzigen Jahr ist sein Ruhm wieder erbaut, höher und dauerhafter als je. Gemeinsam mit seinem Bruder gründet der Auferstandene eine Zeitschrift, die er selbst fast allein schreibt, dem Dichter gesellt sich der Prediger, der Politiker, der „Praeceptor Russiae“. Stürmisch tönt der Widerhall, die Zeitschrift hat weiteste Verbreitung, [Seite 107] ein Roman wird vollendet, heimtückisch, mit vielen blinzelnden Blicken lockt ihn das Glück. Dostojewskis Schicksal scheint für immer gesichert.

Aber noch einmal sagt der dunkle Wille, der über seinem Leben waltet: Es ist zu früh. Denn eine irdische Qual ist ihm noch fremd, die Marter des Exils und die fressende Angst der täglichen, erbärmlichen Nahrungssorgen. Sibirien und die Katorga, die grauenhafteste Verzerrung Rußlands, sie war immerhin noch Heimat gewesen, nun soll er noch die Sehnsucht des Nomaden nach dem Zelte kennen lernen um der urmächtigen Liebe zum eigenen Volk willen. Noch einmal muß er zurück ins Namenlose, noch tiefer hinab in das Dunkel, ehe er der Dichter, der Herold seiner Nation sein darf. Wieder zuckt ein Blitz nieder, eine Sekunde der Vernichtung: die Zeitschrift wird verboten. Wieder ist es ein Mißverständnis und gleich mörderisch wie das erste. Und nun fällt, Wetterschlag auf Wetterschlag, das Grauen mitten in sein Leben. Seine Frau stirbt, kurz nach ihr sein Bruder und gleichzeitig sein bester Freund und Helfer. Zweier Familien Schulden hängen sich bleiern an ihn und krümmen sein Rückgrat unter unerträglicher Last. Noch wehrt er sich verzweifelt, arbeitet Tag und Nacht wie im Fieber, schreibt, redigiert, druckt selbst, nur um Geld zu ersparen, die Ehre, die Existenz zu retten, aber das Schicksal ist stärker als er. Wie ein Verbrecher flüchtet er vor seinen Gläubigern eines Nachts hinaus in die Welt.

Nun beginnt jene jahrelange ziellose Wanderung durch das europäische Exil, jene grauenhafte Abschnürung von Rußland, dem Blutquell seines Lebens, die ärger seine Seele beengte als die Pfähle der Katorga. Furchtbar ist es auszudenken, wie der größte russische Dichter, der Genius [Seite 108] seiner Generation, der Bote einer Unendlichkeit, mittellos, heimatlos, ziellos von Land zu Land irrt. Mit Mühe findet er Herbergen in kleinen niederen Zimmern, die der Dunst der Armut füllt, der Dämon der Epilepsie krallt sich an seine Nerven, Schulden, Wechsel, Verpflichtungen peitschen ihn von Arbeit zu Arbeit, Verlegenheit und Scham jagt ihn von Stadt zu Stadt. Blinkt ein Strahl Glück in sein Leben, so schiebt das Schicksal sogleich neue dunkle Wolken vor. Ein junges Mädchen, seine Stenographin, war seine zweite Frau geworden, aber das erste Kind, das sie ihm schenkt, rafft die Entkräftung, die Not des Exils schon nach wenigen Tagen fort. War Sibirien das Purgatorium, der Vorhof seines Leidens, so ist Frankreich, Deutschland, Italien sicherlich seine Hölle. Kaum wagt man sich diese tragische Existenz zu vergegenwärtigen. Aber immer in Dresden, wenn ich durch die Straßen gehe, vorbei an irgendeinem niederen und schmutzigen Haus, so faßt michs an, ob er da nicht irgendwo wohnte, zwischen kleinen sächsischen Krämern und Handlangern, oben im vierten Stock, einsam, unendlich einsam in dieser fremden Geschäftigkeit. Keiner hat ihn gekannt in all diesen Jahren. Eine Stunde weit in Naumburg wohnt Friedrich Nietzsche, der einzige, der ihn verstehen könnte, Richard Wagner, Hebbel, Flaubert, Gottfried Keller, die Zeitgenossen sind da, aber er weiß von ihnen nichts und sie nichts von ihm. Wie ein großes gefährliches Tier, struppig und in abgetragenen Kleidern, schleicht er aus seiner Arbeitshöhle scheu auf die Straße, immer den gleichen Weg, in Dresden, in Genf, in Paris: ins Café, in einen Klub, um nur russische Zeitungen zu lesen. Rußland will er spüren, Heimat, den bloßen Anblick der cyrillischen Lettern, den flüchtigen Atem des heimischen Wortes. Manchmal setzt [Seite 109] er sich, nicht aus Liebe zur Kunst (ewig blieb er der byzantinische Barbar, der Bilderstürmer), sondern um sich zu wärmen, in die Galerie. Er weiß nichts von den Menschen, die um ihn sind, er haßt sie nur, weil sie nicht Russen sind, haßt die Deutschen in Deutschland, die Franzosen in Frankreich. Sein Herz horcht nach Rußland, nur sein Körper vegetiert teilnahmslos in dieser fremden Welt. Kein Gespräch, keine Begegnung hat irgendeiner der deutschen, französischen oder italienischen Dichter bezeugt. Nur im Bankhaus kennen sie ihn, wo er bleich tagtäglich an den Schalter kommt und mit vor Erregung zitternder Stimme fragt, ob nicht endlich der Wechsel aus Rußland gekommen sei, die hundert Rubel, für die er sich tausendfach in Worten vor niedrigen und fremden Menschen in die Knie gestürzt. Schon lachen die Angestellten über den armen Narren und seine ewige Erwartung. Auch im Pfandleihhaus ist er steter Gast: alles hat er dort versetzt, einmal sogar seine letzte Hose, um nur ein Telegramm nach Petersburg senden zu können, einen jener markerschütternden Schreie, wie sie immer wieder gellend in seinem Briefe wiederkehren. Das Herz krampft sich zusammen, liest man die speichelleckerisch, hündisch demütigenden Briefe dieses Gewaltigen, in denen er um zehn erbetener Rubel willen fünfmal den Heiland anruft, diese entsetzlichen Briefe, die keuchen, heulen und winseln für eine erbärmliche Handvoll Geld. Die Nächte hindurch arbeitet er und schreibt, während seine Frau nebenan in den Wehen stöhnt, während die Epilepsie schon die Kralle spannt, ihm das Leben aus der Kehle zu pressen, während die Hausfrau mit der Polizei um ihre Miete droht und die Hebamme um ihre Bezahlung keift – schreibt er „Raskolnikoff“, den „Idioten“, die „Dämonen“, den „Spieler“, diese monumentalen [Seite 110] Werke des neunzehnten Jahrhunderts, diese universellen Gestaltungen unserer ganzen seelischen Welt. Die Arbeit ist seine Rettung und seine Qual. In ihr lebt er in Rußland, in der Heimat. In der Ruhe schmachtet er in Europa, in der Katorga. Immer tiefer stürzt er sich darum in seine Werke hinein. Sie sind das Elixier, das ihn trunken macht, sie sind das Spiel, das seine Nerven, die gepeinigten, zu höchster Lust anspannt. Und zwischendurch zählt er, wie einst die Pfähle des Zuchthauses, gierig die Tage: Heimkehren können als Bettler, aber nur heimkehren! Rußland, Rußland, Rußland ist der ewige Schrei seiner Not. Aber noch darf er nicht zurück, noch muß er der Namenlose bleiben um des Werkes willen, der Märtyrer all dieser fremden Straßen, der einsame Dulder ohne Schrei und Klage. Noch muß er beim Gewürm des Lebens wohnen, ehe er aufsteigt in die große Herrlichkeit des ewigen Ruhms. Schon ist sein Körper ausgehöhlt von den Entbehrungen, immer häufiger schmettern die Keulenschläge der Krankheit auf sein Gehirn, daß er tagelang betäubt liegen bleibt, mit verdunkelten Sinnen, um sich mit erster Kraft taumelnd wieder an den Schreibtisch zu schleppen. Fünfzig Jahre ist Dostojewski alt: aber er hat die Qual von Jahrtausenden erlebt.

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Litres'teki yayın tarihi:
13 eylül 2019
Hacim:
230 s. 1 illüstrasyon
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Public Domain
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