Kitabı oku: «Drei Meister: Balzac, Dickens, Dostojewski», sayfa 9
Aber doch – die Frage muß beantwortet sein –, warum wirkt trotz solcher dämonischer Vollendung der Wahrheit Dostojewskis Werk, dieses irdischeste aller Werke, doch wiederum unirdisch auf uns, als Welt zwar, aber doch wie eine neben oder über unserer Welt, nur nicht sie selbst? Warum stehen wir innen mit unserem tiefsten Gefühl und sind doch irgendwie befremdet? Warum brennt in allen seinen Romanen etwas wie künstliches Licht und [Seite 165] ist Raum darinnen wie aus Halluzinationen und Träumen? Warum empfinden wir ihn, diesen äußersten Realisten, immer mehr als Somnambulen denn als Darsteller der Wirklichkeit? Warum ist trotz aller Feurigkeit, ja Überhitztheit doch nicht fruchtbare Sonnenwärme darin, sondern irgendein schmerzhaftes Nordlicht, blutig und blendend, warum empfinden wir diese wahrste Darstellung des Lebens, die je gegeben wurde, doch irgendwie nicht als das Leben selbst? Als unser eigenes Leben?
Ich versuche zu antworten. Das höchste Maß der Vergleiche ist für Dostojewski nicht zu gering, und am Erhabensten, am Unvergänglichsten der Weltliteratur können sie gewertet werden. Für mich ist die Tragödie der Karamasoffs nicht geringer als die Verstrickungen der Orestie, die Epik Homers, der erhabene Umriß von Goethes Werk. Sie alle, diese Werke, sind sogar einfältiger, schlichter, weniger erkenntnisreich, weniger zukunftsträchtig als die Dostojewskis. Aber sie sind doch irgendwie weicher und freundsamer für die Seele, sie geben Erlösung des Gefühls, während Dostojewski nur Erkenntnis gibt. Ich glaube: diese ihre Entspannung danken sie, daß sie nicht so menschlich, nur menschlich sind. Sie haben um sich einen heiligen Rahmen von strahlendem Himmel, von Welt, einen Atem von Wiesen und Feldern, einen Sternblick von Himmel, wo sich das Gefühl, das verschreckte, entspannt hinflüchtet und befreit. Im Homer, mitten in den Schlachten, im blutigsten Gemetzel der Menschen stehen ein paar Zeilen der Schilderung, und man atmet salzigen Wind vom Meer, das silberne Licht Griechenlands glänzt über die Blutstatt, beseligt erkennt das Gefühl den schmetternden Kampf der Menschen als einen kleinen nichtigen Wahn gegen das Ewige der Dinge. Und man atmet auf, man ist [Seite 166] erlöst von der menschlichen Trübe. Auch Faust hat seinen Ostersonntag, schwingt die eigene Qual in die zerklüftete Natur, wirft seinen Jubel in den Frühling der Welt. In allen diesen Werken erlöst die Natur von der Menschenwelt. Dostojewski aber fehlt die Landschaft, fehlt die Entspannung. Sein Kosmos ist nicht die Welt, sondern nur der Mensch. Er ist taub für Musik, blind für Bilder, stumpf für Landschaft: mit einer ungeheueren Gleichgültigkeit gegen die Natur, gegen die Kunst ist sein unergründliches, sein unvergleichliches Wissen um den Menschen bezahlt. Und alles Nur-Menschliche hat eine Trübe von Unzulänglichkeit. Sein Gott wohnt nur in der Seele, nicht auch in den Dingen, ihm fehlt jenes kostbare Korn Pantheismus, das die deutschen, das die hellenischen Werke so selig und so befreiend macht. Seine, Dostojewskis, Werke, sie spielen alle irgendwie in ungelüfteten Stuben, in rußigen Straßen, in dunstigen Kneipen, eine dumpfe menschliche, allzu menschliche Luft ist darinnen, die nicht klärend durchwühlt wird vom Wind aus den Himmeln und dem Sturz der Jahreszeiten. Man versuche doch einmal sich zu entsinnen bei seinen großen Werken, bei „Raskolnikoff“, dem „Idioten“, bei den „Karamasoffs“, dem „Jüngling“, in welcher Jahreszeit, in welcher Landschaft sie spielen. Ist es Sommer, Frühling oder Herbst? Vielleicht ist es irgendwo gesagt. Aber man fühlt es nicht. Man atmet es, man schmeckt es, man spürt, man erlebt es nicht. Sie spielen alle nur irgendwo im Dunkel des Herzens, das die Blitzschläge der Erkenntnis sprunghaft erhellen, im luftleeren Hohlraum des Hirnes, ohne Sterne und Blumen, ohne Stille und Schweigen. Großstadtrauch verdunkelt den Himmel ihrer Seele. Es fehlen ihnen die Ruhepunkte der Erlösung vom Menschlichen, jene seligsten Entspannungen, [Seite 167] die besten des Menschen, wenn er den Blick von sich selbst und seinen Leiden gegen die fühllose, leidenschaftslose Welt kehrt. Das ist das Schattenhafte in seinen Büchern: wie von einer grauen Wand von Elend und Dunkelheit heben sich seine Gestalten ab, sie stehen nicht frei und klar in einer wirklichen Welt, sondern in einer Unendlichkeit bloß des Gefühls. Seine Sphäre ist Seelenwelt und nicht Natur, seine Welt nur die Menschheit.
Aber auch seine Menschheit selbst, so wunderbar wahrhaftig jeder einzelne ist, so fehllos ihr logischer Organismus, auch sie ist in ihrer Gesamtheit in einem gewissen Sinne unwirklich: etwas von Gestalten aus Träumen haftet ihnen an, und ihr Schritt geht im Raumlosen wie der von Schatten. Damit sei nicht gesagt, daß sie irgendwie unwahr wären. Im Gegenteil: sie sind überwahr. Denn Dostojewskis Psychologie ist eine fehllose, aber seine Menschen sind nicht plastisch, sondern sublim gesehen und durchfühlt, weil sie einzig aus Seele gestaltet sind und nicht aus Körperlichkeit. Dostojewskis Menschen kennen wir alle nur als wandelndes und gewandeltes Gefühl, Wesen aus Nerven und Seelen, bei denen man es fast vergißt, daß dieses Blut durch Fleisch rinnt. Nie rührt man sie gewissermaßen körperlich an. Auf den zwanzigtausend Seiten seines Werkes ist nie geschildert, daß einer seiner Menschen sitzt, daß er ißt, daß er trinkt, immer fühlen, sprechen oder kämpfen sie nur. Sie schlafen nicht (es sei denn, daß sie hellseherisch träumen), sie ruhen nicht, immer sind sie im Fieber, immer denken sie. Nie sind sie vegetativ, pflanzlich, tierisch, stumpf, immer nur bewegt, erregt, gespannt, und immer, immer wach. Wach und sogar überwach. Immer im Superlativ ihres Seins. Alle haben sie die seelische Übersichtigkeit Dostojewskis, alle sind sie Hellseher, [Seite 168] Telepathen, Halluzinanten, alle pythische Menschen, und alle durchtränkt bis in die letzten Tiefen ihres Wesens von psychologischer Wissenschaft. Im gemeinen, im banalen Leben stehen – erinnern wir uns nur – die meisten Menschen im Konflikt miteinander und dem Schicksal einzig darum, weil sie sich nicht verstehen, weil sie einen bloß irdischen Verstand haben. Shakespeare, der andere große Psychologe der Menschheit, baut die Hälfte seiner Tragödien auf diese eingeborene Unwissenheit, auf dieses Fundament von Dunkel, das zwischen Mensch und Mensch als Verhängnis, als Stein des Anstoßes liegt. Lear mißtraut seiner Tochter, denn er ahnt ihren Edelmut nicht, die Größe der Liebe, die sich hier in Schamhaftigkeit verschanzt, Othello wiederum nimmt sich Jago als Einflüsterer, Cäsar liebt Brutus, seinen Mörder, alle sind sie dem wahren Wesen der irdischen Welt, der Täuschung verfallen. Bei Shakespeare wird wie im realen Leben das Mißverständnis, die irdische Unzulänglichkeit, zeugende tragische Kraft, die Quelle aller Konflikte. Die Menschen Dostojewskis aber, diese Überwissenden, sie kennen kein Mißverstehen. Jeder ahnt immer prophetisch den anderen, sie verstehen einander restlos bis in die letzten Tiefen, sie saugen sich das Wort aus dem Munde, noch ehe es gesagt ist, und den Gedanken noch aus dem Mutterleib der Empfindung. Sie wittern, sie ahnen einander alle im voraus, nie enttäuschen sie sich, nie staunen sie, jedes einzelnen Seele umfaßt in geheimnisvoller Witterung schon der anderen Sinn. Das Unbewußte, das Unterbewußte ist bei ihnen überentwickelt, alle sind sie Propheten, alle Ahnende und Visionäre, überladen von Dostojewski mit seiner eigenen mystischen Durchdringung des Seins und des Wissens. Ich will ein Beispiel wählen, um deutlicher zu sein. Nastassja [Seite 169] Philipowna wird von Rogoschin ermordet. Sie weiß es vom ersten Tage, da sie ihn erblickt, weiß es in jeder Stunde, in der sie ihm angehört, daß er sie ermorden wird, sie flieht vor ihm, weil sie es weiß, und flüchtet zurück, weil sie ihr eigenes Schicksal begehrt. Sie kennt das Messer sogar Monate voraus, das ihr die Brust durchstößt. Und Rogoschin weiß es, auch er kennt das Messer und ebenso Myschkin. Seine Lippen zittern, wenn er einmal im Gespräch zufällig Rogoschin mit diesem Messer spielen sieht. Und gleicherweise beim Morde Fedor Karamasoffs ist das Wissensunmögliche allen bewußt. Der Staretz fällt in die Knie, weil er das Verbrechen wittert, selbst der Spötter Rakitin weiß diese Zeichen zu deuten. Aljoscha küßt seines Vaters Schulter, wie er von ihm Abschied nimmt, auch sein Gefühl weiß es, daß er ihn nicht mehr sieht. Iwan fährt nach Tchermaschnjä, um nicht Zeuge des Verbrechens zu sein. Der Schmutzfink Smerdjakoff sagt es ihm lächelnd voraus. Alle, alle wissen sie es, und den Tag und die Stunde und den Ort aus einer Überladenheit mit prophetischer Erkenntnis, die unwahrscheinlich ist in ihrer Zuvielfältigkeit. Alle sind sie Propheten, Erkenner, alle Allesversteher.
Hier wieder in der Psychologie erkennt man jene zwiefache Form aller Wahrheit für den Künstler. Obwohl Dostojewski den Menschen tiefer kennt als irgendeiner vor ihm, so ist ihm doch Shakespeare überlegen als Kenner der Menschheit. Er hat das Gemischte des Daseins erkannt, das Gemeine und Gleichgültige neben das Grandiose gestellt, wo Dostojewski einen jeden ins Unendliche steigert. Shakespeare hat die Welt im Fleisch erkannt, Dostojewski im Geist. Seine Welt ist vielleicht die vollkommenste Halluzination der Welt, ein tiefer und prophetischer [Seite 170] Traum von der Seele, ein Traum, der die Wirklichkeit noch überflügelt: aber Realismus, der über sich selbst hinaus ins Phantastische reicht. Der Überrealist Dostojewski, der Überschreiter aller Grenzen, er hat die Wirklichkeit nicht geschildert: er hat sie über sich selbst hinaus gesteigert.
Von innen also, von der Seele allein, ist hier die Welt in Kunst gestaltet, von innen gebunden, von innen erlöst. Diese Art von Kunst, die tiefste und menschlichste aller, hat keine Vorfahren in der Literatur, weder in Rußland noch irgendwo in der Welt. Dieses Werk hat nur Brüder in der Ferne. An die griechischen Tragiker gemahnt manchmal der Krampf und die Not, dieses Übermaß von Qual in den Menschen, die unter dem Griff des übermächtigen Schicksales sich krümmen, an Michelangelo manchmal durch die mystische, steinerne, unerlösbare Traurigkeit der Seele. Aber der wahre Bruder Dostojewskis durch die Zeiten ist Rembrandt. Beide stammen sie aus einem Leben von Mühsal, Entbehrung, Verachtung, Ausgestoßene der Irdischkeit, gepeitscht von den Bütteln des Geldes in die tiefste Tiefe des menschlichen Seins hinab. Beide wissen sie um den schöpferischen Sinn der Kontraste, den ewigen Streit von Dunkel und Licht, und wissen, daß keine Schönheit tiefer ist als die heilige der Seele, die aus der Nüchternheit des Seins gewonnen ist. Wie Dostojewski seine Heiligen aus russischen Bauern, Verbrechern und Spielern, gestaltet sich Rembrandt seine biblischen Figuren von den Modellen der Hafengassen; beiden ist in den niedersten Formen des Lebens irgendeine geheimnisvolle, neue Schönheit verborgen, beide finden sie ihren Christus im Abhub des Volks. Beide wissen sie von dem ständigen Spiel und Widerspiel der Erdenkräfte, von Licht und [Seite 171] Dunkel, das gleich mächtig im Lebendigen wie im Beseelten waltet, und hier wie dort ist alles Licht aus dem letzten Dunkel des Lebens genommen. Je mehr man in die Tiefe der Bilder Rembrandts, der Bücher Dostojewskis blickt, sieht man das letzte Geheimnis der weltlichen und geistigen Formen sich entringen: Allmenschlichkeit. Und wo die Seele zuerst nur schattenhafte Form, nur trübe Wirklichkeit zu schauen meint, erkennt sie, tiefer blickend, mit erkennender Lust entrungenes Licht: jenen heiligen Glanz, der als Märtyrerkrone über den letzten Dingen des Lebens liegt.
ARCHITEKTUR UND LEIDENSCHAFT
„Que celui aime peu, qui aime la mesure!“
La Boetie
„Alles treibst du bis zur Leidenschaft.“ Das Wort Nastassja Philipownas trifft alle Menschen Dostojewskis und trifft vor allem ihn, Dostojewski selbst, mitten in die Seele. Nur leidenschaftlich kann dieser Gewaltige den Phänomenen des Lebens entgegentreten und darum am leidenschaftlichsten seiner leidenschaftlichsten Liebe: der Kunst. Selbstverständlich, daß der schöpferische Prozeß, die künstlerische Bemühung, bei ihm nicht eine geruhige, ordnend aufbauende, kühl berechnend architektonische ist. Dostojewski schreibt im Fieber, wie er im Fieber denkt, im Fieber lebt. Unter der Hand, die die Worte in fließenden kleinen Perlenketten (er hat die nervöse Eilschrift aller hitzigen Menschen) über das Papier rinnen läßt, hämmert der Puls in verdoppelten Schlägen, seine Nerven zucken im Krampf. Schöpfung ist ihm Ekstase, Qual, Entzückung und Zerschmetterung, eine zum Schmerz [Seite 172] gesteigerte Wollust, ein zur Wollust gesteigerter Schmerz, das ewige Spasma, der immer wiederholte vulkanische Ausbruch seiner übermächtigen Natur. „Unter Tränen“ schreibt der Zweiundzwanzigjährige sein erstes Werk „Arme Leute“, und seitdem ist jede Arbeit eine Krise, eine Krankheit. „Ich arbeite nervös, unter Qual und Sorgen. Wenn ich angestrengt arbeite, bin ich auch physisch krank.“ Und tatsächlich, die Epilepsie, seine mystische Krankheit, dringt ein mit ihrem fiebrigen, entzündlichen Rhythmus, mit ihren dunklen, dumpfen Hemmungen, bis in die feinsten Vibrationen seines Werks. Immer aber schafft Dostojewski mit dem Ganzen seines Wesens, im hysterischen Furor. Selbst die kleinsten, scheinbar gleichgültigen Partien seines Werkes, wie die journalistischen Aufsätze, sind gegossen und geschmolzen in der feurigen Esse seiner Leidenschaft. Nie schafft er mit dem bloß abgelösten, frei wirkenden Teil seiner schaffenden Kraft, gleichsam aus dem Handgelenk, aus der spielhaften Leichtigkeit der Technik, immer ballt er seine ganze physische Erregbarkeit in das Geschehnis, bis an den letzten Nerv seines Lebens leidend und mitleidend in seinen Gestalten. Alle seine Werke sind gleichsam explosiv in rasenden Wetterschlägen durch einen ungeheuren atmosphärischen Druck herausgeschwemmt. Dostojewski kann nicht gestalten ohne inneren Anteil, und für ihn gilt das bekannte Wort über Stendhal: „Lorsqu'il n'avait pas d'émotion, il était sans esprit.“ Wenn Dostojewski nicht leidenschaftlich war, war er nicht Dichter.
Aber Leidenschaft in der Kunst wird ebenso zerstörendes Element, als sie bildnerisches war. Sie schafft nur das Chaos der Kräfte, dem der klare Geist erst die ewigen Formen erlöst. Alle Kunst braucht die Unruhe als Antrieb der [Seite 173] Gestaltung, aber nicht minder eine überlegen-überlegte Ruhe der Auswägung zu einer Vollendung. Dostojewskis mächtiger, die Wirklichkeit diamanten durchdringender Geist weiß nun wohl um die marmorne, eherne Kühle, die das große Kunstwerk umwittert. Er liebt, er vergöttert die große Architektonik, er entwirft prachtvolle Maße, erhabene Ordnungen des Weltbildes. Aber immer wieder überflutet das leidenschaftliche Gefühl die Fundamente. Der Zwiespalt, der ewige zwischen Herz und Geist, wirkt auch im Werke und nennt sich hier Kontrast von Architektonik und Leidenschaft. Vergebens sucht Dostojewski als Künstler objektiv zu schaffen, außen zu bleiben, bloß zu erzählen und zu gestalten, Epiker zu sein, Referent von Geschehnissen, Analytiker der Gefühle. Unwiderstehlich reißt ihn seine Leidenschaft in Leiden und Mitleiden immer wieder in die eigene Welt. Immer ist etwas vom Chaos des Anfangs selbst in den vollendeten Werken Dostojewskis, nie die Harmonie erreicht („Ich hasse die Harmonie“, so schreit Iwan Karamasoff, der Verräter seiner geheimsten Gedanken). Auch hier ist zwischen Form und Wille kein Friede, kein Ausgleich, sondern – o ewige Zweiheit seines Wesens, alle Formen durchdringend von der kalten Schale bis zum glühendsten Kerne! – ein unablässiger Kampf zwischen außen und innen. Der ewige Dualismus seines Wesens heißt im epischen Werke Kampf zwischen Architektur und Leidenschaft.
Nie erreicht Dostojewski in seinen Romanen, was man fachmännisch „den epischen Vortrag“ nennt, jenes große Geheimnis, bewegtes Geschehen in ruhiger Darstellung zu bändigen, das von Homer bis Gottfried Keller und Tolstoi sich in unendlicher Ahnenreihe von Meister auf Meister vererbt. Leidenschaftlich formt er seine Welt, und nur [Seite 174] leidenschaftlich, nur erregt, kann man sie genießen. Nie stellt sich in seinen Büchern jenes sanfte rhythmische, einwiegende Gefühl der Behaglichkeit ein, nie fühlt man sich sicher und außen gegenüber den Geschehnissen, gleichsam an dem sicheren Ufer, Brandung und Tumult eines erregten Meeres schauspielhaft betrachtend. Immer ist man innen bei ihm eingewühlt, verstrickt in die Tragödie. Wie eine Krankheit erlebt man die Krise seiner Menschen im Blute, wie eine Entzündung brennen die Probleme im aufgepeitschten Gefühl. Mit allen unseren Sinnen taucht er uns in seine brennende Atmosphäre, stößt er uns an den Abgrundrand der Seele, wo wir keuchend stehen, schwindeligen Gefühls, mit abgerissenem Atem. Und erst, wenn unsere Pulse jagen wie die seinen, wir selbst der dämonischen Leidenschaft verfallen sind, erst dann gehört sein Werk ganz uns, gehören wir ihm ganz. Dostojewski will eben nur angespannte, gesteigerte Menschen als Mitempfinder seiner Epik, so wie er sie als seine Helden wählt. Die Leihbibliothekskonsumenten, die behaglichen Flaneure des Lesens, die Spaziergänger auf den Bürgersteigen ausgetretener Probleme, müssen auf ihn und er auf sie verzichten. Nur der brennende Mensch, der leidenschaftlich entzündete, der glühende im Gefühl, findet hinab in seine wahre Sphäre.
Es läßt sich nicht verleugnen, nicht verbergen, nicht verschönern: das Verhältnis Dostojewskis zum Leser ist weder ein freundschaftliches noch ein behagliches, sondern eine Zwietracht voll gefährlicher, grausamer, wollüstiger Instinkte. Es ist eine leidenschaftliche Beziehung wie zwischen Mann und Weib, nicht wie bei den andern Dichtern ein Verhältnis der Freundschaft und des Vertrauens. Dickens oder Gottfried Keller, seine Zeitgenossen, [Seite 175] führen mit sanfter Überredung, mit musikalischer Lockung den Leser in ihre Welt, sie plaudern ihn freundlich ins Geschehnis hinein, sie reizen nur die Neugier, die Phantasie, nicht aber wie Dostojewski das ganze aufschäumende Herz. Er, der Leidenschaftliche, will uns ganz haben, nicht bloß unsere Neugier, unser Interesse, er begehrt unsere ganze Seele, selbst unsere Körperlichkeit. Zuerst lädt er die innere Atmosphäre mit Elektrizität, raffiniert steigert er unsere Reizbarkeit. Eine Art Hypnose setzt ein, ein Willensverlust in seinen leidenschaftlichen Willen: wie das dumpfe Murmeln des Beschwörenden, endlos und sinnlos umtut er den Sinn mit breiten Gesprächen, reizt mit Geheimnis und Andeutungen die Anteilnahme bis tief nach innen. Er duldet nicht, daß wir zu früh uns hingeben, er dehnt in wollüstigem Wissen die Marter der Vorbereitung, Unruhe beginnt in einem leise zu kochen, aber immer wieder verzögert er, neue Figuren vorschiebend, neue Bilder entrollend, den Einblick in das Geschehnis. Ein wissender, ein wollüstiger Erotiker, hält er seine, hält er unsere Hingebung mit teuflischer Willenskraft zurück und steigert damit den innern Druck, die Gereiztheit der Atmosphäre ins Unendliche. Schicksalsträchtig fühlt man über sich ein Gewölk von Tragik (wie lange dauert es in Raskolnikoff, ehe man weiß, daß all diese sinnlosen seelischen Zustände Vorbereitungen zu seinem Morde sind, und doch spürt man längst in den Nerven Furchtbares voraus!), auf dem Himmel der Seele wetterleuchtet schaurige Ahnung. Aber Dostojewskis sinnliche Wollüstigkeit berauscht sich im Raffinement der Verzögerung, sie prickelt wie Nadelstiche kleine Andeutungen in die Haut des Empfindens. Mit satanischer Verlangsamung stellt Dostojewski vor seinen großen Szenen noch Seiten und Seiten mystischer und [Seite 176] dämonischer Langweile, bis er in dem Reizmenschen (ein anderer fühlt ja nichts von diesen Dingen) ein geistiges Fieber, eine physische Qual erzeugt. Auch das Lustgefühl der Spannung treibt dieser Fanatiker des Kontrastes bis in den Schmerz hinein, und erst dann, wenn im überheizten Kessel der Brust das Gefühl schon brodelt und die Wände sprengen will, dann erst schlägt er einem mit dem Hammer auf das Herz, dann zuckt eine jener sublimen Sekunden nieder, wo wie ein Blitz die Erlösung aus dem Himmel seines Werkes in die Tiefe unserer Herzen fährt. Erst wenn die Spannung unerträglich geworden ist, zerreißt Dostojewski das epische Geheimnis und löst das zerspannte Gefühl in weiche, flutende, tränenfeuchte Empfindung.
So feindlich, so wollüstig, so raffiniert leidenschaftlich umstellt, umfaßt Dostojewski seine Leser. Nicht im Ringkampf zwingt er sie nieder, sondern wie ein Mörder, der stundenlang und stundenlang sein Opfer umkreist, durchstößt er einem dann plötzlich mit einer spitzen Sekunde das Herz. So leidenschaftlich ist er im eigenen Aufruhr, daß man zweifelt, ihn noch einen Epiker nennen zu dürfen. Seine Technik ist eine explosive: er höhlt nicht kärrnerhaft, Schaufel um Schaufel, die Straße in sein Werk hinein, sondern von innen herauf mit einer ins kleinste geballten Kraft sprengt er die Welt auf und die erlöste Brust. Ganz unterirdisch sind seine Vorbereitungen, gleichsam eine Verschwörung, eine blitzartige Überraschung für den Leser. Nie weiß man, obwohl man fühlt, daß man einer Katastrophe entgegengeht, in welchen Menschen er die Stollen seiner Minengänge eingräbt, von welcher Seite, in welcher Stunde die furchtbare Entladung erfolgt. Von jedem einzelnen führt ein Schacht in den Mittelpunkt des Geschehens, jeder einzelne ist geladen mit dem Zündstoff [Seite 177] der Leidenschaft. Wer aber den Kontakt zündet (zum Beispiel, wer von den vielen, die alle innerlich von den Gedanken vergiftet sind, den Fedor Karamasoff tötet), das ist mit einer unerhörten Kunst verborgen bis zum letzten Augenblick, denn Dostojewski, der alles ahnen läßt, verrät nichts von seinem Geheimnis. Man fühlt nur immer das Schicksal wie einen Maulwurf unter der Fläche des Lebens wühlen, fühlt, wie sich bis hart unter unser Herz die Mine vorschiebt, und vergeht, verzehrt sich in unendlicher Spannung bis zu den kleinen Sekunden, die wie ein Blitz die Schwüle der Atmosphäre zerschneiden.
Und für diese kleinen Sekunden, für die unerhörte Konzentration des Zustandes benötigt der Epiker Dostojewski eine bisher ungekannte Wucht und Breite der Darstellung. Nur eine monumentale Kunst kann solch eine Intensität, eine solche Konzentration erzielen, nur eine Kunst urweltlicher Größe und mythischer Wucht. Hier ist Breite nicht Geschwätzigkeit, sondern Architektur: wie für die Spitzen der Pyramiden riesige Fundamente, sind für die spitzen Höhepunkte bei Dostojewski die gewaltigen Dimensionen seiner Romane notwendig. Und wirklich, wie die Wolga, der Dnjepr, die großen Ströme seiner Heimat, rollen diese Romane dahin. Etwas Stromhaftes ist ihnen allen zu eigen, langsam wogend rollen sie ungeheuere Mengen des Lebens heran. Auf ihren Tausenden und Tausenden Seiten schwemmen sie, gelegentlich die Ufer des künstlerischen Gestaltens übertretend, viel politisches Geröll und polemisches Gestein mit sich fort. Manchmal, wo die Inspiration nachläßt, haben sie auch breite, sandige Stellen. Schon scheinen sie zu versiegen. In stockendem Lauf winden sich mühsam durch Krümmungen und Wirrungen die Geschehnisse weiter, die Flut stagniert an den Sandbänken der Gespräche [Seite 178] für Stunden, bis sie wieder dann die eigene Tiefe und den Schwung ihrer Leidenschaft findet.
Aber dann, in der Nähe des Meeres, der Unendlichkeit, kommen plötzlich jene unerhörten Stellen der Stromschnelle, wo sich die breite Erzählung zum Wirbel zusammenballt, die Seiten gleichsam fliegen, das Tempo beängstigend wird, die Seele mitgerissen in den Abgrund des Gefühls hinpfeilt. Schon fühlt man die nahe Tiefe, schon donnert der Wassersturz her, die ganze breite schwere Masse ist plötzlich in schäumende Geschwindigkeit verwandelt, und wie die Strömung der Erzählung, gleichsam magnetisch vom Katarakt angezogen, der Katharsis zuschäumt, so sausen wir selbst unwillkürlich rascher durch diese Seiten und stürzen dann plötzlich in den Abgrund des Geschehens, gleichsam mit zerschmetterten Gefühlen.
Und dieses Gefühl, wo gleichsam die ungeheuere Summe des Lebens in einer einzigen Ziffer gezogen ist, dieses Gefühl äußerster Konzentration, qualvoll und schwindlig zugleich, das er selbst einmal das „Turmgefühl“ nennt, – den göttlichen Wahnsinn, sich über die eigene Tiefe zu beugen und die Seligkeit des tödlichen Niedersturzes vorempfindend zu genießen – dieses äußerste Gefühl, in dem man mit dem ganzen Leben auch noch den Tod empfindet, es ist immer auch die unsichtbare Spitze der großen epischen Pyramiden Dostojewskis. Alle Romane sind vielleicht nur geschrieben um dieser Augenblicke der weißglühenden Empfindung willen. Zwanzig oder dreißig solcher grandioser Stellen hat Dostojewski geschaffen, und alle sind sie von so unvergleichlicher Vehemenz der leidenschaftlichen Zusammenballung, daß sie einem nicht nur beim ersten Lesen, da sie einen gleichsam noch wehrlos überfallen, sondern noch beim vierten oder fünften Wiederholen [Seite 179] wie eine Stichflamme durch das Herz fahren. Immer sind in diesem Augenblick plötzlich alle Menschen des ganzen Buches in einem Zimmer versammelt, immer alle in der äußersten Intensität ihres Eigenwillens. Alle Straßen, alle Ströme, alle Kräfte laufen magisch zusammen, lösen sich auf in einer einzigen Geste, einer einzigen Gebärde, einem einzigen Wort. Ich erinnere nur an die Szene in den „Dämonen“, wo die Ohrfeige Schatows mit ihrem „trockenen Schlag“ das Spinnweb des Geheimnisses zerreißt, wie im „Idioten“ Nastassja Philipowna die 100 000 Rubel ins Feuer wirft, oder die Geständnisszene in „Raskolnikoff“ und den „Karamasoff“. In diesen höchsten, schon nicht mehr stofflichen, in diesen ganz elementaren Momenten seiner Kunst gattet sich restlos Architektur und Leidenschaft. Nur in der Ekstase ist Dostojewski der einheitliche Mensch, nur in diesen kurzen Augenblicken der vollendete Künstler. Aber diese Szenen sind rein künstlerisch ein Triumph der Kunst über den Menschen ohnegleichen, denn erst rücklesend wird man gewahr, mit einer wie genialen Berechnung alle Anstiege zu diesem Höhepunkt geführt sind, mit welch wissender Verteilung hier Menschen und Umstände sich magisch ergänzen, wie die ungeheure Gleichung, die tausendstellige und verschränkte, sich plötzlich auflöst in die kleinste Zahl, die letzte, restlose Einheit des Gefühls: die Ekstase. Das ist das größte künstlerische Geheimnis Dostojewskis, alle seine Romane zu solchen Spitzen hinaufzubauen, in denen sich die ganze elektrische Atmosphäre des Gefühls sammelt und die den Blitz des Schicksals mit unfehlbarer Sicherheit in sich auffangen.
Muß noch besonders auf den Ursprung dieser einzigartigen Kunstform hingewiesen sein, die vor Dostojewski keiner besessen und vielleicht nie ein Künstler in gleichem [Seite 180] Maße besitzen wird? Muß es noch gesagt sein, daß dieses Aufzucken der gesamten Lebenskräfte zu einzigen Sekunden nichts anderes ist, als in Kunst verwandelte, sinnfällige Form seines eigenen Lebens, seiner dämonischen Krankheit? Nie ist das Leiden eines Künstlers fruchtbarer gewesen als diese künstlerische Verwandlung der Epilepsie, denn nie hat sich vor Dostojewski in der Kunst eine ähnliche Konzentration von Lebensfülle in das engste Maß von Raum und Zeit gebannt. Er, der am Semenowskiplatz gestanden, die Augen verschnürt, und in zwei Minuten sein ganzes vergangenes Leben noch einmal durchlebte, der bei jedem epileptischen Anfall in der Sekunde zwischen dem wankenden Taumel und dem harten Niedersturz vom Sessel auf den Boden Welten visionär durchirrt, nur er konnte diese Kunst erreichen, in eine Nußschale von Zeit einen Kosmos von Geschehnissen einzubetten. Nur er das Unwahrscheinliche solcher explosiver Sekunden so dämonisch ins Wirkliche zwingen, daß wir dieser Fähigkeit der Überwindung von Raum und Zeit kaum gewahr werden. Wahre Wunder der Konzentration sind seine Werke. Ich erinnere nur an ein Beispiel: Man liest den ersten Band des „Idioten“, der über 500 Seiten umfaßt. Ein Tumult von Schicksal hat sich erhoben, ein Chaos von Seelen ist durchflogen, eine Vielzahl von Menschen innerlich belebt. Man hat mit ihnen Straßen durchwandert, in Häusern gesessen, und plötzlich, bei zufälligem Besinnen, entdeckt man, daß diese ganze ungeheure Fülle von Geschehnissen in einem Ablauf von kaum zwölf Stunden vor sich ging, von Morgen bis Mitternacht. Ebenso ist die phantastische Welt der Karamasoff in bloß ein paar Tage, die Raskolnikoffs in eine Woche zusammengeballt, – Meisterstücke der Gedrängtheit, wie sie ein Epiker noch nie und selbst [Seite 181] das Leben nur in den seltensten Augenblicken erreicht. Einzig die antike Tragödie des Ödipus etwa, der in der engen Spanne von Mittag bis Abend ein ganzes Leben und das vergangener Generationen zusammendrängt, kennt diesen rasenden Niedersturz von Höhe zu Tiefe, von Tiefe zu Höhe, diese erbarmungslosen Wetterstürze des Geschicks, aber auch diese reinigende Kraft der seelischen Gewitter. Mit keinem epischen Werk läßt sich diese Kunst vergleichen, und darum wirkt Dostojewski immer in seinen großen Augenblicken als Tragiker, seine Romane gleichsam wie umhüllte, verwandelte Dramen; im letzten sind die Karamasoff Geist vom Geiste der griechischen Tragödie, Fleisch vom Fleische Shakespeares. Nackt steht in ihnen, wehrlos und klein, der riesige Mensch unter dem tragischen Himmel des Schicksals.
Und seltsam, in diesen leidenschaftlichen Augenblicken der Niederstürze verliert plötzlich der Roman Dostojewskis auch seinen erzählerischen Charakter. Die dünne epische Umschalung schmilzt ab in der Hitze des Gefühls und verdunstet; nichts bleibt als der blasse weißglühende Dialog. Die großen Szenen in Dostojewskis Romanen sind nackte dramatische Dialoge. Man kann sie, ohne ein Wort beizufügen oder fortzulassen, auf die Bühne pflanzen, so festgezimmert ist jede einzelne Figur, so zur dramatischen Sekunde verdichtet sich in ihnen der breite strömende Gehalt der großen Romane. Das tragische Gefühl in Dostojewski, das immer zu Endgültigem drängt, zur gewaltsamen Spannung, zur blitzartigen Entladung, schafft in diesen Höhepunkten sein episches Kunstwerk scheinbar restlos zum dramatischen um.