Kitabı oku: «Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца»
© ООО «Издательство АСТ», 2023
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»Wer da hat, dem wird gegeben«, dieses Wort aus dem Buche der Weisheit darf jeder Schriftsteller getrost in dem Sinne bekräftigen: »Wer viel erzählt hat, dem wird erzählt.« Nichts Irrtümlicheres als die allzu umgängliche Vorstellung, in dem Dichter arbeite ununterbrochen die Phantasie, er erfinde aus einem unerschöpflichen Vorrat pausenlos Begebnisse und Geschichten. In Wahrheit braucht er nur, statt zu erfinden, sich von Gestalten und Geschehnissen finden zu lassen, die ihn, sofern er sich die gesteigerte Fähigkeit des Schauens und Lauschens bewahrt hat, unausgesetzt als ihren Wiedererzähler suchen; wer oftmals Schicksale zu deuten versuchte, dem berichten viele ihr Schicksal.
Auch dieses Begebnis ist mir beinahe zur Gänze in der hier wiedergegebenen Form anvertraut worden und zwar auf völlig unvermutete Art. Das letzte Mal in Wien suchte ich abends, von allerhand Besorgungen abgemüdet, ein vorstädtisches Restaurant auf, von dem ich vermutete, es sei längst aus der Mode geraten und wenig frequentiert. Doch kaum eingetreten, wurde ich meines Irrtums ärgerlich gewahr. Gleich von dem ersten Tisch stand mit allen Zeichen ehrlicher, von mir freilich nicht ebenso stürmisch erwiderter Freude ein Bekannter auf und lud mich ein, bei ihm Platz zu nehmen. Es wäre unwahrhaftig, zu behaupten, daß jener beflissene Herr an sich ein unebener oder unangenehmer Mensch gewesen wäre; er gehörte nur zu jener Sorte zwanghaft geselliger Naturen, die in ebenso emsiger Weise, wie Kinder Briefmarken, Bekanntschaften sammeln und deshalb auf jedes Exemplar ihrer Kollektion in besonderer Weise stolz sind. Für diesen gutmütigen Sonderling – im Nebenberuf ein vielwissender und tüchtiger Archivar – beschränkte sich der ganze Lebenssinn auf die bescheidene Genugtuung, bei jedem Namen, der ab und zu in einer Zeitung zu lesen war, mit eitler Selbstverständlichkeit hinzufügen zu können: »Ein guter Freund von mir« oder »Ach, den habe ich erst gestern getroffen« oder »Mein Freund A hat mir gesagt und mein Freund B hat gemeint«, und so unentwegt das ganze Alphabet entlang. Verläßlich klatschte er bei den Premieren seiner Freunde, telephonierte jede Schauspielerin am nächsten Morgen glückwünschend an, er vergaß keinen Geburtstag, verschwieg unerfreuliche Zeitungsnotizen und schickte einem die lobenden aus herzlicher Anteilnahme zu. Kein unebener Mensch also, weil ehrlich beflissen und schon beglückt, wenn man ihn einmal um eine kleine Gefälligkeit ersuchte oder gar das Raritätenkabinett seiner Bekanntschaften um ein neues Objekt vermehrte.
Aber es tut nicht not, Freund »Adabei« – unter diesem heiteren Spottwort faßt man in Wien jene Spielart gutmütiger Parasiten innerhalb der buntscheckigen Gruppe der Snobs für gewöhnlich zusammen – näher zu beschreiben, denn jeder kennt sie und weiß, daß man sich ihrer rührenden Unschädlichkeit ohne Roheit nicht erwehren kann. So setzte ich mich resigniert zu ihm, und eine Viertelstunde lief schwatzhaft dahin, als ein Herr in das Lokal eintrat, hochgewachsen und auffällig durch sein frischfarbiges, jugendliches Gesicht mit einem pikanten Grau an den Schläfen; eine gewisse Aufrechtheit im Gang verriet ihn sofort als ehemaligen Militär. Eifrig zuckte mein Nachbar mit der für ihn typischen Beflissenheit grüßend auf, welchen Impetus jedoch jener Herr eher gleichgültig als höflich erwiderte, und noch hatte der neue Gast nicht recht bei dem eilig zudrängenden Kellner bestellt, als mein Freund Adabei bereits an mich heranrückte und mir leise zuflüsterte: »Wissen Sie, wer das ist?« Da ich seinen Sammelstolz, jedes halbwegs interessante Exemplar seiner Kollektion rühmend zur Schau zu stellen, längst kannte und überlange Explikationen fürchtete, äußerte ich bloß ein recht uninteressiertes »Nein« und zerlegte weiter meine Sachertorte. Diese meine Indolenz aber machte den Namenskuppler nur noch aufgeregter, und die Hand vorsichtig vorhaltend, hauchte er mir leise zu: »Das ist doch der Hofmiller von der Generalintendanz – Sie wissen doch – der im Krieg den Maria Theresienorden bekommen hat.« Weil nun dieses Faktum mich nicht in der erhofften Weise zu erschüttern schien, begann er mit der Begeisterung eines patriotischen Lesebuchs auszupacken, was dieser Rittmeister Hofmiller im Krieg Großartiges geleistet hätte, zuerst bei der Kavallerie, dann bei jenem Erkundungsflug über die Piave, wo er allein drei Flugzeuge abgeschossen hätte, schließlich bei der Maschinengewehrkompagnie, wo er drei Tage einen Frontabschnitt besetzt und gehalten hätte – all das mit vielen Einzelheiten (die ich hier überschlage) und immer dazwischen sein maßloses Erstaunen bekundend, daß ich von diesem Prachtmenschen nie gehört hatte, den doch Kaiser Karl in Person mit der seltensten Dekoration der österreichischen Armee ausgezeichnet habe.
Unwillkürlich ließ ich mich verleiten, zum andern Tisch hinüberzuschauen, um einmal einen historisch abgestempelten Helden aus Zweimeterdistanz zu sehen. Aber da stieß ich auf einen harten, verärgerten Blick, der etwa sagen wollte: Hat der Kerl dir etwas von mir vorgeflunkert? An mir gibt’s nichts anzugaffen! Gleichzeitig rückte jener Herr mit einer unverkennbar unfreundlichen Bewegung den Sessel zur Seite und schob uns energisch den Rücken zu. Etwas beschämt nahm ich meinen Blick zurück und vermied von nun an, auch nur die Decke jenes Tischs neugierig anzustreifen. Bald darauf verabschiedete ich mich von meinem braven Schwätzer, beim Hinausgehen jedoch schon bemerkend, daß er sich sofort zu seinem Helden hinübertransferierte, wahrscheinlich um einen ebenso eifrigen Bericht über mich zu erstatten wie zu mir über jenen.
Das war alles. Ein Blick hin und her, und ich hätte gewiß diese flüchtige Begegnung vergessen, doch der Zufall wollte, daß ich bereits am nächsten Tage, in einer kleinen Gesellschaft mich neuerdings diesem ablehnenden Herrn gegenübersah, der übrigens im abendlichen Smoking noch auffallender und eleganter wirkte als gestern in dem mehr sportlichen Homespun. Wir hatten beide Mühe, ein kleines Lächeln zu verbergen, jenes ominöse Lächeln zwischen zwei Menschen, die inmitten einer größeren Gruppe ein wohlgehütetes Geheimnis gemeinsam haben. Er erkannte mich genau wie ich ihn, und wahrscheinlich erregten oder amüsierten wir uns auch in gleicher Weise über den erfolglosen Kuppler von gestern. Zunächst vermieden wir, miteinander zu sprechen, was sich schon deswegen als aussichtslos erwiesen hätte, weil rings um uns eine aufgeregte Diskussion im Gange war.
Der Gegenstand jener Diskussion ist im voraus verraten, wenn ich erwähne, daß sie im Jahre 1938 stattfand. Spätere Chronisten unserer Zeit werden einmal feststellen, daß im Jahre 1938 fast jedes Gespräch in jedem Lande unseres verstörten Europa von den Mutmaßungen über Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit eines neuen Weltkrieges beherrscht war. Unvermeidlich faszinierte das Thema jedes Zusammensein, und man hatte manchmal das Gefühl, es seien gar nicht die Menschen, die in Vermutungen und Hoffnungen ihre Angst abreagierten, sondern gleichsam die Atmosphäre selbst, die erregte und mit geheimen Spannungen beladene Zeitluft, die sich ausschwingen wollte im Wort.
Der Hausherr führte das Gespräch an, Rechtsanwalt von Beruf und rechthaberisch dem Charakter nach; er bewies mit den üblichen Argumenten den üblichen Unsinn, die neue Generation wisse um den Krieg und würde in einen neuen nicht mehr so unvorbereitet hineintappen wie in den letzten. Schon bei der Mobilisierung würden die Gewehre nach rückwärts losgehen, und insbesondere die alten Frontsoldaten wie er hätten nicht vergessen, was sie erwarte. Die flunkernde Sicherheit, mit der er in einer Stunde, wo in zehntausenden und hunderttausenden Fabriken Sprengstoffe und Giftgase erzeugt wurden, die Möglichkeit eines Krieges ebenso lässig wegstreifte wie mit einem leichten Klaps des Zeigefingers die Asche seiner Zigarette, ärgerte mich. Man solle nicht immer glauben, was man wahrhaben wolle, antwortete ich recht entschieden. Die Ämter und Militärorganisationen, die den Kriegsapparat dirigierten, hätten gleichfalls nicht geschlafen, und während wir uns mit Utopien beduselten, die Friedenszeit reichlich benützt, um die Massen schon im voraus durchzuorganisieren und gewissermaßen schußfertig in die Hand zu bekommen. Bereits jetzt, mitten im Frieden, sei die allgemeine Servilität dank der Vervollkommnung der Propaganda in unglaublichen Proportionen gewachsen, und man möge der Tatsache nur klar ins Auge sehen, daß von der Sekunde an, wo das Radio die Meldung der Mobilisierung in die Stuben werfen würde, nirgends Widerstand zu erwarten sei. Das Staubkorn Mensch zähle heute als Wille überhaupt nicht mehr mit.
Natürlich hatte ich alle gegen mich, denn in bewährter Praxis sucht sich der Selbstbetäubungstrieb im Menschen innerlich bewußter Gefahren am liebsten dadurch zu entledigen, daß er sie als null und nichtig erklärt, und schon gar mußte eine solche Warnung vor billigem Optimismus unwillkommen wirken angesichts eines im Nebenzimmer bereits splendid aufgedeckten Soupers.
Unerwarteterweise trat nun der Maria Theresienritter als Sekundant mir zur Seite, gerade er, in dem mein falscher Instinkt einen Gegner vermutet hatte. Ja, es sei blanker Unsinn, erklärte er heftig, das Wollen oder Nichtwollen des Menschenmaterials heutzutage noch einkalkulieren zu wollen, denn im nächsten Kriege sei die eigentliche Leistung den Maschinen zugeteilt und die Menschen nur mehr zu einer Art Bestandteil derselben degradiert. Schon im letzten Kriege sei er nicht vielen im Feld begegnet, die den Krieg klar bejaht oder klar verneint hätten. Die meisten seien hineingerollt wie eine Staubwolke mit dem Wind und hätten dann im großen Wirbel einfach dringesteckt, jeder einzelne willenlos herumgeschüttelt wie eine Erbse im großen Sack. In summa seien vielleicht sogar mehr Menschen in den Krieg hineingeflüchtet als aus ihm herausgeflüchtet.
Ich hörte überrascht zu, interessiert vor allem durch die Heftigkeit, mit der er jetzt weitersprach. »Geben wir uns keiner Täuschung hin. Wenn man heute in irgendeinem Land für einen völlig exotischen Krieg, für einen Krieg in Polynesien oder in einem Winkel Afrikas, die Werbetrommel aufstellte, würden Tausende und Hunderttausende zulaufen, ohne recht zu wissen warum, vielleicht nur aus Lust an dem Weglaufen vor sich selbst oder aus unerfreulichen Verhältnissen. Den faktischen Widerstand gegen einen Krieg kann ich aber kaum höher als null bewerten. Widerstand eines Einzelnen gegen eine Organisation erfordert immer einen viel höheren Mut als das bloße Sich-mitreißen-lassen, nämlich Individualmut, und diese Spezies stirbt in unseren Zeiten fortschreitender Organisation und Mechanisierung aus. Ich bin im Krieg fast ausschließlich dem Phänomen des Massenmuts, des Muts innerhalb von Reih und Glied, begegnet, und wer diesen Begriff näher unter die Lupe nimmt, entdeckt ganz seltsame Komponenten: viel Eitelkeit, viel Leichtsinn und sogar Langeweile, vor allem aber viel Furcht – jawohl, Furcht vor dem Zurückbleiben, Furcht vor dem Verspottetwerden, Furcht vor dem Alleinhandeln und Furcht vor allem, sich in Opposition zu setzen zu dem Massenelan der andern; die meisten von jenen, die im Feld als die Tapfersten galten, habe ich persönlich und in Zivil dann als recht fragwürdige Helden gekannt. – Bitte«, sagte er, höflich zu dem Gastgeber gewandt, der ein schiefes Gesicht schnitt, »ich nehme mich selber keineswegs aus.«
Die Art, wie er sprach, gefiel mir, und ich hatte Lust, auf ihn zuzugehen, aber da rief die Hausdame schon zum Abendessen, und weit voneinander placiert, kamen wir nicht mehr ins Gespräch. Erst bei dem allgemeinen Aufbruch gerieten wir bei der Garderobe zusammen.
»Ich glaube«, lächelte er mir zu, »unser gemeinsamer Protektor hat uns indirekt schon vorgestellt.«
Ich lächelte gleichfalls. »Und gründlich dazu.«
»Er hat wahrscheinlich dick aufgetragen, was für ein Achilles ich bin, und sich meinen Orden ausgiebig über die Weste gehängt?«
»So ungefähr.«
»Ja, auf den ist er verflucht stolz – ähnlich wie auf Ihre Bücher.«
»Komischer Kauz! Aber es gibt üblere. Übrigens – wenn’s Ihnen recht ist, könnten wir noch ein Stück zusammen gehen.«
Wir gingen. Er wandte sich mit einem Mal zu mir zu:
»Glauben Sie mir, ich mache wirklich keine Phrasen, wenn ich sage, daß ich jahrelang unter nichts mehr gelitten habe als unter diesem für meinen Geschmack allzu auffälligen Maria Theresienorden. Das heißt, um ehrlich zu sein – als ich ihn damals im Feld draußen umgehängt kriegte, ging mir’s natürlich zunächst durch und durch. Schließlich ist man zum Soldaten auferzogen worden und hat in der Kadettenschule von diesem Orden wie von einer Legende gehört, von diesem einen Orden, der vielleicht nur auf ein Dutzend in jedem Kriege fällt, also tatsächlich so wie ein Stern vom Himmel herunter. Ja, für einen Burschen von achtundzwanzig Jahren bedeutet so etwas schon allerhand. Man steht mit einem Mal vor der ganzen Front, alles staunt auf, wie einem plötzlich etwas an der Brust blitzt wie eine kleine Sonne, und der Kaiser, die unnahbare Majestät, schüttelt einem beglückwünschend die Hand. Aber sehen Sie: diese Auszeichnung hatte doch nur Sinn und Gültigkeit in unserer militärischen Welt, und als der Krieg zu Ende war, schien’s mir lächerlich, noch ein ganzes Leben lang als abgestempelter Held herumzugehen, weil man einmal wirklich zwanzig Minuten couragiert gehandelt hat – wahrscheinlich nicht couragierter als zehntausend andere, denen man nur das Glück voraus hatte, bemerkt zu werden, und das vielleicht noch erstaunlichere, lebendig zurückzukommen. Schon nach einem Jahr, wenn überall die Leute hinstarrten auf das kleine Stückchen Metall und den Blick dann ehrfürchtig zu mir heraufklettern ließen, wurde es mir gründlich über, als ambulantes Monument herumzustiefeln, und der Ärger über diese ewige Auffälligkeit war auch einer der entscheidenden Gründe, weshalb ich nach Kriegsende so bald ins Zivil hinübergewechselt habe.«
Er ging etwas heftiger.
»Einer der Gründe, sagte ich, aber der Hauptgrund war ein privater, der Ihnen vielleicht noch verständlicher sein wird. Der Hauptgrund war, daß ich selbst meine Berechtigung und jedenfalls mein Heldentum gründlich anzweifelte; ich wußte doch besser als die fremden Gaffer, daß hinter diesem Orden jemand steckte, der nichts weniger als ein Held und sogar ein entschiedener Nichtheld war – einer von denen, die in den Krieg nur deshalb so wild hineingerannt sind, weil sie sich aus einer verzweifelten Situation retten wollten. Deserteure eher vor der eigenen Verantwortung als Helden ihres Pflichtgefühls. Ich weiß nicht, wie das bei euch ist – mir wenigstens erscheint das Leben mit Nimbus und Heiligenschein unnatürlich und unerträglich, und ich fühlte mich redlich erleichtert, meine Heldenbiographie nicht mehr auf der Uniform spazierenführen zu müssen. Noch jetzt ärgert’s mich, wenn jemand meine alte Glorie ausgräbt, und warum soll ich’s Ihnen nicht gestehen, daß ich gestern knapp auf dem Sprung war, an Ihren Tisch hinüberzugehen und den Schwätzer anzufahren, er solle mit jemand anderem protzen als gerade mit mir. Den ganzen Abend hat mich Ihr respektvoller Blick noch gewurmt, und am liebsten hätte ich, um diesen Schwätzer zu dementieren, Sie genötigt, anzuhören, auf welchen krummen Wegen ich eigentlich zu meiner ganzen Heldenhaftigkeit gekommen bin – es war schon eine recht sonderbare Geschichte, und immerhin könnte sie dartun, daß Mut oft nichts anderes ist als eine umgedrehte Schwäche. Übrigens – ich hätte kein Bedenken, sie Ihnen noch jetzt kerzengrad zu erzählen. Was ein Vierteljahrhundert in einem Menschen zurückliegt, geht nicht mehr ihn an, sondern längst einen andern. Hätten Sie Zeit? Und langweilt Sie’s nicht?«
Selbstverständlich hatte ich Zeit; wir gingen noch lange auf und nieder in den schon verlassenen Straßen und waren noch in den folgenden Tagen ausgiebig zusammen. In seinem Bericht habe ich nur weniges verändert, vielleicht Ulanen gesagt statt Husaren, die Garnisonen, um sie unkenntlich zu machen, ein wenig auf der Landkarte herumgeschoben und vorsorglich alle richtigen Namen wegschraffiert. Aber nirgends habe ich Wesentliches hinzuerfunden, und nicht ich, sondern der Erzähler beginnt jetzt zu erzählen.
»Es gibt eben zweierlei Mitleid. Das eine, das schwachmütige und sentimentale, das eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist, sich möglichst schnell freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück, jenes Mitleid, das gar nicht Mitleiden ist, sondern nur instinktive Abwehr des fremden Leidens von der eigenen Seele. Und das andere, das einzig zählt – das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid, das weiß, was es will, und entschlossen ist, geduldig und mitduldend alles durchzustehen bis zum Letzten seiner Kraft und noch über dies Letzte hinaus.«
* * *
Die ganze Sache begann mit einer Ungeschicklichkeit, einer völlig unverschuldeten Tölpelei, einer »gaffe«, wie die Franzosen sagen. Dann kam der Versuch, meine Dummheit wieder einzurenken; aber wenn man allzu hastig ein Rad in einem Uhrwerk reparieren will, verdirbt man meist das ganze Getriebe. Selbst heute, nach Jahren, vermag ich nicht abzugrenzen, wo mein pures Ungeschick endete und meine eigene Schuld begann. Vermutlich werde ich es niemals wissen.
Ich war damals fünfundzwanzig Jahre alt und aktiver Leutnant bei den x… er Ulanen. Daß ich jemals sonderliche Passion oder innere Berufung für den Offiziersstand empfunden hätte, darf ich nicht behaupten. Aber wenn in einer altösterreichischen Beamtenfamilie zwei Mädel und vier immer hungrige Buben um einen schmalgedeckten Tisch sitzen, so fragt man nicht lange nach ihren Neigungen, sondern schiebt sie frühzeitig in den Backofen des Berufs, damit sie den Hausstand nicht allzulange belasten. Meinen Bruder Ulrich, der sich schon in der Volksschule die Augen mit vielem Lernen verdarb, steckte man ins Priesterseminar, mich dirigierte man um meiner festen Knochen willen in die Militärschule: von dort aus spult sich der Lebensfaden mechanisch fort, man braucht ihn nicht weiter zu ölen. Der Staat sorgt für alles. In wenigen Jahren schneidert er kostenlos, nach vorgezeichnetem ärarischem Muster, aus einem halbwüchsigen, blassen Buben einen flaumbärtigen Fähnrich und liefert ihn gebrauchsfertig an die Armee. Eines Tages, zu Kaisers Geburtstag, noch nicht achtzehn Jahre alt, war ich ausgemustert und kurz darauf mir der erste Stern an den Kragen gesprungen; damit war die erste Etappe erreicht, und nun konnte der Turnus des Avancements in gebührenden Pausen mechanisch sich weiterhaspeln bis zu Pensionierung und Gicht. Auch just bei der Kavallerie, dieser leider recht kostspieligen Truppe, zu dienen, war keineswegs mein persönlicher Wunsch gewesen, sondern die Marotte meiner Tante Daisy, die den älteren Bruder meines Vaters in zweiter Ehe geheiratet hatte, als er vom Finanzministerium zu einer einträglicheren Bankpräsidentschaft übergegangen war. Reich und snobistisch zugleich, wollte sie es nicht dulden, daß irgend einer aus der Verwandtschaft, der gleichfalls Hofmiller hieß, die Familie »verschandeln« sollte, indem er bei der Infanterie diente; und da sie sich diese Marotte hundert Kronen Zuschuß im Monat kosten ließ, mußte ich bei allen Gelegenheiten vor ihr noch submissest dankbar tun. Ob es mir selber zusagte, bei der Kavallerie oder überhaupt aktiv zu dienen, darüber hätte nie jemand nachgedacht, ich selber am wenigsten. Saß ich im Sattel, dann war mir wohl, und ich dachte nicht weit über den Pferdehals hinaus.
In jenem November 1913 muß irgend ein Erlaß aus einer Kanzlei in die andere hinübergerutscht sein, denn surr – auf einmal war unsere Eskadron aus Jaroslau in eine andere kleine Garnison an der ungarischen Grenze versetzt worden. Es ist gleichgültig, ob ich das Städtchen beim richtigen Namen nenne oder nicht, denn zwei Uniformknöpfe am selben Rock können einander nicht ähnlicher sein als eine österreichische Provinzgarnison der andern. Da und dort dieselben ärarischen Ubikationen: eine Kaserne, ein Reitplatz, ein Exerzierplatz, ein Offizierskasino, dazu drei Hotels, zwei Kaffeehäuser, eine Konditorei, eine Weinstube, ein schäbiges Variété mit abgetakelten Soubretten, die sich im Nebenamt liebevollst zwischen Offizieren und Einjährigen aufteilen. Überall bedeutet Kommißdienst dieselbe geschäftig leere Monotonie, Stunde für Stunde eingeteilt nach dem stahlstarren, jahrhundertealten Reglement, und auch die Freizeit sieht nicht viel abwechslungsreicher aus. In der Offiziersmesse dieselben Gesichter, dieselben Gespräche, im Kaffeehaus dieselben Kartenpartien und das gleiche Billard. Manchmal wundert man sich, daß es dem lieben Gott beliebt, wenigstens einen anderen Himmel und eine andere Landschaft um die sechs-oder achthundert Dächer eines solchen Städtchens zu stellen.
Einen Vorteil allerdings bot meine neue Garnison gegenüber der früheren galizischen: sie war Schnellzugsstation und lag einerseits nahe bei Wien, andererseits nicht allzuweit von Budapest. Wer Geld hatte – und bei der Kavallerie dienen immer allerhand reiche Burschen, nicht zuletzt auch die Freiwilligen, teils Hochadel, teils Fabrikantensöhne – der konnte, wenn er rechtzeitig abpaschte, mit dem Fünfuhrzug nach Wien fahren und mit dem Nachtzug um halb drei Uhr wieder zurück sein. Zeit genug also, um ins Theater zu gehen, auf der Ringstraße zu bummeln, den Kavalier zu spielen und sich gelegentliche Abenteuer zu suchen; einige der Beneidetsten hielten sich dort sogar eine ständige Wohnung oder ein Absteigequartier. Leider lagen derlei auffrischende Eskapaden jenseits meines Monatsetats. Als Unterhaltung blieb einzig das Kaffeehaus oder die Konditorei, und dort verlegte ich mich, da mir die Kartenpartien meist zu hoch ins Geld gingen, auf das Billard oder spielte das noch billigere Schach.
So saß ich auch diesmal eines Nachmittags, es muß Mitte Mai 1914 gewesen sein, mit einem gelegentlichen Partner, dem Apotheker zum Goldenen Engel, der gleichzeitig Vizebürgermeister unseres Garnisonsstädtchens war, in der Konditorei. Wir hatten unsere üblichen drei Partien längt zu Ende gespielt, und man redete nur aus Trägheit, sich aufzurappeln – wohin denn in diesem langweiligen Nest? – noch so hin und her, aber das Gespräch qualmte schon schläfrig wie eine abgebrannte Zigarette. Da geht mit einem Mal die Tür auf, und ein wehender Glockenrock schwingt mit einem Büschel frischer Luft ein hübsches Mädel herein: braune, mandelförmige Augen, dunkler Teint, famos gekleidet, gar nicht Provinz, und vor allem ein neues Gesicht in diesem gottsjämmerlichen Einerlei. Leider schenkt die smarte Nymphe uns respektvoll Aufstaunenden keinen Blick; scharf und rassig, mit sportlich festem Schritt quert sie an den neun kleinen Marmortischchen des Lokals vorbei geradewegs auf das Verkaufspult zu, um dort gleich en gros ein ganzes Dutzend Kuchen, Torten und Schnäpse zu bestellen. Mir fällt sofort auf, wie devotissime sich der Herr Kuchenbäcker vor ihr verneigt – nie habe ich die Rückennaht seines Schwalbenrocks so straff hinabgespannt gesehen. Sogar seine Frau, die üppig-grobschlächtige Provinzvenus, die sich sonst von allen Offizieren nachlässigst hofieren läßt (oft bleibt man ja bis Monatsende allerhand Kleinigkeiten schuldig), erhebt sich von ihrem Sitz an der Kasse und zergeht beinahe in pflaumenweicher Höflichkeit. Das hübsche Mädel knabbert, während der Kuchenbäcker die Bestellung ins Kundenbuch notiert, achtlos ein paar Pralinés an und macht ein bißchen Konversation mit Frau Großmaier; für uns aber, die wir vielleicht ungebührlich eifrig die Hälse recken, fällt nicht einmal ein Augenblink ab. Natürlich beschwert sich die junge Dame nicht mit einem einzigen Päckchen die hübsche Hand; es wird ihr alles, wie Frau Großmaier submissest versichert, zuverlässig geschickt. Und sie denkt auch nicht im mindesten daran, wie wir gewöhnlichen Sterblichen an der stählernen Automatenkasse bar zu bezahlen. Sofort wissen wir alle: extrafeine, vornehme Kundschaft!
Wie sie sich jetzt nach erledigter Bestellung zum Gehen wendet, springt Herr Großmaier hastig vor, um ihr die Tür zu öffnen. Auch mein Herr Apotheker erhebt sich von seinem Sitze, um sich von der Vorbeischwebenden respektvollst zu empfehlen. Sie dankt mit souveräner Freundlichkeit – Donnerwetter, was für samtene, rehbraune Augen! – und ich kann kaum erwarten, bis sie, überzuckert von vielen Komplimenten, den Laden verlassen hat, um neugierigst meinen Partner nach diesem Hecht im Karpfenteich zu fragen.
»Ach, die kennen Sie nicht? Das ist doch die Nichte von…« – nun, ich werde ihn Herrn von Kekesfalva nennen, der Name lautete in Wirklichkeit anders – »Kekesfalva – Sie kennen doch die Kekesfalvas?«
Kekesfalva: wie eine Tausendkronennote wirft er den Namen hin und blickt mich an, als erwarte er als selbstverständliches Echo ein ehrfurchtsvolles »Ach so! Natürlich!« Aber ich frisch transferierter Leutnant, gerade erst vor ein paar Monaten in die neue Garnison geschneit, ich Ahnungsloser weiß nichts von diesem sehr geheimnisvollen Gott und bitte höflichst um weitere Erläuterung, die mir Herr Apotheker auch mit dem ganzen Wohlbehagen provinziellen Stolzes erteilt – selbstredend viel geschwätziger und ausführlicher, als ich sie hier wiedergebe.
Kekesfalva, erklärt er mir, sei der reichste Mann im ganzen Umkreis. Einfach alles gehöre ihm, nicht nur das Schloß Kekesfalva – »Sie müssen’s doch kennen, man sieht’s vom Exerzierplatz aus, links von der Chaussee das gelbe Schloß mit dem flachen Turm und dem großen, alten Park« – sondern auch die große Zuckerfabrik an der Straße nach R. und das Sägewerk in Bruck und dann in M. das Gestüt; all das gehöre ihm und dazu sechs oder sieben Häuser in Budapest und Wien. »Ja, das möchte man nicht glauben, daß es bei uns solche steinreiche Leute gibt, und zu leben weiß der wie ein richtiger Magnat. Im Winter im kleinen Wiener Palais in der Jacquingasse, den Sommer in Kurorten; hier führt er grade nur im Frühjahr ein paar Monate Haus, aber, Herrgott noch einmal, was für ein Haus! Quartette aus Wien, Champagner und französische Weine, das Erste vom Ersten, das Beste vom Besten!« Nun, wenn er mir damit gefällig sein könne, werde er mich gerne dort einführen, denn – große Geste der Genugtuung – er sei mit Herrn von Kekesfalva befreundet, habe in früheren Jahren oft geschäftlich mit ihm zu tun gehabt und wisse, daß er Offiziere immer gern bei sich sehe; nur ein Wort koste es ihn, und ich sei eingeladen.
Nun, warum nicht? Man erstickt ja in dem mulmigen Krebsteich einer solchen Provinzgarnison. Man kennt vom Sehen schon alle Frauen auf dem Korso und von jeder den Sommerhut und den Winterhut und das noble und das gewöhnliche Kleid, es bleibt immer dasselbe. Und den Hund kennt man und das Dienstmädchen und die Kinder vom Anschauen und Wegschauen. Man kennt alle Künste der dicken böhmischen Köchin im Kasino, und der Gaumen wird einem allmählich flau beim Anblick der ewig gleichen Speisekarte im Gasthaus. Man kennt jeden Namen, jedes Schild, jedes Plakat in jeder Gasse auswendig und jedes Geschäft in jedem Haus und in jedem Geschäft jede Auslage. Man weiß schon beinahe so exakt wie der Oberkellner Eugen, um welche Stunde der Herr Bezirksrichter im Kaffeehaus erscheint und daß er an der Fensterecke links Platz nehmen wird und Schlag vier Uhr dreißig eine Melange bestellt, während der Herr Notar wiederum genau zehn Minuten später kommt, vier Uhr vierzig, und dafür – holde Abwechslung – wegen seines schwachen Magens ein Glas Tee mit Zitrone trinkt und zur ewig gleichen Virginia dieselben Witze erzählt. Ach, man kennt alle Gesichter, alle Uniformen, alle Pferde, alle Kutscher, alle Bettler im ganzen Umkreis, man kennt sich selber zum Überdruß. Warum nicht einmal aus der Tretmühle ausbrechen? Und dann, dieses hübsche Mädel, diese rehbraunen Augen! Ich erkläre also meinem Gönner mit gespielter Gleichgültigkeit (nur sich nicht zu happig zeigen vor dem eitlen Pillendreher!), gewiß, es würde mir ein Vergnügen sein, die Bekanntschaft der Familie Kekesfalva zu machen.
Tatsächlich – siehe da, der wackere Apotheker hat nicht geflunkert! – schon zwei Tage später bringt er mir, ganz aufgeplustert vor Stolz, mit gönnerischer Gebärde eine gedruckte Karte ins Kaffeehaus, in die mein Name kalligraphisch eingefügt ist, und diese Einladungskarte besagt, daß Herr Lajos von Kekesfalva Herrn Leutnant Anton Hofmiller für Mittwoch nächster Woche acht Uhr abends zum Diner bitte. Gott sei Dank, auch unsereiner ist nicht auf der Brennsuppe hergeschwommen und weiß, wie man sich in solchem Falle benimmt. Gleich Sonntag vormittag haue ich mich in meine beste Kluft, weiße Handschuhe und Lackschuhe, unerbittlich rasiert, einen Tropfen Eau de Cologne in den Schnurrbart, und fahre hinaus, Antrittsbesuch zu machen. Der Diener – alt, diskret, gute Livree – nimmt meine Karte und murmelt entschuldigend, die Herrschaften würden auf das höchste bedauern, Herrn Leutnant versäumt zu haben, aber sie seien in der Kirche. Um so besser, denke ich mir, Antrittsvisiten sind immer das Grausigste im Dienst und außer Dienst. Jedenfalls, ich habe meine Pflicht getan. Mittwoch abend gehst du hin und hoffentlich wird’s nett. Erledigt, denke ich, Angelegenheit Kekesfalva bis Mittwoch. Aber redlich erfreut finde ich zwei Tage später, Dienstag also, eine eingebogene Visitenkarte von Herrn von Kekesfalva in meiner Bude abgegeben. Tadellos, denke ich mir, die Leute haben Manieren. Gleich zwei Tage nach der Antrittsvisite mir, dem kleinen Offizier, einen Gegenbesuch – mehr Höflichkeit und Respekt kann ein General sich nicht wünschen. Und mit einem wirklich guten Vorgefühl freue ich mich jetzt auf den Mittwochabend.
Aber gleich anfangs fährt ein Schabernack dazwischen – man sollte eigentlich abergläubisch sein und auf kleine Zeichen mehr achten. Mittwoch halb acht Uhr abends, ich bin schon fix und fertig, die beste Uniform, neue Handschuhe, Lackschuhe, die Hose scharf wie eine Rasierschneide gebügelt, und mein Bursche legt mir gerade noch die Falten des Mantels zurecht und revidiert, ob alles klappt (ich brauche immer meinen Burschen dazu, denn ich habe nur einen kleinen Handspiegel in meiner schlecht beleuchteten Bude), da poltert’s an die Tür: eine Ordonnanz. Der Offizier vom Dienst, mein Freund, der Rittmeister Graf Steinhübel, läßt mich bitten, ich solle zu ihm hinüber in den Mannschaftsraum. Zwei Ulanen, sternhagelbesoffen wahrscheinlich, haben miteinander krawalliert, schließlich hat der eine den andern mit dem Karabiner über den Kopf geschlagen. Und nun liegt der Tolpatsch da, blutend, ohnmächtig und mit offenem Mund. Man weiß nicht, ob sein Schädel überhaupt noch ganz ist oder nicht. Der Regimentsarzt aber ist auf Urlaub nach Wien abgeschwommen, der Oberst nicht zu finden; so hat in seiner Not der gute Steinhübel, verflucht, gerade mich herangetrommelt, daß ich ihm beispringe, indes er sich um den Blutenden bemüht, und ich muß jetzt Protokoll aufnehmen und nach allen Seiten Ordonnanzen schicken, damit man im Kaffeehaus oder sonstwo rasch einen Zivilarzt auftreibt. Unter all dem wird es dreiviertel acht. Ich sehe schon, vor einer Viertel-oder einer halben Stunde kann ich keinesfalls loskommen. Verdammt, justament heute muß eine solche Sauerei passieren, justament heute, wo ich eingeladen bin! Immer ungeduldiger sehe ich auf die Uhr; unmöglich pünktlich zurechtzukommen, wenn ich hier auch nur noch fünf Minuten herummurksen muß. Aber Dienst, so ist’s uns ja bis in die Knochen gebleut, geht über jede private Verpflichtung. Ich darf nicht auskneifen, so tue ich das einzig Mögliche in dieser vertrackten Situation – das heißt, ich schicke meinen Burschen mit einem Fiaker (vier Kronen kostet mich der Spaß) zu den Kekesfalva hinaus, ich ließe um Entschuldigung bitten, falls ich mich verspäten sollte, aber ein unvermuteter dienstlicher Vorfall, und so weiter und so weiter. Glücklicherweise dauert der Rummel in der Kaserne nicht allzu lange, denn der Oberst erscheint in Person mit einem rasch aufgefundenen Arzt, und nun darf ich mich unauffällig drücken.