Kitabı oku: «Die Chiemsee Elfen»

Yazı tipi:

Yvon­ne Eli­sa­beth Rei­ter

Die Chiem­see El­fen


1. Auf­la­ge 2020

Co­py­right ©2020 Yvon­ne Eli­sa­beth Rei­ter

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E-Book Kon­ver­tie­rung: Con­stan­ze Kra­mer, co­ver­bou­tique.de



Der Stein des Orisolus

»Bit­te, bit­te, Se­anair«, bet­tel­te Ni­mue und zog wild an dem Rock­zip­fel ih­res Groß­va­ters. Mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen starr­te sie ihn an und be­merk­te, dass sich nun end­lich sei­ne Ge­sichts­zü­ge ent­spann­ten. Sie wuss­te ge­nau, war­um dies ge­sch­ah; es war das Wort Se­anair. Es be­deu­tet auf Gä­lisch Groß­va­ter, die Spra­che ih­rer Ah­nen. Wenn Ni­mue im Ge­gen­satz zu ih­rem Groß­va­ter et­was un­be­dingt woll­te, sprach sie ein paar Wor­te in Gä­lisch und schon be­kam sie bei­na­he je­den Wunsch er­füllt.

»Bit­te, Se­anair, er­zähl mir von mei­nen Vor­fah­ren und ih­rer al­ten Hei­mat«, be­kräf­tig­te sie noch ein­mal ihre Bit­te.

Ihr Groß­va­ter nahm lang­sam in ei­nem ex­tra gro­ßen Oh­ren­ses­sel Platz. Er hol­te tief Luft.

»Nun gut, mei­ne Klei­ne, dann pass auf«, er­wi­der­te Aar und sank da­bei tief in den pur­pur­ro­ten, samt­wei­chen Stuhl.

Ni­mue lieb­te die­sen gro­ßen Ses­sel, in dem sie nie­mals selbst saß. Die brei­ten Arm­leh­nen so­wie auch die Füße wa­ren aus al­tem Ei­chen­holz. Er sah ma­je­stä­tisch aus und trotz­dem ge­müt­lich. Sie setz­te sich auf den Bo­den und lehn­te ih­ren Kopf an die Bei­ne ih­res Groß­va­ters. Da­bei blick­te sie auf das pras­seln­de Feu­er im Ka­min, das den Raum mit ei­nem sanf­ten oran­ge-gel­ben Licht er­hell­te.

Aar leg­te sei­ne Hand auf ih­ren Kopf und strei­chel­te sanft über ihr Haar. Da be­gann er mit wei­cher Stim­me zu er­zäh­len: »Dei­ne Vor­fah­ren stam­men aus dem schot­ti­schen Hoch­land, wel­ches in Gä­lisch A‘Ghàid­he­al­tachd ge­nannt wird. Im Wald, am Rand des klei­nen Dörf­chens Crid­he, wuch­sen sie auf. Der Ort war be­son­ders schön ge­le­gen, di­rekt an ei­ner Steil­küs­te der Nord­see.«

Ni­mue ver­such­te sich in Ge­dan­ken Crid­he vor­zu­stel­len. Da­bei ent­deck­te sie Holz­häu­ser, die hoch oben auf ei­nem Fel­sen über dem Meer stan­den. Die­se wur­den schein­bar von ei­nem in die Höhe wach­sen­den, dich­ten Wald be­schützt, der nur we­ni­ge grü­ne Flä­chen frei­gab. Das sich zu Wel­len auf­bäu­men­de Was­ser der Nord­see glit­zer­te im Son­nen­licht. Mit ei­ner Wucht prall­te es ge­gen die Fel­sen und doch ließ sich das alte Ge­stein nicht da­von be­ein­dru­cken. Die Vor­stel­lung ei­ner der­ar­tig schö­nen Na­tur lös­te eine Wär­me in Ni­mue aus, die die wei­te­ren Wor­te ih­res Groß­va­ters noch tie­fer in sie sin­ken lie­ßen.

»Sie wa­ren gro­ße Ge­stal­ten mit lan­gen blon­den oder brau­nen Haa­ren und so hübsch, wie du es bist.«

Ni­mue grins­te ihn fröh­lich an und frag­te: »Sie wa­ren grö­ßer als wir, nicht wahr, Opa?«

Er nick­te. »Ja, grö­ßer als wir es heu­te sind. Auf­grund der lan­gen und be­schwer­li­chen Rei­se durch Land und Was­ser ha­ben sich un­se­re Vor­fah­ren den Um­stän­den ent­spre­chend an­ge­passt und sind da­her in ih­rer Grö­ße um meh­re­re Zen­ti­me­ter klei­ner ge­wor­den.«

Er­staunt über die­se Tat­sa­che lehn­te sie ih­ren Kopf zu­rück an sein Bein und lausch­te wei­ter sei­nen Wor­ten.

»Wäh­rend sie in der Tie­fe des Mee­res ent­lang­zo­gen, wur­de die Be­weg­lich­keit im­mer wich­ti­ger. Sie woll­ten so schnell wie mög­lich eine neue Hei­mat fin­den. Eine ge­rin­ge­re Grö­ße un­ter­stütz­te ihre Fort­be­we­gung im Was­ser. Trotz­dem dau­er­te es Hun­der­te von Jah­ren bis sie den Oze­an durch­quert hat­ten« – kurz hielt er inne und at­me­te tief ein, um die wei­te­ren Wor­te weich und sanft aus der Tie­fe sei­nes Kör­pers glei­ten zu las­sen – »vor­her je­doch, da wa­ren sie gro­ße Wal­del­fen, die über Jahr­tau­sen­de fried­lich in ih­rem Kö­nig­reich ge­lebt hat­ten. Da­mals re­gier­te Kö­nig Aar, der, wie du weißt, dein Ur-Ur-Ur­groß­va­ter war. Mei­ne Mut­ter hat mir aus ih­rer tie­fen Ver­bun­den­heit her­aus sei­nen Na­men ge­ge­ben.«

Ni­mue nick­te, ohne sei­ne Aus­sa­ge mit Wor­ten zu be­stä­ti­gen.

»Ich habe ge­hört«, schwärm­te er dar­auf­hin, »dass die Blu­men fort­wäh­rend blüh­ten, und die Bäu­me wa­ren das gan­ze Jahr über vol­ler Blät­ter. Nur die Fa­r­ben ver­ri­e­ten die je­wei­li­gen Jah­res­zei­ten. Der Früh­ling zeig­te sich hell- bis sma­ragd­grün, der Som­mer ver­misch­te das Grün mit Gelb und Oran­ge, der Herbst färb­te es braun ein und der Win­ter ver­wan­del­te die Blät­ter lang­sam wie­der zu ei­nem strah­len­den Grün.«

»Oh, wie schön, Opa.«

»Ja, das war es«, stimm­te er Ni­mue zu. Da än­der­te sich sei­ne Ton­la­ge, die nun einen Ernst und eine Trau­rig­keit ent­hielt und da­mit sei­ne nächs­ten Wor­te mit ih­rer Schick­sals­schwe­re un­ter­strich: »Bis die Dun­kelel­fen ka­men und un­ser Volk ver­trie­ben.«

»War­um ha­ben sie das ge­tan?«

»Der Kampf um Macht und Herr­schaft trieb sie an. Weißt du, wer die Dun­kelel­fen sind?«

Ni­mue hat­te na­tür­lich be­reits über die­se We­sen et­was ge­hört, den­noch woll­te sie ihr Ge­dächt­nis auf­fri­schen. Sie schüt­tel­te ih­ren Kopf, um ihre Un­wis­sen­heit an­zu­deu­ten.

»Die Dun­kelel­fen sind vom glei­chen Urel­fen­stamm, wie wir es sind, und so sind wir Schwes­tern und Brü­der. Die Ge­burt un­se­rer Ur­vä­ter hat ein Gleich­ge­wicht auf der Erde ge­schaf­fen, in­dem das Uni­ver­sum dem Gu­ten und dem Bö­sen als Zwil­lings­paar zu glei­chen Tei­len das Le­ben schenk­te. Wir ge­hö­ren zu den Lich­tel­fen, wie du weißt. Den­noch sind die Dun­kelel­fen mit uns ver­wandt. Ihre We­sen­heit ist je­doch grund­ver­schie­den. Sie sind hin­ter­häl­tig und böse. Ich kann dir ra­ten, ih­nen im­mer aus dem Weg zu ge­hen. Lass dich nie­mals von ih­nen täu­schen« – sei­ne Stim­me wur­de aus­drucks­voll tief – »denn auf den ers­ten Blick wir­ken sie ge­win­nend und freund­lich. Man merkt ih­nen ihre wah­ren Ab­sich­ten nicht so­fort an.«

Ni­mue spür­te, wie sich ein ei­gen­ar­ti­ges, un­an­ge­neh­mes Ge­fühl in ih­rer Brust aus­brei­te­te.

»Wie kann ich wis­sen, ob eine Elfe eine Licht- oder eine Dun­kelel­fe ist?«, wun­der­te sie sich.

Er lä­chel­te sie lie­be­voll an und strich ihr da­bei sanft übers Haar.

»Du brauchst kei­ne Angst zu ha­ben. Ver­traue dei­nem in­ne­ren Ge­fühl und es wird dir nichts pas­sie­ren. Die Men­schen nen­nen es In­tu­i­ti­on. Sie wird dich im­mer gut und si­cher lei­ten.«

Ni­mue war nicht ge­ra­de zu­frie­den mit die­ser Ant­wort. Was soll­te das hei­ßen: in­ne­res Ge­fühl? Und wie konn­te sie die­ses ak­ti­vie­ren? Sie be­schloss, erst sei­nen Wor­ten wei­ter zu lau­schen und dann spä­ter noch ein­mal dar­auf zu­rück­zu­kom­men.

»Nach­dem sie Crid­he ver­las­sen ha­ben, wan­der­ten sie öst­lich der Küs­te ent­lang nach Eng­land. Weißt du, was Crid­he be­deu­tet?«

Sie schüt­tel­te ih­ren Kopf, so­dass ihr lan­ges Haar leicht im Wind weh­te.

»Crid­he ge­hört der Spra­che dei­ner Vor­fah­ren an und heißt über­setzt: das Herz. Es be­zeich­net auch den Ur­sprung, also den Kern ei­ner Sa­che, und trägt in sich die Fä­hig­keit, mu­tig zu sein. Als Dorf­na­me ver­kör­per­te es das Herz des Vol­kes, das in die­sem Ort ge­mein­sam leb­te, also das Ge­mein­schafts­herz des El­fen­stam­mes Shen­ja. Alle dort le­ben­den El­fen wa­ren gute We­sen. Die­se po­si­ti­ve Ener­gie ließ das Ge­mein­schafts­herz stark und kräf­tig schla­gen.«

Ein Mo­ment der Stil­le trat ein, in der Aar nach­denk­lich wirk­te. »In die­sem Dorf leb­ten nicht nur El­fen, son­dern auch Men­schen. Der klei­ne Bru­der von Kö­nig Aar ver­lieb­te sich in ein Men­schen­mäd­chen und hei­ra­te­te sie. Ihr Name war Jo­se­phi­ne und bei­de leb­ten im Kö­nigs­schloss. Sie wa­ren ein glü­ck­li­ches Paar, das am Tage ih­rer Hoch­zeit in eine präch­ti­ge Zu­kunft blick­te. Die­ses Schick­sal soll­te sich je­doch wen­den und so muss­ten sie mit ih­rem Volk flie­hen, um ihr Le­ben zu ret­ten. Auf der Rei­se ge­bar Jo­se­phi­ne zwei ge­sun­de Kin­der, die sie an der Küs­te von Corn­wall mit ih­rem Mann wei­ter durchs Was­ser zie­hen ließ.«

»War­um hat sie das ge­tan? Hat­te sie ihre Kin­der nicht lieb, Opa?«

Aar schüt­tel­te leicht den Kopf und mein­te: »Nein, nein, das war nicht der Grund. Ganz im Ge­gen­teil. Es war viel zu ge­fähr­lich, die Kin­der zu­rück­zu­las­sen, und so gab Jo­se­phi­ne sie frei, um sie zu schüt­zen.«

»Wie meinst du das?«

»Um durch das Was­ser zie­hen zu kön­nen, brauch­te sie die fein­stoff­li­che Hül­le ei­ner El­fen­haut. Als Mensch war es ihr nicht mög­lich, sich der schwie­ri­gen Um­ge­bung an­zu­pas­sen so­wie so lan­ge un­ter Was­ser zu blei­ben. Durch die Schwan­ger­schaf­ten mit El­fen­kin­dern hat­te sich ihre Haut be­reits ver­wan­delt, den­noch nicht ge­nug, um die Rei­se zu über­ste­hen.«

Sei­ne Wor­te ver­stumm­ten, so­dass Ni­mue auf­sah und in sein nach­denk­li­ches Ge­sicht blick­te.

»Viel­leicht«, sag­te er hoff­nungs­voll und strich mit sei­nem Zei­ge­fin­ger über ihre Nase, »ist sie noch am Le­ben. Durch die Schwan­ger­schaf­ten hat sie vie­le Fä­hig­kei­ten und Ei­gen­schaf­ten der El­fen über­nom­men. Die Men­schen re­a­gie­ren al­ler­dings sehr in­di­vi­du­ell dar­auf.«

Da be­schleu­nig­te sich Ni­mu­es Herz­schlag und sie frag­te auf­ge­regt: »Wo könn­te Jo­se­phi­ne jetzt sein? Soll­ten wir sie nicht su­chen? Sie ge­hört doch zur Fa­mi­lie.«

»Ja, das tut sie. Trotz­dem ist es sehr un­wahr­schein­lich, dass sie noch lebt. Ihr Ehe­mann hat die Hoff­nung bis zu sei­nem letz­ten Atem­zug nicht auf­ge­ge­ben. Er hat mit al­len Mit­teln ver­sucht, sie zu fin­den; ver­ge­bens. Man glaubt, dass die Dun­kelel­fen sie ge­tö­tet ha­ben.«

Ni­mue lief bei die­sem Ge­dan­ken ein kal­ter Schau­er über den Rü­cken.

Aar be­merk­te dies und er­wähn­te so­gleich: »Weißt du, dass sie da­mals die Grup­pen­see­le un­se­res Vol­kes ganz schön durch­ein­an­der­ge­bracht hat?«

»Grup­pen­see­le?«

»Ja. Ein Volk hat nicht nur ein ge­mein­sam schla­gen­des Herz, son­dern auch eine See­le. Die­se wird bei El­fen so­wie bei Men­schen durch Emo­ti­o­nen be­rührt, und Jo­se­phi­ne war ein sehr emo­ti­o­na­ler Mensch. Da­her be­ein­fluss­te sie die Grup­pen­see­le über­aus stark und das be­weg­te das gan­ze Kö­nig­reich. Wenn sie wein­te, fühl­te je­der ihre Trau­rig­keit und um­ge­kehrt, wenn sie lach­te, ihre Fröh­lich­keit. Ihr gro­ßer Ein­fluss war ei­gen­ar­tig, den­noch war er deut­lich zu spü­ren.«

Er hielt einen Mo­ment lang inne.

Ni­mue wand­te sich ihm zu und be­merk­te den lee­ren Aus­druck sei­ner Au­gen. Sie konn­te sich die­se Lee­re nur der­art er­klä­ren, dass er tief in sei­nen Ge­dan­ken ver­sun­ken war.

»Wo wa­ren wir ste­hen ge­blie­ben?«, un­ter­brach er die Stil­le, »eh, ge­nau, sie wa­ren auf der Su­che nach ei­ner neu­en Hei­mat. Ur­sprüng­lich woll­ten sie sich an der Küs­te von Corn­wall an­sie­deln, da die­se Halb­in­sel ein be­son­ders schö­ner Teil der Erde ist. Die dor­ti­gen Volks­s­täm­me je­doch mach­ten es ih­nen un­mög­lich. Sie ver­tei­dig­ten ihr Land um je­den Preis. Da un­se­re Vor­fah­ren schon im­mer ein fried­lie­ben­des Volk wa­ren, ent­schlos­sen sie sich wei­ter­zu­zie­hen und zwar nach Frank­reich. Die Ent­schei­dung über oder un­ter Was­ser zu rei­sen war ein­fach, da die Pi­ra­ten­geis­ter eine grö­ße­re Ge­fahr als die ein­zel­nen Mee­res­be­woh­ner dar­stell­ten.«

Ni­mue mein­te auf­ge­wühlt: »Da hat Jo­se­phi­ne ihre Fa­mi­lie zum letz­ten Mal ge­se­hen?«

»Ja, mei­ne Klei­ne, dort pas­sier­te es. Das Ziel war nun der an­de­re Teil von Eu­r­o­pa. Der Teil, den sie noch nicht kann­ten. Sie hat­ten von den vor­bei­zie­hen­den Vö­geln viel über des­sen Schön­heit ge­hört. Aus die­sem Grund wa­ren sie vol­ler Hoff­nung, dort ein neu­es und schö­nes Zu­hau­se zu fin­den. Es dau­er­te je­doch Hun­der­te von Jah­ren, bis sie an der fran­zö­si­schen Küs­te an­ka­men.«

»War­um dau­er­te es so lan­ge, Opa?«, frag­te Ni­mue er­staunt.

»Weil der eng­li­sche Ka­nal dicht be­sie­delt ist und die Be­woh­ner nicht ge­ra­de er­freut wa­ren, von ei­ner Her­de El­fen ge­stört zu wer­den. Es kos­te­te vie­le an­stren­gen­de Ver­hand­lun­gen mit den je­wei­li­gen Stam­mes­füh­rern, um die Er­laub­nis der Durch­rei­se zu er­hal­ten. Sie muss­ten Kom­pro­mis­se ein­ge­hen und sich den stän­di­gen Ver­än­de­run­gen der Um­ge­bung an­pas­sen. Dies al­les kos­te­te Zeit. Trotz al­le­dem ha­ben sie letzt­end­lich ihr Ziel ver­wirk­licht und für ihre Nach­fah­ren ein neu­es Reich auf­ge­baut, in dem Frie­den und Har­mo­nie herr­schen.«

»Du meinst das Reich Shen­ja und un­ser tol­les Schloss?«

Er nick­te zu­stim­mend. »Ja, das mei­ne ich. Ha­ben wir es hier nicht be­son­ders schön?«

Sie lä­chel­te ihn zu­frie­den an. »Das ha­ben wir, Opa. Aber wie sind sie den wei­ten Weg hier­her­ge­kom­men?«

»Erst ein­mal sind sie an der Küs­te in Frank­reich ge­lan­det. Frank­reich hat ih­nen sehr gut ge­fal­len, da die dor­ti­ge Le­bens­wei­se fast ei­nem Hof­ze­re­mo­ni­ell äh­nel­te. Sie ge­nos­sen das gute fran­zö­si­sche Es­sen und ihre zu­meist klas­si­sche Mu­sik. Die Men­schen fei­er­ten fröh­lich und dies auf eine so schö­ne, re­spekt­vol­le Art und Wei­se, dass sie sich ger­ne an­schlos­sen. Nach dem lan­gen Was­ser­auf­ent­halt woll­ten sie wie­der an Land le­ben und so durch­fors­te­ten sie die Wäl­der nach ei­nem Ort, an dem sie ihr Reich auf­bau­en könn­ten. Die Su­che war je­doch ver­ge­bens, denn dort leb­te be­reits eine gro­ße An­samm­lung von Men­schen. Kein Platz war mehr frei und so muss­ten sie wei­ter­zie­hen. Dar­auf­hin tra­fen sie auf ein Land na­mens Ita­li­en. Erst wa­ren sie be­geis­tert von dem gu­ten Es­sen und auch der Wein war dort be­son­ders rein und da­her für El­fen gut ver­träg­lich. Doch die Men­schen spra­chen so laut mit­ein­an­der, dass es ih­nen un­ge­müt­lich er­schien. Sie ent­schlos­sen sich, wei­ter­zu­zie­hen. Zu die­ser Zeit be­geg­ne­ten sie kurz vor ei­ner Stadt na­mens Rom freund­li­chen Wald­geist­be­woh­nern. Die­se lu­den sie ein, bei ih­nen ein­zu­keh­ren, um sich für die wei­te­re Rei­se aus­zu­ru­hen und zu stär­ken. Der Geis­ter­kö­nig nann­te sich Rory, was so viel wie ro­ter Kö­nig be­deu­te­te und rot war er auch im­mer. Ich mei­ne, er lieb­te ro­ten Wein und nach ein paar Glä­sern färb­te sich sei­ne Geis­ter­hül­le ge­nau­so rot wie die Fa­r­be des Weins. Noch heu­te hört man die Men­schen über die ei­gen­tüm­lich rote Fa­r­be spre­chen, die manch­mal über den Dä­chern von Rom wie ein Schlei­er schwebt. Kö­nig Aar er­zähl­te, dass Rory ein fre­cher, aber lie­bens­wer­ter Ge­sel­le war und oft Scha­ber­nack mit den Men­schen trieb. Da­bei hat er Kir­chen­uh­ren mehr­fach zu un­ge­wöhn­li­chen Zei­ten läu­ten las­sen oder Uh­ren ver­stellt. Am liebs­ten je­doch hat­te er die Glä­ser Fei­ern­der aus­ge­trun­ken, schnell und heim­lich. Dies ver­wirr­te vie­le Men­schen und führ­te zu un­g­lü­ck­li­chen Zei­ten, denn sie dach­ten, dass die Ver­wir­rung krank­haf­ter Na­tur sei.«

Ni­mue ver­stand nicht. »Und dann?«

»Dann gin­gen sie in Hos­pi­tä­ler und lie­ßen ihre schwe­re Er­kran­kung be­han­deln.«

Aar lach­te laut­stark, was Ni­mue auch zum La­chen brach­te. Trotz­dem hat­te sie kei­ne Ah­nung, was dar­an so lus­tig war.

Nach ei­ni­gen Freu­den­trä­nen wur­de er wie­der ernst und er­zähl­te sei­ne Ge­schich­te wei­ter: »Der rote Kö­nig sprach oft und viel mit Kö­nig Aar. Ei­nes Ta­ges er­klär­te er mei­nem Ur­groß­va­ter, wie sehr er hoff­te, dass un­ser Volk eine schö­ne Hei­mat fin­den wür­de. Dort, wo gu­ter Wein wächst und die Men­schen ger­ne fei­ern. Dort, wo das Reich der Geis­ter und El­fen Früch­te trägt und das Dunk­le kei­nen Zu­gang hat.« Da klopf­te er sanft auf Ni­mu­es Kopf und er­klär­te: »Üb­ri­gens, Kö­nig Aar war da­mals schon sehr alt. Er hat­te das üb­li­che El­fe­n­al­ter schon weit über­schrit­ten. Al­ler­dings wuss­te er, dass er sich erst auf­lö­sen kann, wenn sich sein Volk in Si­cher­heit an ei­nem schö­nen Platz an­ge­sie­delt hat. Er war wild ent­schlos­sen, eine neue Hei­mat für sein Volk zu fin­den, und so in­for­mier­te er sich über die nächst­lie­gend an­gren­zen­den Län­der zu Ita­li­en. Bei ei­nem sei­ner all­abend­li­chen Ge­sprä­che mit Rory er­zähl­te ihm die­ser von Bay­ern. Der rote Kö­nig selbst war noch nie dort ge­we­sen, al­ler­dings hör­te er von Vor­bei­rei­sen­den im­mer nur Gu­tes dar­über. Zu­dem lie­fen die Han­dels­ge­schäf­te zwi­schen Ita­li­en und Bay­ern be­son­ders in­ten­siv, und so kann­te der Geis­ter­kö­nig einen Han­dels­weg zu Lan­de, der von Ve­ne­dig über Inns­bruck nach Bay­ern führ­te. Auf die­sem Pfad konn­ten sie es nicht ver­feh­len, so war er sich si­cher. Aus ei­nem mir un­be­kann­ten Grund je­doch ka­men sie in Ös­ter­reich vom Weg ab und über­quer­ten die Al­pen der­art, dass sie di­rekt am Fuße des Chiem­sees die baye­ri­sche Vor­al­pen­land­schaft be­tra­ten, und da pas­sier­te es.«

»Was, Opa, was pas­sier­te da?«, rief Ni­mue auf­ge­regt.

»Kö­nig Aar traf auf den Ur-Ur-Ur­groß­va­ter dei­nes Freun­des Hub­si.«

»Oh, und dann?«

»Dann hat die­ser mit dei­nem Ur-Ur-Ur­groß­va­ter Aar Freund­schaft ge­schlos­sen und ihm den frei­en Raum am Bo­den des Sees an­ge­bo­ten. Erst woll­te er sein Volk nicht im Was­ser an­sie­deln, da wir ja ur­sprüng­lich ein Wald­volk wa­ren. Des­halb bist du nicht nur eine See-, son­dern auch eine Wal­del­fe.« Er stups­te mit sei­nem rech­ten Zei­ge­fin­ger auf ihre Nase. »Nach vie­len Ge­sprä­chen und Be­sich­ti­gun­gen der Ge­gend ent­schied er sich den­noch für das Land Bay­ern und das Le­ben hier. Der Schutz, den das Was­ser zwi­schen un­se­rem Reich und der Was­ser­o­ber­flä­che mit sich brach­te, über­zeug­te ihn au­ßer­dem von ei­nem Le­ben am Bo­den des Chiem­sees. Dar­auf­hin ha­l­fen alle zu­sam­men. Die Was­ser­geis­ter, eine Troll­fa­mi­lie, die oben auf der Frauen­in­sel leb­te, und vie­le an­de­re Licht­we­sen bau­ten ge­mein­sam un­ser Kö­nig­reich Shen­ja auf. Nach ein paar Mo­na­ten war es fer­tig und alle über­le­ben­den Wald- und See­el­fen konn­ten ein­zie­hen. Da­mals wa­ren es nur noch 123 El­fen, samt dem Heer.«

»So we­ni­ge, Opa«, wun­der­te sie sich. »Was pas­sier­te da­nach mit un­se­rem Kö­nig?«

»Als al­les fer­tig auf­ge­baut und das gro­ße Ein­wei­hungs­fest in vol­lem Gan­ge war, rief er sei­ne äl­tes­te Toch­ter Cara, sei­nen ers­ten Sohn Tad­gh, sei­nen zwei­ten Sohn Oi­sin und sei­ne jüngs­te Toch­ter Anna zu sich. Die Kö­ni­gin versta­rb wäh­rend der an­stren­gen­den Rei­se und so war die engs­te Fa­mi­lie voll­stän­dig. Er er­klär­te, dass Tad­gh, mein Groß­va­ter, sein Nach­fol­ger wer­den soll­te. Zu­dem mein­te er, dass es nun an der Zeit sein wür­de, zu ge­hen, um Platz für neue We­sen sei­ner Art, also Nach­kom­men, zu schaf­fen.«

»War­um, Opa? War­um kön­nen wir hier nicht ein­fach alle zu­sam­men wei­ter­le­ben?«

»Weil der Raum zu eng wird, die Ener­gi­en zu dicht und wie auch bei den Men­schen ir­gend­wann der Platz aus­ge­hen wür­de. Je en­ger der Le­bens­raum, umso mehr Rei­be­rei­en ent­ste­hen und das er­schwert je­des Le­ben. Je­des We­sen braucht sei­nen na­tür­li­chen Be­reich, um frei und kre­a­tiv exis­tie­ren zu kön­nen. Zu­dem wird die Wei­ter­ent­wick­lung ge­för­dert, da Al­tes durch Neu­es er­setzt wird, auch wenn es uns schwer­fällt, das Alte los­zu­las­sen. Un­se­re See­len sind je­doch im­mer mit­ein­an­der ver­bun­den, auch wenn wir kei­ne Kör­per mehr mit un­se­ren El­fe­n­au­gen se­hen kön­nen.«

»Ja, Opa, das weiß ich«, ant­wor­te­te Ni­mue er­leich­tert über die­ses Be­wusst­sein. Trotz­dem woll­te sie an eine der­ar­ti­ge Ver­än­de­rung in ih­rer Fa­mi­lie noch nicht den­ken, denn ihr Ur­groß­va­ter war be­reits 999 El­fen­jah­re alt, und was das zu be­deu­ten hat­te, war ihr klar. Ir­gend­wann wür­de auch er sie ver­las­sen.

»Was hat Kö­nig Aar dann ge­macht?«, frag­te sie neu­gie­rig.

»Er hat al­len sei­ne Lie­be ver­si­chert und auch ei­nes je­den zu­künf­ti­ge Auf­ga­ben er­läu­tert. Dann küss­te er die Wan­gen sei­ner Kin­der, dreh­te sich um und ver­schwand hin­ter der di­cken Ei­chen­tür. Der da vor­ne!« Er zeig­te auf die nächst­lie­gen­de Tür ge­gen­über dem Oh­ren­ses­sel. »Sei­ne Kin­der hör­ten ihn kurz dar­auf die knar­ren­de Holz­trep­pe zum Süd­turm hin­auf­ge­hen. Da­nach wur­de er nie mehr ge­se­hen.«

Ni­mue stell­te sich den Süd­turm bild­lich vor. Sie dach­te an die obers­te Kam­mer, ihr Lieb­lings­zim­mer, in dem sie mit ih­ren Ge­schwis­tern schon oft ge­spielt hat­te. An die­sem Ort muss­te sei­ne El­fen­see­le sei­nen Kör­per ver­las­sen ha­ben. Kein an­de­rer Raum kam da­für in­fra­ge.

Da er­klan­gen die Wor­te ei­ner wei­chen, den­noch durch­drin­gen­den Frau­en­stim­me: »Aar, wo bleibst du nur?«

Es war ihre Groß­mut­ter Oona, die be­reits seit vier El­fen­stun­den auf ih­ren Mann war­te­te, der ihr im Ge­wächs­haus bei der Pfle­ge der Pflan­zen hel­fen soll­te.

Oona stamm­te aus dem El­fen­reich Lara. Die­ser El­fen­stamm leb­te und lieb­te die Ein­sam­keit im Schut­ze ei­nes Zau­ber­wal­des, wel­che sie nach ih­rer Hoch­zeit kom­plett auf­ge­ben muss­te. Trotz­dem fühl­te sie sich im Reich Shen­ja sehr wohl. Dies er­klär­te sie sich aus den Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten ih­res Va­ters, der von ei­ner be­son­ders wil­den und aus Feu­er be­ste­hen­den El­fen­fa­mi­lie ab­stamm­te. Er litt sehr un­ter der Zu­rück­ge­zo­gen­heit und Stil­le des Fa­mi­li­en­stam­mes sei­ner Frau und doch ver­zich­te­te er auf sei­ne Lei­den­schaf­ten aus Lie­be zu ihr. Sein El­fen­stamm moch­te, ge­nau­so wie der El­fen­stamm Shen­ja, die Mu­sik, das Es­sen und das Tan­zen. Bei­de glaub­ten an den be­son­de­ren Zau­ber der fei­er­li­chen Ma­gie und die vie­len klei­nen Ge­schen­ke dar­in. So ver­kör­per­te Oona in ih­rer neu­en Hei­mat aus ih­rer Na­tür­lich­keit her­aus das ge­erb­te Feu­er ih­res Va­ters. Oo­nas Mut­ter da­ge­gen wies eine Be­son­der­heit auf. Ihr Volk war ur­sprüng­lich ein Feen­volk und hat­te nur we­ni­ge El­fe­n­an­tei­le, auch wenn an der Spit­ze ih­res Stamm­bau­mes eine Elfe stand. Sie war eine sehr licht­vol­le Fee. Ihr Cha­rak­ter zeich­ne­te sich durch Lie­bens­wür­dig­keit und eine Art kind­li­cher Ver­spielt­heit aus. Die­se Ei­gen­schaf­ten hat­te auch Oona, wel­che Ni­mu­es Groß­va­ter sehr an sei­ner Frau lieb­te.

Oona hat­te hell­blaue Au­gen und wei­ße lan­ge Haa­re, die sie ge­floch­ten oder in ei­nem Dutt trug. Sie glich op­tisch den schot­ti­schen El­fen, al­ler­dings mit nur an­ge­haucht spit­zen Oh­ren. Ihr Ge­sicht glich ei­nem har­mo­ni­schen Kunst­werk, das durch schö­ne, gleich­mä­ßi­ge Ge­sichts­zü­ge be­son­ders hübsch aus­sah. Sie war groß, ein paar Zen­ti­me­ter grö­ßer als ihr Ehe­mann.

Nachts schwamm sie oft an die Was­ser­o­ber­flä­che und setz­te sich ans Ufer der Frauen­in­sel, um dort die At­mo­sphä­re zu ge­ni­e­ßen. Die Men­schen konn­ten dann im Mond­licht ein Glit­zern und Fun­keln am Was­se­ru­fer be­ob­ach­ten, denn ihre Schön­heit durch­brach den ma­gi­schen Schlei­er zwi­schen den Wel­ten, auch wenn sie sich ih­rer Um­ge­bung nicht zeig­te. Tat sie es den­noch, konn­te sie durch ihre Er­schei­nung Paa­re zu­sam­men­füh­ren und Ver­ei­ni­gun­gen al­ler Art mit Glück be­schen­ken. Auch die­se Ei­gen­schaf­ten lieb­te ihr Ehe­mann an ihr.

»Komm ja schon, Oona«, er­wi­der­te Aar, wor­auf Ni­mue zur Sei­te rück­te, um Aar Platz zu ma­chen. Kurz dar­auf ver­schwand er hin­ter der gro­ßen Ein­gangs­tür mit den Wor­ten: »Bis bald, mei­ne Klei­ne.«

Ru­hig und ge­dan­ken­ver­lo­ren saß sie nun al­lein im Ka­min­zim­mer. Sie dach­te an Oona und an die vie­len Er­zäh­lun­gen ih­rer Cou­si­ne Cara, die von ih­rer ge­mein­sa­men Oma spra­chen.

Cara leb­te seit ih­rer Ge­burt auf ei­ner klei­nen Zau­be­r­in­sel, nahe an der Frauen­in­sel ge­le­gen. Ihre El­tern woll­ten nicht im Was­ser le­ben. Des­halb hat­ten sie sich dort in ei­ner Höh­le an ei­nem Hü­gel an­ge­sie­delt. Ihre Nach­barn wa­ren vie­le ver­schie­de­ne We­sen, wie Wich­tel, Ko­bol­de, eine Fa­mi­lie der Wald­schra­te und klei­ne an­de­re We­sen, die sich mit ih­ren Fa­mi­li­en vor Tau­sen­den von Jah­ren dort an­ge­sie­delt hat­ten.

Ni­mue hat Cara oft be­sucht. Da­bei hat­te Cara ihr von Oo­nas Er­schei­nun­gen und ih­ren Aus­wir­kun­gen auf Men­schen er­zählt. Auf dem Land sprach man viel über die­se un­ge­wöhn­li­che Frau, die aus dem Nichts er­schien und wie­der dar­in ver­schwand. Da sie im­mer nur Gu­tes be­wirk­te, hat­te man kei­ne Angst vor ihr und so wur­de sie über die Jah­re hin­weg zu ei­ner Le­gen­de.

Ni­mue lä­chel­te stolz, als sie mur­mel­te: »Das ist mei­ne Oma.«

Da fiel ihr die so­eben er­zähl­te Ge­schich­te wie­der ein und sie staun­te in Ge­dan­ken: »Was ha­ben mei­ne Vor­fah­ren nur al­les er­lebt? Die gan­ze Welt ha­ben sie ge­se­hen. Ich möch­te auch so ger­ne die Welt er­kun­den und all die Aben­teu­er er­le­ben, die dar­in ste­cken.«

Sie dach­te da­bei an das le­cke­re Es­sen in Ita­li­en, die ge­ho­be­ne Le­bens­phi­lo­so­phie der Fran­zo­sen, an die schot­ti­sche Hei­mat ih­rer Vor­fah­ren und wie schön es wäre, die­se ste­tig blü­hen­de Na­tur ein­mal zu se­hen. Doch dann er­in­ner­te sie sich an die Dun­kelel­fen und ihre zer­stö­re­ri­sche Macht. So­gleich über­fiel sie ein kal­ter Schau­er und über­schat­te­te ihre freu­di­ge Auf­re­gung. Sie setz­te sich zum Ka­min und streck­te ihre Hän­de über das Feu­er. Die­ses wärm­te nicht nur ih­ren Kör­per, son­dern ver­trieb auch ihre Ängs­te.

»Sláin­te!«, hör­te Ni­mue ih­ren Ur­groß­va­ter Seo­ras im gro­ßen Ta­fel­saal ru­fen, wäh­rend sie den Ar­ka­den­gang ent­lang dar­auf zu ging. Da­nach klan­gen vie­le Stim­men im Raum durch­ein­an­der. Ni­mue nahm es als einen woh­lein­ge­stimm­ten Ge­sang wahr. Dar­auf­hin pros­te­ten sich die an­we­sen­den El­fen zu und er­öff­ne­ten da­mit das Fes­tes­sen.

Dies war ein abend­li­ches Ri­tu­al, wel­ches stets vom Kö­nig selbst, Ni­mu­es Ur­groß­va­ter, er­öff­net wur­de. Nicht an je­dem Abend pfleg­ten sie die­ses Ri­tu­al, son­dern haupt­säch­lich an den un­ge­ra­den Ta­gen. Der Sinn dar­in lag nicht al­lein im Ver­zehr von Nah­rung, son­dern der Eh­rung des Ge­mein­schafts­geis­tes. Und so soll­ten an die­sen Aben­den so vie­le Wald- und See­el­fen wie mög­lich zu­sam­men­kom­men, um ihre Ge­mein­schaft zu fei­ern.

Ni­mue kam an die­sem Abend zu spät, da sie nicht auf­hö­ren konn­te, ih­rer Fan­ta­sie frei­en Lauf zu las­sen und ge­dank­lich durch auf­re­gen­de Pfa­de in Rich­tung Schott­land zu rei­sen. Lang­sam schlich sie sich in den Saal hin­ein, in dem sich be­reits vie­le Schloss­be­woh­ner tum­mel­ten. Dort hör­te sie Stim­men durch­ein­an­der­spre­chen, hie und da eine Elfe laut la­chen, Be­cher auf­ein­an­der fal­len und Mu­sik, die im Hin­ter­grund eine fest­li­che Stim­mung ver­brei­te­te. Es dau­er­te nicht lan­ge und sie er­reich­te ih­ren Platz am Haupt­tisch, an dem auch der Kö­nig saß. Denn Ni­mue war eine di­rek­te Nach­kom­min des der­zei­ti­gen Kö­nigs Seo­ras. Dar­über hin­aus mun­kel­te man be­reits, dass ihr Groß­va­ter Aar bald den Thron be­stei­gen wür­de. Da­nach – und da be­stand Ei­nig­keit un­ter al­len El­fen – soll­te sie die ers­te Kö­ni­gin des Rei­ches Shen­ja wer­den. Sie war noch sehr jung mit ih­ren 129 Jah­ren und muss­te bis da­hin noch viel ler­nen, und doch schien sich das Reich be­reits dar­auf ein­zu­stel­len. Sie selbst war sich als jüngs­te von vier Töch­tern dar­über nicht im Kla­ren. Es war un­üb­lich, dass die Jüngs­te auf den Thron nach­fol­gen soll­te, und dann wa­ren da ja noch die Söh­ne von Ni­mu­es Tan­ten und On­keln. Da es im Reich Shen­ja noch nie eine Kö­ni­gin ge­ge­ben hat­te, lag es nahe, dass nach Aar ei­ner von ih­nen das Kö­nig­reich über­neh­men soll­te.

Ni­mue mach­te sich über eine Re­gent­schaft kei­ne Ge­dan­ken. Sie lieb­te das Le­ben und hat­te einen auf­ge­weck­ten, eher wil­den Cha­rak­ter. Ihre Gro­ß­el­tern nann­ten sie oft Rao’ra, was für den Ti­ger und des­sen Wild­heit stand. Zu­dem un­ter­schie­den sich Ni­mu­es Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten von de­nen ih­rer Ge­schwis­ter, Cou­si­nen und Cous­ins. Sie war aben­teu­er­lus­tig, wiss­be­gie­rig und konn­te nicht lan­ge still­hal­ten. Sie lieb­te die Na­tur und die Tie­re und lern­te schnell, die Fä­hig­kei­ten ih­res El­fen­stam­mes best­mög­lich zu nut­zen. Und das wa­ren so ei­ni­ge, denn die El­fen aus dem Reich Shen­ja wa­ren in der Lage, ih­ren fest­stoff­li­chen Kör­per in einen fein­stoff­li­chen um­zu­wan­deln, so­dass die Men­schen sie nicht se­hen konn­ten. Dazu hat­te die­ser El­fen­stamm be­son­ders ge­schärf­te Sin­ne, wie un­ter an­de­rem Hell­hö­rig­keit. Wenn sie woll­ten, konn­ten sie selbst von der tiefs­ten Stel­le des Sees die Men­schen am See­u­fer spre­chen hö­ren. Au­ßer­dem wa­ren sie in der Lage, Ge­rü­che stark wahr­zu­neh­men. Egal, ob an Land oder in der Tie­fe des Sees, sie konn­ten auf meh­re­re Ki­lo­me­ter Ein­zel­hei­ten ei­nes Ge­ru­ches be­stim­men. Dann wa­ren da noch ihre spe­zi­el­len Au­gen. Ge­schärft wie ein Pfeil konn­ten sie über Mei­len hin­weg se­hen und da­bei Klei­nig­kei­ten ex­akt de­fi­nie­ren; und dies bei Tag und bei Nacht, im Was­ser oder an Land. Sie wa­ren in je­der Hin­sicht an­pas­sungs­fä­hig und doch re­a­gier­ten sie sehr sen­si­bel auf ihre Um­welt. Sie lieb­ten das Fei­ern, doch die­se Fes­te wa­ren nicht laut oder un­sitt­lich. Auch wenn sie ger­ne aßen und tran­ken, schos­sen sie nie­mals über das Ziel hin­aus, denn Völ­le­rei mach­te ihre Kör­per krank.

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