Kitabı oku: «Lehrbuch Psychomotorik», sayfa 3

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Als Nachteil erweist sich, dass sich diese Perspektive nur für die Anwendung in einer Einzeltherapie eignet. Sie ermöglicht daher z. B nur die Beziehungsgestaltung zu einem Erwachsenen und nicht zu anderen Kindern. Seewald (1993, 193f.) sieht weiterhin die Gefahr der Missachtung möglicher organischer Ursachen eines als auffällig wahrgenommenen Bewegungsverhaltens und die Gefahr der Fehl- oder Überinterpretation des gezeigten Verhaltens. Darüber hinaus wird die gesellschaftliche Dimension des Kindes, aber auch die der Psychomotorik als „Reparaturkonzept“ nicht ausreichend reflektiert.

Jürgen Seewald gilt als Begründer des Verstehenden Ansatzes. Als sinnverstehend können auch die Arbeiten von Amara Eckert und Ingrid Olbrich bezeichnet werden. Diese beziehen in ihrer Arbeit auch die Entwicklungskontexte mit ein.


Theorie und Praxis des Verstehenden Ansatzes:

Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München / Basel

1.2.4 Ökologisch-systemische und systemischkonstruktivistische Perspektive

In dieser Perspektive wird die Individuumszentrierung der zuvor beschrieben Perspektiven um den Einbezug der Umwelt der Klientel erweitert.

Einbezug des Kontextes Grundgedanke ist daher eine Erweiterung des Fokus über das Individuum hinaus, das nicht länger als losgelöstes Individuum, sondern im Kontext seiner Umwelt betrachtet wird. Diese wird von Uri Bronfenbrenner (1989) in einem ökologisch-systemischen Entwicklungsmodell in verschiedene Systeme aufgeteilt, die miteinander interagieren und auf Entwicklung wirken (ausführlich Kap. 1.6.5).

Zum einen werden unter dieser Perspektive die EntwicklungspartnerInnen des Kindes (Familie, Peergroup etc.), die Zeit und der Raum für gemeinsame Aktivitäten und die Stärken des Kindes in die Betrachtung miteinbezogen (Fischer 2009, 31), zum anderen aber auch die Anerkennung der Auswirkungen gesamtgesellschaftlicher Prozesse auf die (kindliche) (Bewegungs-)Entwicklung. So lassen sich die aktuellen sozialen und räumlichen Bedingungen für kindliche Entwicklung beschreiben mit einer Veränderung des Wohn- und Sozialraums („Autowelt“), weit auseinanderliegenden Erfahrungswelten („Verinselung“), einer frühe Partizipation und Konfrontation mit Themen der Erwachsenenwelt, einem hohen Leistungsdruck sowie einer Digitalisierung, die unter anderem zum Konsumieren und zu einer Körper- und Bewegungslosigkeit verleitet. Auch in der psychomotorischen Arbeit mit Erwachsenen werden deren Lebenskontexte (zum Beispiel Familie, Partnerschaft, Wohnen, Arbeiten) berücksichtigt.

systemisch-konstruktivistische Perspektive Die Aufnahme von Systemtheorien und konstruktivistischer Erkenntnistheorie in die psychomotorische Theoriebildung geht vor allem auf Rolf Balgo zurück. Auf der Grundlage konstruktivistischer Philosophien gelten Störungen als Produkte einer / eines Beobachtenden, der / die ein gezeigtes Verhalten mit einem anderen beziehungsweise mit seinen / ihren Vorstellungen eines adäquaten Verhaltens vergleicht. Störungen existieren also nur dort, wo Vergleiche mit einer als „normal“ definierten Gruppe oder Handlungsweise vorgenommen werden und setzen BeobachterInnen voraus. Im Konstruktivismus existiert keine objektive Wahrheit, sondern nur subjektive Realitätskonstruktionen, sodass kein objektives Richtig oder Falsch existiert.

Bewegung als individuelles Ausdrucks- und Kommunikationsmittel Bewegung wird daher als individuelles Ausdrucks- und Kommunikationsmittel verstanden. Sie ist wesentliche Voraussetzung für den Aufbau von Wahrnehmung, Identität und Kommunikation, wird aber gleichzeitig mitgestaltet und modifiziert durch diese Prozesse. Über neue Situationen kann der zirkuläre Prozess des Wahrnehmens und Bewegens jederzeit angeregt und aktiviert werden. Die Bewegungen einzelner Menschen gelten „als Ausdruck ihrer individuellen Erfahrungs-, Selbstorganisations- und Erlebnisgeschichte. Als solche beschreibt jede Bewegung die Art und Weise, wie eine Person sich zu ihrer Umwelt und umgekehrt, wie sie ihre Umwelt zu sich in Bezug setzt“ (Klaes / Walthes 1995, 114ff.). Das gezeigte Verhalten stellt also aus der Perspektive der KlientInnen eine sinnvolle Anpassung an ihre Biografie und Lebenskontext dar.

Ansatzpunkt ist die Frage, in welchen Situationen das als Problem erlebte Verhalten auftritt. Wer ist an der Problemkonstruktion beteiligt? Wie können Verhaltensweisen verstanden und ggf. umgedeutet werden? Ziel ist Gestaltung von Lebensräumen und Beziehungen, sodass diese zwischen individuellen, sozialen und kulturellen Anforderungen vermitteln können (Fischer 2009, 31).

erlebnisorientierte, dialogische Handlungssituationen Durch erlebnisorientierte, dialogische Handlungssituationen sollen Aktivität angeregt und Veränderungsprozesse unterstützt werden. Der Lebenskontext der KlientInnen wird miteinbezogen. Die allgemeinen Ziele und Arbeitsweisen psychomotorischen Arbeitens werden also in einen größeren Kontext eingebettet.

Als Nachteil wird teilweise angesehen, dass sich keine konkreten Anhaltspunkte für die Gestaltung der psychomotorischen Praxis ableiten lassen. Vorteile dieser Perspektive können im Einbezug des sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes bei der Betrachtung der KlientInnen gesehen werden. Störungen werden nicht länger dem Individuum und / oder seiner Familie zugeschrieben, da sie in einem komplexeren Zusammenhang betrachtet werden. Die Arbeit geht somit über eine Arbeit mit dem Individuum hinaus, indem sie den Einfluss problemkonstituierender gesellschaftlicher Merkmale anerkennt. Diese Perspektive hat zu einem verstärkten Einbezug der Familien (Kap.6.3) und des Entwicklungskontextes in die Psychomotorik geführt. Sie legt auch die Basis für stadtteilorientierte psychomotorische Angebote, da es in ihrem Sinne nicht nur darum geht, einzelne Individuen zu unterstützen, sondern Lebensumwelten zu gestalten um Entwicklung zu fördern.


Literatur zur systemischen Perspektive der Psychomotorik:

Balgo, R. (1998): Bewegung und Wahrnehmung als System. Systemisch-konstruktivistische Positionen in der Psychomotorik. hofmann, Schorndorf

Richter, J. (2012): Spielend gelöst: Systemisch-psychomotorische Familienberatung: Theorie und Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Tabelle 2 fasst abschließend die Kernaspekte der einzelnen Perspektiven überblicksartig zusammen.

Tab. 2: Zusammenfassung der idealtypischen Perspektiven der Psychomotorik (erweiterte Darstellung nach Seewald 1993)


Funktional-physiologische PerspektiveErkenntnisstrukturierende, kompetenztheoretische selbstkonzeptorientierte PerspektiveSinnverstehende PerspektiveÖkologisch-systemische Systemisch-konstruktivistische Perspektive
Bewegungsmodell■ funktionell■ persönlichkeitsdifferent■ strukturell■ persönlichkeitsbezogen■ sinnverstehend■ persönlichkeits integrierend■ kontextorientiert■ individualisierend
Störungsbegriff■ Defizite in der Wahrnehmung und Bewegung bzw. cerebrale Dysfunktionen■ unzureichender Erwerb von Handlungsmustern, die sich negativ auf Verhalten und Emotion auswirken können■ grundsätzlich sinnvolle Äußerungen des Individuums■ Selbstmitteilung■ Produkte des jeweiligen Beobachters, der ein gezeigtes Verhalten mit einem anderen bzw. mit seiner Vorstellungen eines adäquaten Verhaltens vergleicht
Ziel■ Verbesserung von Wahrnehmungs- und Bewegungsprozessen■ Verbesserung von Handlungsfähigkeit■ Stärkung des Selbstkonzepts■ Selbstvergewisserung durch symbolischen Ausdruck in Bewegung und Spiel■ Perspektiverweiterung■ Systeme pertubieren / verstören■ Kompetenzerweiterung
Methode■ Übung und Training■ anregungsreiche Fördersituationen■ eigenständiges Ausprobieren■ Variation des Lösungsweges■ Inszenierung von Geschichten, spielen, Landschaften■ Übertragung innerer und äußerer Bilder■ verstehen dominierender Lebensthemen■ differenzierte Rahmenbedingungen schaffen, die an die individuelle Entwicklungslogik anschließen
Ansatzpunkt■ motorische / sensorische Normabweichungen■ Stärken, Vorlieben■ Erlebnisse, Gefühle, Konflikte■ problemkonstituierender Kontext■ Gestaltung von Lebensräumen u. Beziehungen
Verhalten der psychomotorischen Fachkraft■ Fachkraft führt, KlientIn folgt■ Beziehung bleibt unreflektiert■ Fachkraft leitet indirekt, KlientIn bringt sich ein■ Führen und Folgen im Wechsel■ Beziehung wird mitreflektiert■ partnerschaftlicher Dialog■ Reflexion der Wirklichkeitskonstruktion■ entpathologisierende Sprache■ zirkuläres Beziehungssystem
Vorteile■ klare Rollenverteilung■ Handlungssicherheit■ gut nachzuvollziehen und überprüfbar■ keine Gefahr der Überinterpretation■ Persönlichkeitsbezug■ partnerschaftlich-dialogisch■ entwicklungstheoretische Fundierung■ sozial- u. selbstpsychologische Dimension werden berücksichtigt■ Bewegungsgeschichte als Ausdruck der Lebensund Beziehungsgeschichte■ dialogisch■ KlientIn bestimmt Tempo und Inhalt■ Bewegung als Ausdruck der individuellen Erfahrungs-, Selbstorganisations- und Erlebnisgeschichte■ Bewegung beschreibt die Art und Weise der Personen- Umwelt-Interaktion
Nachteile■ monologisch■ reduktionistisches, verkürztes Menschenbild und Problemverständnis■ Bedeutung der Bewegung bleibt unreflektiert■ gesellschaftliche Dimension bleibt unreflektiert■ Bedeutung der Bewegung bleibt unreflektiert■ einseitiges Erklärungsschema■ gesellschaftliche Dimension bleibt unreflektiert■ falscher Umgang mit Deutungen und Interpretationen■ Nichtbeachtung organischer Verursachung von Bewegungs- und Wahrnehmungsstörungen■ Orientierung am medizinischen Gesundheitsbegriff■ gesellschaftliche Dimension bleibt unreflektiert■ anstelle des Individuums treten beobachtende oder psychische Systeme■ ggf. Kluft zwischen Theorie und praxeologischer Anwendbarkeit

Die in diesem Kapitel vorgenommene Beschreibung der psychomotorischen Perspektiven erfolgt idealtypisch und bildet einen Versuch der Systematisierung der psychomotorischen Vielfalt. Deutlich wird, dass im Jahr 2017 keine einheitliche Sichtweise weder bezüglich des Bewegungsverständnisses und des Störungsbegriffes noch des praktischen Vorgehens existiert. Jedoch können Tendenzen ausgemacht werden. So wird das Vorgehen in den älteren Ansätzen (PMÜ, Schillings kompetenztheoretischer Ansatz) stark von der psychomotorische Fachkraft bestimmt. Die Fachkraft führt, die Teilnehmenden folgen. Die neueren Ansätze orientieren sich hingegen an den individuellen Stärken und Ressourcen der Teilnehmenden. Die Beziehung zwischen Teilnehmenden und psychomotorischen Fachkräften wird partnerschaftlich-dialogisch gestaltet.

Ältere Ansätze wählen darüber hinaus die Bewegung als direkten Ausgangspunkt mit der linearen Logik auffällige Motorik = Üben der Motorik. Der methodische Schwerpunkt liegt hier im Anleiten, Korrigieren, Üben. Neuere Ansätze betrachten hingegen Bewegung und Körperlichkeit als Medium, um die Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Ihr methodischer Weg besteht im Anregen, Begleiten und Bereitstellen von Situationen und Hilfestellungen.

Relevanz für Praxis In der Praxis treten die vorgestellten Perspektiven in Form von Erklärens- und Verstehensprozessen zur Begründung und Gestaltung psychomotorischer Praxis auf. Auf der Basis der ihnen zugrunde liegenden Begründungsmustern wird ein Bezug zum jeweiligen Handlungsfeld und Klientel hergestellt, Ziele definiert und Inhalte ausgewählt etc. Dabei wird die jeweilige konkrete Ausgestaltung sowohl durch die Persönlichkeit der Teilnehmenden als auch die der psychomotorischen Fachkraft sowie durch die Anforderungen der Praxis bestimmt. Eine einzelne Perspektive an sich reicht dabei nicht aus, um der Komplexität der Praxis gerecht zu werden, da jede Perspektive Schwerpunkte setzt und dadurch Aspekte hervorhebt andere jedoch ausblendet. In der Praxis ergänzen und überschneiden sich daher in der Regel einzelne Perspektiven. Sie dienen als Basis der Planung und Reflexion psychomotorischer Praxis. Sie werden ergänzt durch die Überlegungen zur paradigmatischen Einordung der Psychomotorik (Kap. 1.3).

Zusammenfassung

Psychomotorisches Handeln kann anhand unterschiedlicher Perspektiven begründet und realisiert werden. Diese dienen im Sinne einer Theoriebrille (Seewald 1993) zur idealtypischen Beschreibung, unter welcher Perspektive menschliches Bewegungsverhalten betrachtet werden kann und geben Aufschluss über den theoretischen / philosophischen Hintergrund des psychomotorischen Handelns. Sie ermöglichen damit eine erste Einordnung von praktischen Ansätzen. Unterschieden werden eine funktionale, eine kompetenztheoretische, eine sinnverstehende sowie eine ökologische / systemische Perspektive. In der Praxis können sich die Perspektiven ergänzen und überschneiden.


1. Worin unterscheiden sich ältere und neue Perspektiven der Psychomotorik grundlegend?

2. Beschreiben Sie, wie durch verschiedene Perspektiven ein und dieselbe Situation in der psychomotorischen Praxis unterschiedlich interpretiert werden kann.

1.3 Paradigmen der Psychomotorik

Die bisherigen Ausführungen zur Psychomotorik dokumentieren deren Weiterentwicklung und derzeitigen Heterogenität. Diese Weiterentwicklung geschieht in einem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext, der zu einer Erweiterung des Theorie- und Praxisgefüges führt. Der Wandel der Psychomotorik zeigt sich dabei auf zwei Ebenen: zum einen als Oberflächenphänomen in einem Wandel der Fachbegriffe. Zum anderen in einem Wandel der zugrunde liegenden Paradigmen (= Tiefenphänomene). Der Begriff des Paradigmas stammt aus der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften und wurde in den 1960er Jahren durch den amerikanischen Wissenschaftsphilosophen Thomas Samuel Kuhn (1922– 1996) eingeführt. In der Wissenschaft werden hierunter Modellvorstellungen im Sinne von Leitbildern gefasst, anhand derer versucht wird, Phänomene zu erklären. Kuhn selbst hat den Übertrag seines Paradigmenbegriffs auf andere Disziplinen kritisch betrachtet.

Definition Paradigma Trotzdem hat sich der Begriff etablieren können, um das dominante wissenschaftliche Denkmuster einer bestimmten Zeit zu benennen, das im Sinne einer Theoriebrille den Blick auf alle fachlichen Ebenen bestimmt. Das Verhältnis des Tiefenphänomens Paradigma und des Oberflächenphänomens Fachbegriffe kann anhand des Eisbergmodells illustriert werden (Lüdtke / Stitzinger 2015, 26). Fachbegriffe bilden die sichtbare Spitze des Eisberges, während das Paradigma die große, unsichtbare Masse unter der Wasseroberfläche darstellt. Die in Kapitel 1.2 beschriebenen Perspektiven der Psychomotorik verdeutlichen zum Beispiel, welchen Unterschied es hinsichtlich der Begrifflichkeiten, Handlungsweisen etc. macht, wenn die zugrunde liegende Theoriebrille wechselt.

In diesem Kapitel werden weitere Paradigmen vorgestellt, die als Orientierungsmodell für psychomotorisches Denken, Handeln, Forschen betrachtet werden können.

Ausgangspunkt sind Oberflächenphänomene in Form der Begriffe, die sich über die Jahre für psychomotorisches Handeln entwickelt haben, wie zum Beispiel psychomotorische Therapie, psychomotorische Förderung, psychomotorische Erziehung, psychomotorische Begleitung, sonderpädagogische Psychomotorik, Mototherapie und Motopädagogik. Psychomotorische Fachkräfte werden als Fördernde, TherapeutInnen, MotopädInnen, MotologInnen etc. bezeichnet.

Psychomotorik zwischen Pädagogik und Therapie Diese Bezeichnungen verweisen darauf, dass Psychomotorik „im intermediären Bereich zwischen Pädagogik und Therapie verortet und klar entwicklungstheoretisch begründet [ist]“ (Fischer 2015, 363). Sie lässt sich also paradigmatisch weder nur der Pädagogik noch der Therapie zuordnen. Jürgen Seewald hat die Problematik der paradigmatischen Orientierung der Psychomotorik anhand der im Folgenden vorzustellenden vier Paradigmen der Psychomotorik diskutiert.

Paradigmen = Modellbildungen Diese Paradigmen stellen für ihn „Modellbildungen größerer Reichweite, die nicht an den Fächergrenzen haltmachen“ dar und können deshalb allgemein für die Körper- und Bewegungsarbeit gelten (Seewald 2006, 282). Die Körper- und Bewegungsarbeit begründet sich demnach aus einem pädagogisch-bildungstheoretischen, einem therapeutischen, einem entwicklungsfördernden sowie einem gesundheitsfördernden Paradigma (Seewald 2006, 282). Diese Paradigmen werden nachstehend beschrieben, um unter anderem nachvollziehen zu können, welche Paradigmen mit welcher Konsequenz für die Praxeologie (Kap. 1.2) herangezogen werden.

1.3.1 Therapie

Die Psychomotorik hat sich zunächst innerhalb eines medizinisch-klinischen Settings etabliert. Die Kinder und Jugendlichen wurden als „krank“ etikettiert.

Dimension gesund/krank Durch verschiedene Therapien sollten sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wieder „gesunden“. Auch der Buchtitel „Bewegung heilt“ (Hünnekens / Kiphard 1971) spiegelt diese kurative-therapeutische Orientierung.

Heilen Der Begriff der Therapie (griech. „therapia“, ursprünglich „das Dienen“, später „Heilen“ (Bundschuh 2007b, 272) ist eng verbunden mit dem Begriff des Behandelns, der Korrektur sowie der Krankheit und entstammt ursprünglich aus der Medizin. In Medizin, Psychologie und Psychiatrie wird Therapie als Sammelbegriff verwendet für alle Leistungen „Krankheiten, Leidenszustände und Störungen aufzuheben oder doch zu lindern“ (Barkey 2011, 969).

Diagnose als Ausgangspunkt Dabei geht einer Therapie eine Diagnose voraus. Je nach bevorzugtem Krankheitsbegriff variiert der Therapiebegriff: Wird Krankheit als Abweichung von einer Norm verstanden, so ist die Aufgabe der Therapie die Zurückführung an eine definierte Normalität. Krankheit kann aber auch als eine Variante des menschlichen Seins definiert werden. Therapie würde dann darin bestehen, dem Betroffenen das Leben möglichst angenehm zu machen (Jeltsch 1992, 665). In der Psychologie wird Therapie verstanden als: „spezieller systematischer Prozess, um Menschen bei der Überwindung ihrer psychischen Schwierigkeiten zu helfen“ (Comer 2008, 528).

In Deutschland hat sich die Psychomotorik trotz ihrer Wurzeln im klinischen Bereich nicht als eigenständige Profession im medizinisch-therapeutischen Paradigma etablieren können. Begründet liegt dies in den Anforderungen des Medizinsystems, das eine entwickelte Krankheits- und Behandlungslehre als Voraussetzung für eine Anerkennung sieht. Darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass LeistungserbringerInnen im Medizinsystem ausgebildet werden. Beide Bedingungen treffen auf die deutsche Psychomotorik nicht zu (Seewald 2006, 283).

1.3.2 Pädagogik / Erziehung / Bildung

Pädagogik (griech. „paidagogike“ = Erziehungskunst) ist eng verbunden mit dem Begriff der Erziehung. Pädagogik ist eine praktische Wissenschaft beziehungsweise Handlungswissenschaft, die „auf rationaler Basis gründende Handlungsorientierungen für […] erzieherische Entscheidungen und Maßnahmen ermöglichen“ (Krawitz 2007b, 205) soll.

Theorie, Praxis und Lehre der Erziehung Pädagogik vereint somit Theorie, Praxis und Lehre der Erziehung. Erziehung meint die „planmäßige Einwirkung Erwachsener auf Kinder und heranwachsende Jugendliche mit dem Ziel der geistigen Mündigkeit als Erzogene“ (Krawitz 2007a, 64).

emanzipatorischer Prozess Erziehung ist folglich ein emanzipatorischer Prozess, in dessen Rahmen die immanenten Kräfte des zu Erziehenden freigesetzt und gerichtet werden, sodass die Lebensumwelt und ihre Verhältnisse möglicherweise verändert werden können (Krawitz 2007a, 65). Damit bezeichnet Erziehung „das Ergebnis des Erzogenseins und im engeren Sinne eine Hinführung zu Haltungen, Selbstbestimmung und Mündigkeit“ (Winkler 2006, 20).

pädagogische Perspektive der Psychomotorik Jürgen Seewald (2006, 283f.) verweist darauf, dass unter dem Begriff Motopädagogik lange Zeit eine pädagogische Perspektive für die Psychomotorik postuliert wurde, obwohl sich kaum auf Bildungs- und Erziehungstheorien bezogen wurde. Der Psychomotorik fehle außerdem ein konkretes Kulturgut, welches weitergegeben werde und an dem sich Bildungsprozesse entfalten können. Bildung in der Psychomotorik wird vielmehr allgemein im Sinne der Unterstützung von Selbstbildung verstanden (Kap. 3.2).

Des Weiteren formuliere die Psychomotorik keine normativen Erziehungsziele und ignoriere, aufgrund des grundlegenden Bildes des Kindes als Akteur der eigenen Entwicklung, Erziehungsnotwendigkeiten. Das pädagogische Paradigma könne die Psychomotorik daher nicht für sich reklamieren, obwohl die psychomotorische Ausbildung im pädagogischen System geschähe, was ihr wiederum die Entwicklung eines therapeutischen Paradigmas erschwere.

Die Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Überschneidungen der Disziplinen Therapie und Pädagogik bestehen auf mehreren Ebenen. Zum einen wird Therapie gegenüber der Erziehung als das leichter zu handhabende Medium angesehen, da sie Normensicherheit, genaue Rollenzuschreibungen und festgelegte Methoden bietet (Jeltsch 1992, 666). Professionelles pädagogisches Handeln ist demgegenüber deutlich komplexer und erfordert eine hohe Flexibilität.

Gemeinsamkeiten Erziehung und Therapie Gemeinsamkeiten und Überschneidungen können darin gesehen werden, dass sowohl TherapeutInnen als auch ErzieherInnen Lern- und Entwicklungsprozesse initiieren und lenken. So bestehen „zahlreiche Gelegenheiten und Notwendigkeiten zur praktischen Anwendung therapiewirksamer Prozesse im Erziehungsfeld […], [sodass] Handlungsweisen im Rahmen von Unterricht und Erziehung […] auf der Basis therapeutischer Kenntnisse sicherlich bewusster und sensibler vollzogen“ werden könnten (Bundschuh 2007b, 273).

Dabei erscheint vor allem bei Kindern die Abgrenzung und genaue Definition der Disziplinen Pädagogik und Therapie sehr schwierig. Ein wesentlicher Unterschied kann darin gesehen werden, dass sich Erziehung im Alltag mit den entsprechenden Regeln und Rollen vollzieht, während in der Therapie eine künstliche Situation erschaffen wird, in deren Rahmen eine Auflösung realer Gegebenheiten möglich ist, um notwendige Entwicklungsimpulse zu setzen. Das Kind kann Rollen spielen und Verhaltensweisen zeigen, die im Alltag nicht möglich sind. So kann es beispielsweise in die Rolle des mächtigen Königs bzw. der mächtigen Königin schlüpfen, die den erwachsenen TherapeutInnen Anweisungen erteilt. Therapie stellt also einen Umweg beziehungsweise eine Auszeit aus der kontinuierlich stattfindenden allgemeinen Erziehung dar, mündet jedoch wieder in diese (Abb. 2).


Abb. 2: Das Verhältnis von Erziehung und Therapie

1.3.3 Entwicklungsförderung

Hauptleitgedanke Entwicklungsförderung Wie bereits die Definitionen (Kap. 1.1) aufgezeigt haben, gilt Entwicklungsförderung als „unbestrittener Hauptleitgedanke der Psychomotorik“ (Fischer 1996, 193). Begründet wird dies damit, dass Entwicklungstheorien die Hauptbezugstheorien der Psychomotorik bilden. Im Mittelpunkt steht die Unterstützung von Entwicklungsverläufen, die diagnostisch erfasst werden (= Entwicklungsstand). Auf dieser Basis werden Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsschritte beschrieben, die in Fördersituationen dialogisch begleitet werden. Das Konstrukt der Entwicklungsaufgabe dient dabei als „Scharnierkonstrukt zwischen Individuum und Gesellschaft“ (Seewald 2006, 285), da es von der Gesellschaft gestellt wird, jedoch vom einzelnen Individuum übernommen und bewältigt werden muss.

Als Schwächen des Entwicklungsförderparadigmas bezeichnet Seewald, dass aus Entwicklungstheorien keine expliziten Normen und Werte ableitbar seien. Für die Formulierung von Förderzielen seien diese aber elementar. So gälte das Fortschreiten in der Entwicklung als positiv, ohne zu reflektieren, dass auch Entwicklungsrückschritte notwendig sein könnten. Darüber hinaus sei das Paradigma der Entwicklungsförderung nicht für alle Institutionen passend (Seewald 2006, 285). Das Paradigma der Entwicklungsförderung lasse sich auch nicht immer eindeutig vom therapeutischen und / oder pädagogischen Paradigma abgrenzen.

1.3.4 Gesundheitsförderung

Angestoßen durch das Aufkommen der Gesundheitswissenschaften, durch Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Gesundheit und Bewegung sowie der angestiegenen gesellschaftlichen Relevanz des Themas richtet auch der psychomotorische Fachdiskurs seinen Blick verstärkt auf das Feld der Gesundheitsförderung.

Ottawa-Charta Einen starken Impuls erhielt die Gesundheitsförderung 1986 durch die Ottawa- Charta der WHO, die Ziele und Inhalte der Gesundheitsförderung wie folgt beschreibt:


WHO Definition Gesundheitsförderung „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. sie verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden.“ (WHO 1986, 1)

Abgrenzung zur Prävention Da der Begriff „Gesundheitsförderung“ oft fälschlicherweise mit dem Begriff der „Prävention“ gleichgesetzt wird, dieser aber mit ganz unterschiedlichen Intentionen und Modellen verbunden ist, wird eine Gegenüberstellung vorgenommen: „Prävention hat ihren Ausgangspunkt bei spezifizierten Krankheiten oder Störungen und hat das Ziel, diese Risiken zu minimieren oder gänzlich auszuschalten (Beispiele: Impfprogramme, Safer-Sex-Kampagnen). Das zugrunde liegende Modell ist das Risikofaktorenmodell.

Schutzfaktoren/Ressourcen Gesundheitsförderung setzt an den Schutzfaktoren (auch: Ressourcen) an und will diese fördern (Beispiele: Lebenskompetenzprogramme, die das Selbstwertgefühl und die Lebenskompetenzen von Kindern steigern sollen). Sie hat das Ziel, die Gesundheit und das Wohlbefinden zu steigern.

Gesundheit als individuumsbezogenes leibliches Phänomen Das zugrunde liegende Modell ist das Salutogenesemodell“ (Hurrelmann et al. 2009, 41). Anhand der Definition von Gesundheitsförderung und deren Abgrenzung von Prävention wird bereits deutlich, dass hier Bezugspunkte für die Psychomotorik bestehen. Diese analysiert und diskutiert Jürgen Seewald, indem er das Gesundheitsförderungsparadigma als das mögliche neue Paradigma in den psychomotorischen Fachdiskurs einbringt. Er zieht dafür auch die Betrachtungen des Philosophen Hans-Georg Gadamer heran. Dieser beschreibt Gesundheit individuumsbezogen als ein leibliches Phänomen, dessen zentrale Merkmale in der Unmittelbarkeit, Unverfügbarkeit und Selbstverborgenheit liegen.

Gesundheitsdefinition WHO Neben diesen subjektiven Kriterien treten gesellschaftliche, die durch die Gesundheitsdefinition der WHO („Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechen.“) formuliert werden (Seewald 2012, 58). Für die Auseinandersetzung der Psychomotorik mit dem Gesundheitsdiskurs skizziert Jürgen Seewald zwei mögliche Vorgehensweisen:

„Hilfsparadigma“ Gesundheitsförderung Zum einen könnte Entwicklungsförderung auch um Aspekte der Gesundheitsförderung (als „Hilfsparadigma“) erweitert gedacht werden, denn die Paradigmen Entwicklungsförderung und Gesundheit zeigten Überschneidungen auf. So bestünden beispielsweise große theoretische Übereinstimmungen psychomotorischer Grundannahmen mit der Salutogenese und Erkenntnissen der Resilienzforschung (Seewald 2006, 286f.). Ruth Haas, als Vertreterin einer psychomotorischen Gesundheitsförderung im Erwachsenenalter (Kap. 7.3), beschreibt ergänzend hierzu, dass sowohl entwicklungstheoretische als auch gesundheitswissenschaftliche Konzepte sich auf biomedizinische, soziologische und psychologische Erkenntnisse beziehen. Konzepte beider Paradigmen haben sich in Richtung salutogenetischer und systemischer Sichtweisen weiterentwickelt. Gesundheit und Entwicklung seien dabei zentrale Prozesse, die sehr eng mit Bewegung und Leiblichkeit verbunden sind (Haas 2007, 124f.).

Die beiden Paradigmen grenzen sich dadurch voneinander ab, dass Entwicklung konsekutiv aufeinander aufbauend und idealerweise mit einem konstanten Anstieg verläuft, während Gesundheit nicht als dynamischer Anstieg, sondern eher als ein Pendeln um eine imaginäre Mitte betrachtet werden kann (Seewald 2012, 59f.; Haas 2007, 127f.)

Das Vorgehen, Entwicklungsförderung als Hauptparadigma und Gesundheitsförderung als Hilfsparadigma zu deklarieren, würde möglicherweise aber nur ein neues Etikett für ein bewährtes Vorgehen bedeuten und die Chance auf Innovation verhindern (Seewald 2006, 286).

Hauptparadigma Gesundheitsförderung Würde jedoch Gesundheitsförderung als Hauptparadigma der Psychomotorik gedacht, könnten sich neue Vorgehensweisen, Handlungsfelder und Zielgruppen für psychomotorische Angebote ergeben. Begründet wird dies damit, dass aus diesem Paradigma überindividuelle Ansprüche und eine große gesellschaftliche Relevanz resultieren würden. Psychomotorik würde damit, über die Arbeit mit dem Individuum hinaus, größere soziale Einheiten miteinbeziehen sowie gesundheitsförderliche gesellschaftliche Strukturen schaffen und beeinflussen. Diese Erweiterung, des auf Individuen zentrierten Paradigmas der Entwicklungsförderung durch eine gesundheitsfördernde Perspektive, bietet daher eine große Chance für die Psychomotorik auch hinsichtlich ihrer zukünftigen gesellschaftlichen Relevanz und Legitimation. Gleichzeitig betont Seewald aber auch die Notwendigkeit eines „behutsamen Hineinwachsens“ in das neue Paradigma und der sich dadurch erschließende neue Arbeitsfelder (zum Beispiel in der Arbeit mit Erwachsenen und Organisationen; Seewald 2012, 56). Als Gelenkstelle zwischen Entwicklung und Gesundheit könne dabei das Resilienzkonzept betrachtet werden (Kap. 3.6). Durch die psychomotorische Entwicklungsförderung würden Ressourcen von Kindern gefördert und somit die Entwicklung von Resilienz gesteigert, die es Menschen ermögliche, in Belastungssituationen gesund zu bleiben. Gesundheit könne in diesem Sinne als Entwicklungsaufgabe betrachtet werden (Seewald 2012, 59).