Kitabı oku: «Herbstverwesung»
Herbstverwesung
1. Auflage, erschienen 11-2020
Umschlaggestaltung: Romeon Verlag
Text: Stefanie Randak
Layout: Romeon Verlag
ISBN (E-Book): 978-3-96229-853-1
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Herbstverwesung
Für meine Oma!
Stefanie Randak
Prolog
Schicksal. Manche glauben daran, manche nicht. Diejenigen, die daran glauben, laufen in vielen Fällen risikoreicher durchs Leben. Und diejenigen, die das Schicksal des Lebens anzweifeln, sind zugleich diejenigen Menschen, die sich auf den Zufall verlassen. Die Anhänger von Schicksal und Zufall sind keineswegs anzuzweifeln, doch eines ist sicher: Es war definitiv kein Zufall, dass Eleonora Bianchi und ihr Verlobter Lorenzo Russo an jenem Tag an den Rand von London in den Gloomy Forest gezogen waren. Ein junges, verliebtes, italienisches Pärchen, durstig und gierig nach dem süßen Leben.
Ebenso war es mit Sicherheit kein Zufall, dass Elisabeth Greenwood, die alte Dame mit dem Glasauge und den goldenen Zähnen, die Person war, welche am nächsten bei dem jungen Paar wohnte. Sie lebte alleine in einem verlassenen, alten Schloss namens Red Side, im Gloomy Forest. Das Schloss war mehr eine heruntergekommene Ruine, alt und kühl. Doch niemand außer Elisabeth Greenwood wusste genau, was sich alles hinter den dichten Mauern und in den dunklen Kellern verbarg.
1
Es war ein Sonntag. Sonntage schmeckten immer nach Ausschlafen, einer heißen Schokolade im Bett, nach frischen Croissants und guten, alten Filmen.
Und so kam es, dass die schöne Eleonora und ihr Lorenzo mittags, zu einer Zeit in der die meisten Menschen schon in der Kirche gewesen waren und sich nun im Wirtshaus ihren Schweinebraten schmecken ließen, immer noch im Bett lagen.
„Wir sollten langsam mal auspacken, mio caro“, meinte Eleonora und strich sich ihre langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie nannte Lorenzo seit ihrer Verlobung nur noch mio caro, was so viel wie „Mein Schatz“ bedeutete. Und er nannte sie la mia principessa, meine Prinzessin.
„Das hat doch noch Zeit“, antwortete Lorenzo gelassen und sah sich zufrieden in dem dunklen, kalten Schlafgemach um. Das einzige, was bereits aufgestellt war, war das Bett.
Rundherum standen noch große und kleine Umzugskartons, Taschen und Koffer. Der Boden war staubig und in der Deckenleuchte gab es noch keine funktionierende Glühbirne, deshalb hatte Lorenzo ein paar Kerzen aufstellen müssen. Eleonora hätte sich sonst gefürchtet.
„Ganz allein in einer dunklen neuen Wohnung? No!“, hatte sie entschlossen gerufen und sich unter der Bettdecke versteckt, so lange bis Lorenzo Kerzen angezündet hatte. Lorenzo machte das Chaos in der neuen Wohnung nichts aus, er hatte es nicht eilig, es hier gemütlich zu haben. „Wir haben doch das Bett. Das reicht uns“, grinste er und gab seiner Eleonora einen Kuss auf die Stirn.
„Nein, wir stehen jetzt auf. Ich räume die Kartons aus und du kümmerst dich erst mal um Glühbirnen!“, Eleonora lächelte ihren Verlobten an und schlug ihm verspielt ihr Kopfkissen auf die Brust. Dann stand sie entschlossen auf und zog ihren Morgenmantel an. Es war kalt in der Wohnung. Der Herbst stand vor der Tür. Sie hasste Unordnung, und wenn sie wollte, dass heute die Kartons ausgepackt werden, dann musste es so gemacht werden. Also schälte sich Lorenzo aus dem Bett und tat, was seine Freundin von ihm verlangte: Licht ins Dunkel bringen.
Eleonora baute in dieser Zeit eine Kommode im Wohnzimmer zusammen und räumte sie ein. Eine Sanduhr und einen Kaktus stellte sie oben drauf. Das junge Pärchen kaufte keine Blumen mehr, nur noch Kakteen. Alles andere ging immer ein. Das Innenleben der Kommode befüllte Eleonora mit Büchern und Magazinen. Sie liebte es, zu lesen. In den letzten drei Jahren hatte sie ihr Geld durch das Artikelschreiben für ein Frauenmagazin verdient. Hier in London hatte sie noch keine neue Arbeitsstelle gefunden, was sie wahnsinnig machte. Eine von Eleonoras Schwächen war, dass sie nie stillsitzen konnte. Sie wollte immer etwas tun und gleichzeitig über alles die Kontrolle haben. Lorenzo sah das als eine Stärke an. Eine Frau, die gerne mit anpackte und alles selbst schaffen wollte.
Einen Nachmittag später waren schließlich fünf Kartons ausgepackt, im Wohn- und Schlafzimmer gab es funktionierendes Licht und Eleonoras Schreibtisch stand fertig aufgebaut auf Oma Noemis rotem Teppich.
„Wir brauchen unbedingt mehr Möbel“, meinte Lorenzo. Die vorherige Wohnung war viel kleiner gewesen. Diese hingegen bot neben einer großen Küche und einem Badezimmer noch vier weitere Zimmer. Unklar war, wieso der Makler eine solch großzügig geschnittene Wohnung so billig verkaufte. Und es hatte fast den Anschein gehabt, als wolle er sie dringend loswerden.
Während das junge Pärchen den Sonntagabend in romantischer Zweisamkeit ausklingen ließ, fuhr nur wenige Kilometer weiter im Gloomy Forest eine schwarze Limousine in die Einfahrt des Golden Horse Sporthotels. Ein leichter Regen fiel auf das Dach des schicken Fahrzeugs.
Der Fahrer stieg gehetzt aus und öffnete die Türe für seinen Boss. Dieser stieg im teuren Armani Anzug aus und sah sich kritisch um. Er rümpfte die Nase, als er von den sanften Regentropfen begrüßt wurde. Murrend marschierte er entschlossen auf die Eingangstüre des Hotels zu. Dabei mied er jede Pfütze, die auf dem Asphalt glänzte, um seine edlen Schuhe aus Pythonleder zu schonen. Die Glastür des Hotels öffnete sich und es schien, als wäre die Zeit für einen kurzen Augenblick stehen geblieben, als der gut gebaute Mann den Eingangsbereich des glamourösen Hotels betrat. Zielstrebig marschierte er auf die Rezeption der Hotellobby zu. Er schnürte seine Krawatte enger und versuchte mit einer Handbewegung die Regentropfen auf den Schulterkissen seines Anzugs abzustreifen.
„Ich möchte bitte ein Zimmer“, forderte er an der Rezeption ohne Begrüßung an.
„Herzlich Willkommen im Golden Horse Sporthotel“, lächelte die junge Courtney Black mit den blonden Locken.
„Ja ja“, antwortete er gleichgültig und tippte mit seinen Fingern ungeduldig auf dem Tresen herum. Die goldenen Armreifen klingelten bei seinen ungeduldigen Bewegungen.
„Haben Sie eine Reservierung?“, fragte Courtney und zeigte beim Lächeln ihre weißen Zähne.
Der Gast hob gleichgültig eine Augenbraue. „Ich habe es mir anders überlegt“, lächelte er plötzlich. „Ich nehme eine Suite.“
Die junge Frau tippte mit ihren roten Fingernägeln auf der Tastatur und sah in den Bildschirm ihres Computers.
„Verraten Sie mir bitte ihren Namen?“, Sie tat sich schwer, freundlich zu bleiben, da die Arroganz ihres Gastes unausstehlich strahlte.
„Den Namen brauchen Sie wohl kaum“, zwinkerte er und richtete erneut seine Krawatte.
Courtney sah ihn verwundert an. Doch bevor sie nachfragen konnte, kam ihre Chefin Dakota Jones um die Ecke. Selbstsicher und makellos gekleidet, ihre braunen Haare streng nach hinten geknotet. Doch als ihr Blick auf ihren neuen Hausgast fiel, verlor sie jegliche Fassung.
Der nächste Morgen brachte bunte Herbstblätter mit sich, dunkle Wolken und jede Menge Regen. Als Eleonora aus ihrem Schlaf erwachte, war Lorenzo schon längst in der Arbeit. Er hatte eine leitende Stelle in einem Bauunternehmen angenommen. Dies war auch der Grund, weshalb die beiden Italiener aus Venedig umgezogen waren. Zumindest dachte das Eleonora.
Sie lag alleine in dem verlassenen Ehebett, alleine in der großen Wohnung. Was sollten sie nur mit all den Zimmern anstellen? Ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer. Selbst wenn sich das junge Paar ein Büro einrichten würde, es wäre immer noch ein Zimmer frei. Ein Kinderzimmer, hatte Lorenzo mal gesagt. Eleonora verzog das Gesicht. Dafür war es noch zu früh. Für sie würde es wahrscheinlich noch in zehn Jahren zu früh dafür sein. Sie lag im Bett und drehte sich hin und her, geplagt von allerlei Gedanken. So eine große Wohnung, für so wenig Geld. Wo war der Haken? Hoffentlich hatte Lorenzo keinen Fehler gemacht.
Eleonora selbst hatte den Makler nie kennen gelernt. Natürlich, der Holzboden war alt und rissig, knarzte beim Überqueren. Von den Wänden bröckelte die einst grün aufgestrichene Farbe und die Decke wies einige Risse auf, in denen sich Insekten versteckten. Doch es musste schon mehr fehlen, um eine solch große Wohnung so billig zu verkaufen. Sie bewohnten das dritte, und somit das oberste Stockwerk. Wahrscheinlich war das Dach undicht. Egal was es war, es würde sich noch als eine unangenehme Überraschung entpuppen. Da war sich Eleonora sicher. Sie stand auf, ging ins Wohnzimmer an den Schreibtisch und klappte im Morgenmantel ihren Laptop auf. Sie vermisste ihre Arbeit. Das Schreiben hatte sie schon immer gern gemocht. Und wenn sie nun auch keine Artikel zu verfassen hatte, warum nicht mal aus Spaß eine Geschichte schreiben?
Doch hier drin, alleine in der großen, kühlen Wohnung war Eleonoras Vorrat an Fantasie und Ideen genauso wie die halbe Wohnung: völlig leer.
Es war bereits Mittag, als die junge Italienerin die Wohnung verließ. Draußen war es, als würde der Himmel die Erde in Regen ertränken wollen. Eleonora hatte in den vielen Kartons keinen Regenschirm finden können. Sie hätten die Wände der Kartons über deren Inhalt doch beschriften sollen.
Eigentlich hatte sie sich ihren ersten Spaziergang durch die neue Heimat etwas anders vorgestellt. Zum Beispiel zusammen mit Lorenzo, Hand in Hand in der goldenen Herbstsonne. Aber es blieb keine Zeit um sich umzusehen.
Das Regenwasser drang durch ihre Kleider und auch ihre Schuhe waren schon nach wenigen Metern innen nass geworden. Erleichtert atmete Eleonora auf, als sie einige Straßen weiter das kleine gemütliche Cafe Fresh fand, in dessen Schaufenster bunte Cupcakes und andere Leckereien gestapelt waren. Ein großes Schild an der Eingangstüre leuchtete mit der Aufschrift „Open“. Mit eiskalten Händen und durchnässten Stiefeln trat sie ein. Ein betörender Duft von Kaffeebohnen und Backwaren nahm ihr die Entscheidung ab, sich zu setzen, etwas zu trinken und sich aufzuwärmen. Sie setzte sich an einen Tisch im Eck auf die Bank und klappte den Laptop auf.
Neugierig betrachtete Eleonora das Cafe und seine Kundschaft. Zwei junge Frauen saßen an einem langen Tisch und rollten Pasta auf ihre Gabeln. Im Eingangsbereich saß ein Mann mit Glatze und trank ein Bier. Und direkt am Tisch neben Eleonora saß eine alte Dame mit Kopftuch. Neben ihr stand ein Kinderwagen. Wie schön, dachte sie. Bestimmt eine Oma mit Enkelkind, die sich einen schönen Nachmittag machten.
Der Kellner brachte ihr den blauen Cupcake und den Kaffee.
„Dankeschön, Lucas“, Eleonora hatte den Namen des Kellners auf seinem Namenschild erspäht und griff sofort nach ihrem Kaffee, als er ihn am Tisch abstellen wollte.
„Die mit der blauen Glasur schmecken am besten“, zwinkerte da die alte Dame zu ihr herüber und deutete auf ihren Teller.
„Sie kennen sich wohl gut aus?“, lächelte Eleonora und rutschte ein Stück näher zu ihrem Tisch, um sich besser mit ihr verständigen zu können.
„Oh ja, ich komme jeden Tag zur selben Zeit hier her“, nickte sie. „Meine Enkelin ist ganz verrückt nach den Kuchen und all dem süßen Zeug.“ Sie streckte die Hand aus und bewegte den Kinderwagen sanft nach vorne und zurück.
„Da ist ihre Enkelin nicht die einzige“, lachte Eleonora und biss großzügig von dem klebrigen Cupcake ab. Eine dickflüssige, rote Beerenfüllung quoll heraus.
„Ich habe sie hier noch nie gesehen“, die Dame musterte sie von oben bis unten.
„Ich bin heute zum ersten Mal hier. Ich möchte eine Geschichte schreiben, doch zu Hause haben mir die Ideen gefehlt.“
„Schreiben Sie über London!“, rief die Alte begeistert. „In London gibt es so viel zu entdecken. So viele Menschen und so viele wunderbare Orte. Da fällt ihnen bestimmt etwas ein.“ London. Keine schlechte Idee.
„Oh, es ist schon so spät. Ich muss nun wirklich los, ich möchte zu Hause noch mit meiner Enkelin spielen, bevor sie ihren Mittagsschlaf hält“ Sie stand vorsichtig auf und zupfte ihr Kopftuch zurecht.
Eleonora stand ebenso auf und reichte ihr die Hand. „Danke für die schöne Idee. Auf Wiedersehen, Misses…“
„Greenwood“, beendete sie den Satz und zeigte mit einem Lächeln ihre goldenen Zähne.
„Und auf Wiedersehen, Kleines“, lächelte Eleonora und beugte sich über den Kinderwagen.
Verwundert sah sie auf und musste ein zweites Mal hinsehen. Was…? In dem Kinderwagen, welchen Misses Greenwood so sanft schaukelte, lag keineswegs ihre Enkelin. Es lag überhaupt kein Kind darin. Dort, eingebettet auf Lammfell, liebevoll angekleidet und gerade noch mit Kuchen gefüttert, lag eine Puppe. Eine Porzellanpuppe. Ihre grünen Augen sahen starr an das Dach des Kinderwagens. Beängstigend. Eleonora sah entsetzt in Misses Greenwoods Gesicht.
„Ist sie nicht wunderschön?“, flüsterte sie.
In ihrer Verwunderung konnte Eleonora nur nicken.
Doch als Misses Greenwood das kleine Cafe verließ, musste Eleonora ein wenig grinsen. London wäre bestimmt ein gutes Thema für ihr Buch gewesen, doch nun hatte sie wohl eine bessere Idee.
2
Dieser Herbst war grau und düster. Die Wolkendecke bildete eine nicht mehr aufreißende Mauer, die die Sonne unerbittlich verschluckte. Die Bäume des Gloomy Forests wirkten schon beinahe schwarz und der dichte Nebel konnte einem den Orientierungssinn rauben. Was sich da alles in jener Nacht zwischen den Dornensträuchern umhertrieb, wusste niemand so genau. Und es gab ein Gewitter, während der Vollmond zwischen den grauen Wolken silberne Schatten auf die Erde warf. In dem kleinen Schloss Red Side, wo Misses Greenwood unter einem Hirschkopf in einem alten Himmelbett ihren Schlaf hielt, drangen seltsame Geräusche durch die Schlossmauern und es war, als kämen diese nicht von einem Menschen.
Es herrschte eine unglaubliche Kälte in dem Moment, als der Biltz einschlug. Es war derselbe Moment in dem sich die Wurzeln einer uralten, morschen Fichte aus der Erde lösten und sie von der Schwerkraft durch ein Fenster direkt in Misses Greenwoods Wohnsalon gezogen wurde. Und am Boden lagen Scherben, jedoch nicht nur von dem zersplitterten Fenster, sondern auch von einer Vitrine, die von der Fichte umgestoßen worden war.
Der Donner drang laut vom Himmel herab, die Blitze zuckten über ganz London. Der kühle Nachtwind brauste unaufhaltsam in den Wohnsalon, verwüstete alles, was nicht befestigt war. Am Morgen danach sollte Misses Greenwood nicht nur einen völlig zerstörten Wohnsalon vorfinden, sondern auch eine kleine weiße Hand, die unter der Glasvitrine hervorschaute.
Unwissend, von dem was in der letzten Nacht in London geschehen war, packte die schöne Eleonora am nächsten Morgen ihren Laptop in eine Handtasche, zog sich Gummistiefel an, schnappte sich einen Regenschirm und verließ die Wohnung. Lorenzo war schon früh am Morgen zur Arbeit gegangen, was Eleonora furchtbar aufregte. Sie wollte nicht zu so einem traditionellen Pärchen werden, in dem der Mann morgens zur Arbeit abhaut und erst spät abends wieder nach Hause kommt. Und in dem sie als Frau nur zu Hause sitzen sollte um zu kochen und zu putzen? Wo sollte denn da noch Zeit für Romantik bleiben? „No, non con me!“, rief sie zu sich selbst. Nicht mit mir!
Deshalb war es an der Zeit, heute mit dem Schreiben ihres ersten Buches zu beginnen. Und das wollte sie in dem kleinen süßen Cafe Fresh tun, wo sie gestern Misses Greenwood, ihre Inspiration, getroffen hatte. Sie hatte gesagt, sie würde jeden Tag zur selben Uhrzeit dort hingehen.
Also spannte Eleonora ihren transparenten Regenschirm auf und wagte sich hinaus in die eisige Kälte Londons. Auf dem Teer stand das Wasser, und die Wolken gossen weitere Wassermassen herab, als würde man unter einem Wasserfall stehen. Bisher hatte sich London noch in keiner Weise von einer schönen Seite gezeigt, dachte Eleonora genervt.
Die Wohnung gefiel ihr nicht, Lorenzo war nie zu Hause und draußen aufhalten konnte man sich auch nicht bei diesem Unwetter. Endlich erreichte sie das Cafe. Mit dem Öffnen der Eingangstüre wurde sie wie am Vortag von dem süßen und warmen Duft der Leckereien umhüllt. Voller Erwartungen sah sie sich um. Doch Misses Greenwood konnte sie nicht entdecken.
„Entschuldigung?“, sie sprach den jungen Kellner Lucas hinter der Bar an.
„Was kann ich für Sie tun, Miss?“, lächelte er freundlich.
„Ich suche eine alte Dame, vermutlich mit Kopftuch.“
„Sie meinen Misses Greenwood?“
Eleonora nickte. Hier, am Rande von London fühlte man sich wie in einem kleinen Dorf, wo offensichtlich jeder jeden kannte. Vom kultigen Großstadtleben und quirligen Menschen, Trends und buntem Treiben war hier zu Eleonoras Entsetzen keine Spur.
„Sie war heute noch nicht hier. Normalerweise kommt sie immer zur selben Uhrzeit“, er zuckte mit den Schultern.
„Sie wird vermutlich nicht kommen“, ein dicker Mann auf einem der glitzernden Barhocker stellte sein Bier am Tresen ab und drehte sich im Sitzen zu den beiden um.
„Auf Red Side hat letzte Nacht der Blitz eingeschlagen“, raunte er und hielt seine Zeitung hoch. Red Side?
„Misses Greenwood lebt auf dem kleinen Schloss namens Red Side im Gloomy Forest“, erklärte er, als er die Verwirrung in Eleonoras Gesicht erkannte. Im Gloomy Forest? Dann konnte sie nicht allzu weit weg von ihr und Lorenzo wohnen!
„Du meine Güte. Ist ihr etwas geschehen?“, fragten Eleonora und Lucas zeitgleich.
„Hier ist ein Artikel. Dort steht, dass ein Fenster kaputt gegangen ist. Der Wind hat wohl einiges zerstört in ihrem Wohnsalon.“ Er hob seine Zeitung hoch und trank einen großen Schluck von seinem Bier.
„Doch es fehlt anscheinend ein hochwertiges Schmuckstück. Ein Saphir Ring. Wenn ihr mich fragt…“, er machte noch einmal eine Trinkpause. „…Wurde dort auf Red Side letzte Nacht eingebrochen“, er schob seine Zeitung mit dem Artikel zu Eleonora rüber.
Meine Güte. Ein Einbruch.
„Niemand, der noch ganz bei Sinnen ist, bricht auf Red Side ein!“, protestierte der Kellner.
„Wieso nicht? Ein Schloss ist doch ein offensichtliches Ziel. Misses Greenwood ist reich, das weiß doch jeder hier“, raunte der Mann.
„Ja, und es weiß auch jeder hier, dass es auf Red Side spukt!“, schauderte Lucas. Der Mann trank sein Bier aus und erhob sich. „Du hast wohl zu viel an den Kaffeebohnen geschnüffelt!“, lachte er dreckig und verließ das Cafe. Eleonora und der Kellner blieben verdutzt zurück und schauten ihm nach.
„Was haben Sie damit gemeint, als Sie sagten, dass es auf Red Side spukt?“, flüsterte Eleonora.
„Wenn Sie mich fragen, gibt es so einiges, dass auf Red Side und mit Misses Greenwood nicht so ganz stimmt. Die Frau hat sie nicht mehr alle. Sie hat immer ihre Enkelin dabei. Doch die ist kein lebendiges Kind, sondern …“
„Eine Puppe“, beendete Eleonora den Satz.
„Ja. Eine Puppe“, flüsterte Lucas. „Außerdem hatte Misses Greenwood sieben Söhne. Und sechs davon sind auf einmal spurlos verschwunden. Es gibt angeblich nur noch einen, der lebt. Der Älteste“
Eleonora sah ihn mit großen Augen an. Die Worte des Kellners erschreckten sie.
„Und wo lebt dieser Sohn?“, sie griff langsam nach der Zeitung und drehte den Artikel so, dass sie das große Bild auf dem Titelblatt von Red Side richtig herum ansehen konnte.
„Das weiß niemand. Er wurde lange nicht mehr gesehen, von niemandem. Es gibt Gerüchte, dass seine sechs Brüder im Keller von Red Side in einem Kerker gefangen gehalten werden. Andere sagen, sie seien verunglückt.“
Lucas Geschichte machte Eleonora Angst. Angst, aber auch neugierig. Sie hatte sich dafür entschieden, über Misses Greenwood und ihre Puppe ein Buch zu schreiben. Und so wie es aussah, sollte es ein richtig spannender Roman werden. Eleonora wollte zu Misses Greenwood auf ihr Schloss. Sie wollte diese Frau kennen lernen und herausfinden, was es mit den Geschichten von Red Side auf sich hatte. Eleonora war keine Frau, die man leicht von etwas fernhalten konnte. Sie wollte immer alles wissen und selbst herausfinden.
„Kann ich die mitnehmen?“, sie deutete auf die Zeitung, die vor ihr lag.
Lucas nickte. „Was haben Sie vor, Miss?“
„Ich werde Misses Greenwood einen Besuch abstatten“, zwinkerte sie und stopfte die Zeitung in ihre Tasche.
„Tun Sie, was Sie meinen, tun zu müssen. Aber ich rate Ihnen eins: Halten Sie sich von diesem Schloss fern, und von allem, was es beinhaltet.“ Lucas Stimme klang verschwörerisch. Doch Eleonora zuckte mit den Schultern und meinte selbstsicher: „Machen Sie mir einen Kaffee to go, bitte. Und einen für Misses Greenwood.“
Um zum Red Side Schloss zu gelangen, muss man zunächst ein Stück durch den Gloomy Forest laufen. Zu Eleonoras Erschrecken musste sie feststellen, dass das Red Side das am nächsten gelegene Nachbarshaus zu ihrer und Lorenzos Wohnung war.
Der Gloomy Forest war keineswegs für Spaziergänge geeignet, kein familienfreundliches Stück Natur in dem man Picknick machen konnte. Es gab nur einen schwer erkennbaren Weg, mehr einen Trampelpfad, dem Eleonora instinktiv folgte, um zum Schloss zu gelangen. Hier raschelte etwas im Dickicht, da bewegte sich etwas im Gebüsch. Es war erst früher Nachmittag, doch hier war es schon dunkel und grau. Da erblickte Eleonora das Schloss, in dem Misses Greenwood lebte.
Das Schloss, einst prächtig und machtausstrahlend, jetzt derbe und fad, zerstört und dunkel, lag etwas erhöht auf einem Berg. Unten parkte ein Polizeiauto, das Blaulicht war eingeschaltet und flackerte störend in den Wald hinein. Eleonora schlich langsam und vorsichtig die rutschigen Treppenstufen hinauf. Ein morsches Holzgeländer, welches Besuchern und Bewohnern sicher einmal Halt beim Aufstieg gegeben hatte, wackelte nun armselig den Weg hinauf, wenn man sich daran festhalten wollte. Oben angekommen führte ein Kiesweg zum großen hölzernen Eingangstor. Eine Hausklingel fand Eleonora nirgends. So mutig und neugierig sie auch war, ein Ort des Wohlfühlens war das hier nicht.
Mit zittrigen Händen schob sie das schwere, nasse Tor auf und stand im Innenhof des Schlosses. Staunend sah sie sich um. So ein riesiges Anwesen, und hier sollte nur Misses Greenwood leben? Eleonora musste an die Worte des Kellners denken. Sieben Söhne sollten hier eigentlich noch wohnen. Sie nahm ihr Handy heraus und schaltete die Kamera ein. Knipste ein Foto von dem Brunnen, dessen Leere unheimlich ins Erdreich ragte und von dem Turm, der seine rote Spitze in den Himmel bohrte. Eleonora öffnete eine der vier Türen, in der Hoffnung, irgendwo auf Misses Greenwood zu stoßen. Hier war nur ein verlassener Stall, in dem früher bestimmt mal Schweine oder Ziegen gehalten wurden.
Hinter der zweiten Türe befand sich ein leerer Waschraum, ein kaputtes Waschbecken rostete dort vor sich hin und eine alte Schubkarre stand eingestaubt daneben. Eleonora trat an das Waschbecken heran. Aus dem Wasserhahn tropfte es nervig, dicke Tropfen verschwanden mit einem lauten Echo im Abfluss. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel mit einem großen Sprung in der Mitte. Eleonora betrachtete sich in den kleinen Einzelteilen. Ihre Wangen waren rötlich von der eisigen Kälte, von ihren Wimpern tropfte die Tusche und zeichnete ihr dünne schwarze Spuren unter die Augen. Die schwarze Haarpracht klebte durchnässt an ihrem Kopf. London war so trist, so trüb und fad. Als sie sich vor einiger Zeit das Leben in London ausgemalt hatte, hatte sie an vieles gedacht. Doch nicht, dass sie einmal auf einem angeblichen Spukschloss in einer Kammer stehen und ihr trauriges Gesicht betrachten würde. Niemals. Nun wollte sie aber die Eingangstüre zum Wohnbereich der mysteriösen Misses Greenwood finden, um einige Worte mit ihr austauschen zu können und ihr ein paar Fragen zu stellen. Denn erst wenn sie Misses Greenwood besser kannte und ihr Leben verstand, würde sie über sie schreiben können. Hoffentlich nahm sich die alte Dame ein paar Minuten für ein Interview Zeit. Eleonora marschierte rüber zur nächsten Türe.
Vor ihr erstreckte sich ein langer, enger Gang mit einem Teppich, der einst rot war, doch jetzt mehr braun mit undefinierbaren Flecken. Hier herrschte ein säuerlicher Geruch, Eleonora verzog das Gesicht und folgte dem Gang.
Von der Decke hingen Spinnweben und an den Wänden krabbelten Käfer und saßen große dicke Spinnen. Eigentlich fürchtete Eleonora diese, doch hier, auf Red Side, waren sie vermutlich das geringere Übel und lösten lediglich ein leichtes Ekelgefühl aus. Der Gang war kalt, dunkel und schien unendlich lang. Endlich erreichte sie eine Art Eingangsbereich. Hier waren einige Nägel in die Wand geschlagen worden, an denen nun Mäntel von Misses Greenwood hingen. Dazu standen Stiefeletten am Boden. Alles braune oder schwarze Damenstiefel. Doch was war das?
Eleonora bückte sich vorsichtig und hob mit frierenden Händen ein Paar Schuhe auf. Glänzende Schuhe, viel größer als die anderen. Sie holte ihr Handy heraus und leuchtete mit dem Display die Schuhsohle ab. Größe 42. Männerschuhe! Und die Sohle war nass. Das bedeutete, sie wurden kürzlich noch getragen. Vielleicht gab es doch einen verbliebenen Sohn, der hier auf Red Side lebte? Ja, so musste es sein. Da war sich Eleonora ganz sicher.
Sie legte die Schuhe zurück und tappte weiter durch den finsteren Gang. So lange, bis sie einen Wohnbereich erlangte. Der rötliche Teppich schmückte auch hier den Boden und hielt vermutlich einen geringen Teil der Kälte des Bodens zurück.
„Misses Greenwood?“, rief Eleonora zaghaft. „Misses Greenwood, sind Sie zu Hause?“ In diesem Raum gab es tatsächlich ein Echo. Der Saal war groß, spärlich eingerichtet, die Decke reichte sehr weit nach oben. Niemand antwortete und Eleonora traute sich nicht, den Raum zu betreten. Sie spähte vorsichtig hinein und konnte das kaputte Fenster sehen, über welches in dem Zeitungsartikel berichtet wurde. Die Polizei hatte von außen ein gelbes Absperrband drüber geklebt und das große Loch mit einer dicken Plastikfolie notdürftig verschlossen.
„Es war um Punkt Mitternacht, Officer“, hörte sie da eine Stimme. Sie kam von nicht weit her. Misses Greenwood.
„Diese Informationen haben wir bereits, Misses Greenwood. Jetzt möchten wir mit Ihnen über den verschwundenen Schmuck sprechen“, entgegnete da eine Männerstimme. Ein Polizist musste bei ihr sein. Die beiden befanden sich im Schlafgemach, welches mit einer Türe zum Wohnsalon verbunden war.
„Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt hatte, fehlt mein Juwelenring, Officer!“,hörte Eleonora die alte Frau jammern. „Mein schöner Saphir!“
„Laut der Spurensicherung sind keine Handabdrücke an ihrem Fenster, Misses Greenwood. In dem gesamten Wohnsalon konnten keine fremden Spuren sichergestellt werden“, entgegnete der Polizist.
„Sie meinen also, es ist niemand eingebrochen?“, die Stimme der alten Dame war hörbar aufgewühlt.
„Hören Sie, Officer! Ich bin doch nicht verrückt! Der Ring lag in meiner Vitrine, neben meiner Enkelin! Und heute Morgen war er nicht mehr da. Es muss ihn jemand gestohlen haben!“, schimpfte sie laut.
Die Vermutung von dem Mann im Cafe sollte also wahr sein.
„Misses Greenwood, beruhigen Sie sich doch. Niemand hier glaubt, dass sie verrückt sind. Es ist durchaus möglich, dass die Fichte das Fenster zerstört hat und dann jemand durch das bereits offene Fenster eingedrungen ist und ihren Juwelenring entwendet hat. Ich nehme das mit aufs Protokoll. Wir überprüfen den Fall in den nächsten Tagen. Und Sie ruhen sich nun schön aus, Misses Greenwood“, hörte Eleonora ihn sprechen. Dann wurde die Türklinke heruntergedrückt und der Polizist verließ das Schlafgemach durch den Wohnsalon. Und stieß mit Eleonora zusammen.
„Ich … Ich habe keine Klingel gefunden“, stotterte sie. „Ich möchte zu Misses Greenwood. Ist sie da?“, fragte Eleonora, als wäre sie gerade erst hereingekommen.
„Sie ist in ihrem Schlafzimmer“, nickte der Polizist und schien sich nicht weiter um sie zu kümmern.
Dann verschwand er pfeifend in dem dunklen Gang.
Eleonora betrat endlich den Wohnsalon. „Misses Greenwood?“, rief sie erneut.
„Wer ist da?“, krächzte sie.
„Ich bin Eleonora Bianchi, wir sind uns gestern im Cafe Fresh begegnet“, antwortete Elenora laut.
Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Und da stand sie. Elisabeth Greenwood. Eingehüllt in ein altes Samtkleid, welches seine Blütezeit bestimmt schon im letzten Jahrhundert gehabt hatte. Ein Kopftuch bis zu den Augenbrauen gezogen. Sie drehte sich zu Eleonora und sofort fiel ihr Blick auf die starre Porzellanpuppe in ihren Armen. Das Schlafzimmer war dunkel und die weiße Haut der Puppe schien schon fast zu leuchten. Der Anblick schockte Eleonora.
„Oh, ich erinnere mich an Sie“, grinste sie auf eine unheimliche Art und zeigte ihre vergoldeten Zähne. Langsam tat sie ein paar Schritte auf Eleonora zu. Ihr Gesicht kam dem von Eleonora beängstigend näher. Ihre Gesichtshaut war faltig, dünn wie Pergament. An ihrer Wange prangte eine dicke Warze und ihre hellen Augen schienen wässrig. „Aber was zur Hölle haben Sie in meinem Haus verloren, Kindchen?“, rief sie.