Kitabı oku: «Rot und Schwarz»
Stendhal
Rot und Schwarz
Neu verlegt, in Sprache und Schreibweise modernisiert
Impressum
Covergestaltung: andersseitig.de
Übersetzer: Arthur Schurig
Digitalisierung: Gunter Pirntke
BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke
2016 andersseitig.de
ISBN: 9783961180882
andersseitig Verlag
Helgolandstraße 2
01097 Dresden
info@new-ebooks.de
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1. Kapitel
Die kleine Stadt Verrières kann für eine der hübschesten der Freigrafschaft gelten. Ihre weißen Häuser mit Spitzdächern von roten Ziegeln schmiegen sich dem Hang einer Höhe an, deren wellige Silhouette von den Wipfeln mächtiger Kastanien getragen wird. Ein paar hundert Schritt unterhalb der ehedem von den Spaniern erbauten, heute verfallenen Befestigungen fließt der Doubs.
Gegen Norden ist Verrières geschützt durch einen hohen Bergrücken, einen Ausläufer des Juragebirges. Die zackigen Gipfel des Verra sind schon bei den ersten Oktoberfrösten mit Schnee bedeckt. Ein munterer Bach, dem Gebirge entsprungen, durchrauscht das Städtchen und ergießt sich in den Doubs. Sein Wasser treibt eine Menge Sägemühlen. Diese einfache Industrie gewährt dem größeren Teil der mehr städtischen denn ländlichen Einwohnerschaft ein behagliches Dasein. Indessen verdankt das Städtchen seinen Reichtum nicht den Sägemühlen, sondern der Herstellung von bunter sogenannter Mülhauser Leinwand. Infolge der allgemeinen Wohlhabenheit sind seit Napoleons Sturz fast alle Häuserfassaden von Verrières neu erstanden.
Kaum hat man den Ort betreten, so zerreißt einem der laute Lärm einer dröhnenden, gar bedrohlich aussehenden Maschine die Ohren. Ein paar Dutzend wuchtiger Hämmer erschüttern mit ihrem Auf und Nieder das Straßenpflaster. Sie werden durch ein Rad gehoben, das der Gebirgsbach treibt. Jeder dieser Hämmer stellt täglich viele, viele tausend Nägel her. Frische hübsche Mädchen schieben den Ungetümen Eisenstreifen zu, die im Handumdrehen zu Nägeln verwandelt werden. So grob diese Arbeit ist, sie wird doch immer von den Fremden angestaunt, die zum ersten Mal in die Berge zwischen Frankreich und der Schweiz kommen. Fragt man, wem die schöne Nagelfabrik gehöre, die einen halbtaub macht, wenn man die Hauptstraße dahingeht, so erhält man in der breiten Mundart der Gegend die Antwort: »Na, dem Herrn Bürgermeister!«
Wer ihn sehen will, braucht nur auf der Hauptstraße, die vom Doubs zur Höhe führt, eine Weile aufzupassen. Man kann hundert gegen eins wetten, dass alsbald ein großer stattlicher Mann mit gewichtiger Amtsmiene auftaucht, bei dessen Annäherung alle Leute flugs ihre Hüte ziehen.
Sein Haar ist ergraut. Und grau ist auch sein Anzug. Er ist Ritter mehrerer Orden. Er hat eine hohe Stirn, eine Adlernase und ein alles in allem nicht unübles Gesicht. Auf den ersten Blick findet man darin wohl die Würde des Stadtoberhauptes gepaart mit der geselligen Gewandtheit des angehenden Fünfzigers. Weltmännische Augen entdecken allerdings gar bald die unangenehmen Merkmale von Selbstzufriedenheit und Dünkel, denen sich geistige Beschränktheit und Fantasiearmut gesellen. Schließlich kommt man dahinter, dass die ganze Pfiffigkeit dieses Mannes darin besteht, sich prompt bezahlen zu lassen, was man ihm schuldet, seinen eigenen Pflichten dagegen möglichst spät nachzukommen.
So sieht also der Bürgermeister von Verrières aus: Herr von Rênal. Hat er die Straße gravitätisch durchschritten, dann verschwindet er im Rathaus. Hundert Schritte weiter bergauf erblickt man ein recht stattliches Haus, daran einen großartigen Garten hinter einem schmiedeeisernen Gitter. Darüber sieht man die Kammlinie der Burgunder Berge, wie zur Augenweide hingezaubert. Es ist ein Bild, vor dem der Wanderer den üblen Dunstkreis des kleinlichen Geldsinnes, der ihn eben umfangen wollte, wieder vergisst.
Man erfährt, dass dieses Haus dem Bürgermeister gehört. Die Erträgnisse seiner großen Nagelfabrik gestatten ihm diesen Prachtbau aus Hausteinen, der unlängst erst fertig geworden ist. Die Familie Rênal, angeblich alter spanischer Herkunft, war längst vor der Eroberung des Landes durch Ludwig XIV. hier ansässig.
Die Restauration von 1815 machte ihn zum Bürgermeister. Seitdem schämt sich Rênal, Fabrikant zu sein. Und doch wären die Mauern, die den herrlichen Garten in verschiedene Terrassen gliedern, bis hinab zum Doubs, ohne das kaufmännische Geschick ihres Besitzers nicht vorhanden.
Man findet in Frankreich bei weitem keine so malerischen Gärten wie im Umkreis von deutschen Handelsstädten wie Leipzig, Frankfurt, Nürnberg und andernorts. In der Freigrafschaft steigt man in der Achtung seiner Mitbürger, je mehr man Steine auf seinem Grundstück türmt. Der Garten des Herrn von Rênal war voll solcher Bauten, obendrein aber ein Gegenstand der Bewunderung, weil gewisse kleine Parzellen des Gartens bei ihrer Erwerbung buchstäblich mit Gold aufgewogen worden waren. So lag zum Beispiel die Sägemühle, die einem am Eingang von Verrières durch ihre Lage am Doubsufer und durch die am Dache angebrachte Firma mit dem Namen SOREL in Riesenlettern auffällt, noch vor sechs Jahren an der Stelle, wo man zur Zeit die Mauer der vierten Rênalschen Gartenterrasse aufführt. Der Bürgermeister hat bei all seinem Hochmut manchen Gang zum alten Sorel machen müssen, einem dickköpfigen groben Bauern, und ihm reichliche Goldfüchse auf den Tisch gezählt, ehe er die Verlegung der Mühle erreichte. Dazu musste er in Paris seinen ganzen Einfluss aufbieten, bis er die Genehmigung zur Ableitung des öffentlichen Baches bekam, der die Mühle trieb. Dieser Gnadenbeweis ward ihm nach den Wahlen von 182* zuteil.
Sorel erhielt fünfhundert Schritt abwärts am Doubs vier Morgen Land für einen. Und obgleich der neue Platz für seinen Bretterhandel weit günstiger war, so verstand es Vater Sorel – wie er jetzt in seiner Wohlhabenheit allgemein hieß – doch, seinem ungeduldigen und gebietshungrigen Nachbarn überdies sechstausend Franken abzuknöpfen. Dieses Abkommen wurde von den durchtriebenen Spießbürgern viel bekrittelt. Und einmal, an einem Sonntag (es ist jetzt vier Jahre her), da begegnete Herr von Rênal, als er im Bürgermeisterstaat aus der Kirche kam, dem alten Sorel samt seinen drei Söhnen und merkte von weitem, wie der Alte, seiner ansichtig, lächelte. Bei diesem Lächeln ging dem Bürgermeister eine Erleuchtung auf. Seitdem meint er, den Tausch hätte er billiger haben können.
2. Kapitel
Das Glück stand Herrn von Rênal auch in seiner Eigenschaft als Bürgermeister zur Seite. Die Stadtpromenade, die sich mehr als dreißig Meter hoch über dem Flussbett am Berghange hinzieht, bedurfte einer mächtigen Untermauer. Dank ihrer wunderbaren Lage ist sie einer der malerischsten Aussichtspunkte Frankreichs. Aber jedes Frühjahr überfluteten die Bergwässer den Weg, rissen tiefe Furchen auf und machten ihn ungangbar. Dieser allgemein beklagte Übelstand versetzte Herrn von Rênal in die angenehme Notwendigkeit, seine Amtszeit durch ein Mauerwerk von sechseinhalb Meter Höhe und sechzig bis siebzig Meter Länge zu verewigen.
Das Stadtoberhaupt musste drei Reisen nach Paris unternehmen, denn der vorige Minister des Innern war der erklärte Todfeind der Promenade von Verrières. Jetzt ist die Mauer mit ihrer mehrere Fuß hohen Brüstung bald fertig. Sie wird mit grauen, ins Bläuliche spielenden Steinplatten belegt, an die man sich gern lehnt, um den Blick in das Doubstal zu genießen. Drüben, auf dem andern Ufer, öffnen sich fünf oder sechs Täler, in deren geschlängelten Gründen Bäche glitzern, die immer wieder kleine Wasserfälle bilden, bis sie schließlich in den Doubs laufen. Die Sonne brennt heiß in diesem Berglande. Wenn sie im Zenit steht, muss sich der verträumte Wanderer unter die prächtigen Platanen der Stadtpromenade retten. Diese Bäume verdanken ihr üppiges Gedeihen und ihr schönes Blaugrün ebenfalls dem Herrn Bürgermeister, der beim Bau seiner großen Mauer die Promenade durch Erdanschüttungen um gut zwei Meter hat verbreitern lassen, ungeachtet aller Einreden des Stadtrates.
An besagter Stadtpromenade, dem Cours de la Fidélité (zu deutsch: Allee der Treue) – man liest diese patriotische Bezeichnung auf Marmortäfelchen an fünfzehn bis zwanzig Stellen, was Herrn von Rênal einen Orden mehr eingetragen hat – ist nur eines auszusetzen: die barbarische Art, mit der die hohe Obrigkeit die üppig wachsenden Platanen immer wieder stutzen lässt. Geschoren sehen sie mit ihren kugeligen nackten Schädeln wie gemeine Kohlköpfe aus, während sie viel lieber die herrlichen vollen Formen ihrer Schwestern drüben in England hätten. Aber der Wille des Herrn Bürgermeisters ist höchstes Gesetz, und sämtliche Bäume im Stadtgebiet werden alljährlich zweimal erbarmungslos verschnitten. Die Liberalen im Orte behaupten sogar (aber sie übertreiben), dass die Schere des Stadtgärtners noch unerbittlicher geworden sei, seitdem sich der Vikar Maslon den Ertrag der Baumschur anzueignen beliebt. Das ist ein junger Geistlicher, vor ein paar Jahren von Besançon herversetzt, um dem Abbé Chélan und etlichen andern Pfarrern der Nachbarschaft auf die Finger zu sehen.
Ein alter Stabsarzt der ehemaligen Armee in Italien, der sich in Verrières zur Ruhe gesetzt hatte und zu seinen Lebzeiten (wie der Bürgermeister zu sagen pflegt) Jakobiner und Bonapartist, alles beides zusammen, gewesen war, erlaubte sich gelegentlich einmal, über die regelmäßig wiederkehrende Verstümmelung der schönen Bäume Beschwerde zu führen.
Mit der leichten Herablassung, die angebracht ist, wenn ein Royalist mit einem napoleonischen Stabsarzt und Ritter der Ehrenlegion spricht, entgegnete Rênal:
» Ich liebe den Schatten. Ich lasse meine Bäume verschneiden, damit sie Schatten geben. Meiner Ansicht nach sind Bäume zu nichts anderem da. Eine Ausnahme macht der nützliche Nussbaum. Aber die Platanen bringen ja nichts ein!«
Etwas einbringen! Das war das geflügelte Wort, das in Verrières allenthalben den Ausschlag gab. Hierin verdichtete sich das Denken und Trachten von mehr als drei Vierteln der Einwohner.
Etwas einbringen! Das ist das Leitmotiv im Betriebe dieser Kleinstadt, die einem so gefällt. Der Fremde, der sie betritt, wird durch die Anmut der kühlen tiefen Täler ringsum bezaubert. Er bildet sich zunächst ein, ihre Bewohner seien empfänglich für das Schöne. Sie reden auch oft genug von den Reizen ihrer Heimat und rühmen sie gar sehr. Aber dies geschieht nur, weil es die Fremden anlockt, die ihr Geld in den Gasthäusern lassen, was, auf dem Umwege der Steuern, der Stadt etwas einbringt.
An einem schönen Herbsttage ging Herr von Rênal auf der Stadtpromenade spazieren, seine Frau am Arm. Sie hörte zwar ihrem Manne zu, der in gewichtigem Tone sprach, folgte aber mit ihren Blicken voller Unruhe den Bewegungen ihrer drei Knaben. Der älteste, der elf Jahre alt sein mochte, lief immerfort an die Brüstung und machte Miene, hinaufzuklettern. Jedes Mal rief sie mit sanfter Stimme »Adolf!«, worauf der Junge von seinem kecken Vorhaben abließ. Frau von Rênal war offenbar eine Dreißigerin, doch noch sehr hübsch.
Ihr Mann redete immer weiter. Er sah schlecht gelaunt aus und blasser denn sonst.
»Es soll ihm übel bekommen, diesem lieben Herrn aus Paris!« sagte er. »Ich habe auch meine Freunde bei Hofe…«
Dieser liebe Herr aus Paris, auf den der Bürgermeister so schimpfte, war der bekannte Philanthrop Appert, der es zwei Tage vorher zuwege gebracht hatte, nicht allein das Stadtgefängnis und das Armen- und Arbeitshaus von Verrières zu besichtigen, sondern auch das Spittel, das vom Bürgermeister und den ersten Grundbesitzern des Ortes ehrenamtlich verwaltet ward.
»Sag einmal«, warf Frau von Rênal bescheiden ein, »was kann dir dieser Herr aus Paris denn anhaben, wo du das Gut der Armen mit peinlichster Gewissenhaftigkeit verwaltest?«
»Solche Leute kommen bloß, um alles mögliche auszuschnüffeln und hinterher in den liberalen Zeitungen zu benörgeln.«
»Die liest du ja nie, mein Lieber!«
»Aber man kriegt sie doch zu hören, diese Jakobinerartikel! Es stört einen und hindert uns an der sozialen Arbeit. Was mich anbelangt, ich werde das dem Pfarrer nie und nimmer verzeihen!«
3. Kapitel
Chélan, der Pfarrer von Verrières, war ein alter Mann von achtzig Jahren, der sich aber in der frischen Bergluft einer Gesundheit erfreute, die ebenso eisern war wie sein Charakter. Er hatte das Recht, das Stadtgefängnis, das Spittel und sogar das Armenhaus zu jeder Stunde zu betreten. Der ihm von Paris aus empfohlene Appert war wohlweislich in der neugierigen Kleinstadt früh Schlag sechs Uhr angekommen und hatte sich schnurstracks in das Pfarrhaus begeben.
Als der alte Mann den Brief las, den der Marquis von La Mole, Pair von Frankreich, der reichste Großgrundbesitzer des Kreises, an ihn richtete, stand er lange nachdenklich da.
»Ich bin alt und beliebt hier«, murmelte er schließlich vor sich hin. »Man wird es nicht wagen!«
Alsbald wandte er sich dem Herrn aus Paris zu. In seinen Augen glänzte das heilige Feuer der Freude über eine schöne, nicht ungefährliche Tat.
»Herr Appert, ich werde Sie führen«, sagte er. »Nur bitte ich Sie, sich in Gegenwart des Kerkermeisters und vor allem des Aufsehers im Armenhaus nicht über das zu äußern, was wir da sehen werden.«
Appert merkte, dass er es mit einem Gemütsmenschen zu tun hatte. Er folgte dem ehrwürdigen Geistlichen und besichtigte das Stadtgefängnis, das Spittel und das Armenhaus. Er stellte häufig Fragen, erlaubte sich jedoch selbst auf die verfänglichsten Auskünfte nicht das geringste Wort des Tadels.
Die Besichtigung dauerte mehrere Stunden. Hierauf lud der Pfarrer den Menschenfreund zu sich zum Mittagmahl ein. Der entschuldigte sich damit, er habe dringliche Briefe zu schreiben. In Wahrheit wollte er seinen hochherzigen Führer nicht noch mehr in Gefahr bringen.
Als die beiden Herrn am Nachmittag nochmals nach dem Stadtgefängnis kamen, stand der Kerkermeister, ein baumlanger Kerl mit Säbelbeinen, am Tor. Sein niederträchtiges Gesicht war vor Schreck verzerrt.
»Herr Pfarrer«, sagte er, sobald er ihn erblickte, »ist der Herr in Ihrer Begleitung nicht Herr Appert?«
»Warum?« fragte der Geistliche.
»Ich habe nämlich seit gestern die strengste Order… Der Herr Landrat hat extra den Brigadier hergejagt, und der ist die ganze Nacht unterwegs gewesen. Galopp hat er reiten müssen: ich soll Herrn Appert nicht in das Stadtgefängnis lassen.«
»Ich will ihnen nur sagen, Herr Noiroud«, gab ihm Chélan zur Antwort, »der Fremde, der mich begleitet, ist Herr Appert. Sie wissen wohl, dass ich zu jeder Stunde bei Tag und Nacht das Recht habe, das Gefängnis zu betreten, und dass ich mich dabei begleiten lassen kann, von wem ich will!«
»Jawohl, Herr Pfarrer!« gab der Kerkermeister kleinlaut zu und zog den Kopf ein wie eine Bulldogge, die sich vor dem Stocke duckt. »Aber, Herr Pfarrer, ich habe Frau und Kinder. Wenn es herauskommt, werde ich abgesetzt. Ich habe nichts zum Leben als bloß meine Stelle.«
»Auch mir wäre es sehr schmerzlich, wenn ich meine Stelle verlöre«, sagte der gutmütige alte Mann, und seine Stimme wurde immer weicher.
»Das ist ganz was andres!« erwiderte der Kerkermeister laut. »Sie, Herr Pfarrer, Sie haben bekanntlich eine Rente von achthundert Franken aus dem hübschen Landgütchen.«
Das waren die Geschehnisse, die man in Verrières seit zwei Tagen erörterte und in einem Dutzend verschiedener Lesarten entstellte. Sie hatten den Pfuhl der Leidenschaften des Städtchens bis in den Grund aufgewühlt. Augenblicklich gaben sie den Stoff zu dem kargen Gespräch zwischen Herrn von Rênal und seiner Frau.
Der Bürgermeister hatte am Vormittag in Begleitung von Herrn Valenod, dem Vorstand des Armenamts, den Pfarrer aufgesucht und ihm sein größtes Missfallen ausgedrückt. Der Geistliche, der keinen hohen Gönner hatte, empfand die volle Schwere ihrer Worte.
»Meine Herren«, erwiderte er, »so werde ich denn mit meinen achtzig Jahren der dritte Pfarrer sein, den man in hiesiger Gegend absetzt. Ich bin jetzt sechsundfünfzig Jahre hier und habe nahezu alle Einwohner der Stadt getauft. Als ich herkam, war Verrières nur ein Marktflecken. Es ereignet sich Tag um Tag, dass ich junge Leute traue, deren Großeltern ich auch schon getraut habe. Die Stadt ist meine Familie. Aber als ich vorgestern den Fremden sah, den Herrn aus Paris, da habe ich mir gesagt: Möglicherweise ist das ein Liberaler. Deren gibt es ja viel zu viele. Aber was kann er unsern Armen und unsern Gefangenen Böses antun?«
Die Vorwürfe des Bürgermeisters und besonders des Armenamtsvorstandes wurden nur noch heftiger.
»Meine Herren!« rief der alte Pfarrer mit bebender Stimme. »Veranlassen Sie, dass ich gemaßregelt werde! Deswegen werde ich doch im Lande bleiben. Wie Sie wissen, habe ich vor achtundvierzig Jahren ein Grundstück geerbt, das mir achthundert Franken Pacht bringt. Davon werde ich leben. Meine Pfarre gewährt mir auch nur meinen Unterhalt, und so schreckt mich Ihre Drohung, sie mir zu nehmen, nicht besonders.«
Herr von Rênal lebte mit seiner Frau sehr glücklich. Trotzdem wollte er eben heftig werden, da er nicht wusste, was er sagen sollte, als sie ihm bescheiden jenen Einwand wiederholte:
»Was kann dieser Herr aus Paris den Gefangenen denn Böses antun?«
Da stieß sie plötzlich einen Schrei aus. Ihr zweites Söhnchen war eben auf die Brustwehr geklettert und lief darauf entlang, ungeachtet, dass die Mauer auf der andern Seite gegen zehn Meter senkrecht in den Weinberg abfiel. Die Furcht, der Junge könne einen Schreck bekommen und hinabstürzen, hinderte sie, ihn zu rufen. Schließlich sah sich das Kind, das an seiner Waghalsigkeit Freude hatte, nach seiner Mutter um und bemerkte ihre Angst. Da sprang es auf die Promenade und rannte zu ihr. Es ward tüchtig ausgescholten.
Der kleine Zwischenfall gab dem Gespräch eine Wendung.
»Auf jeden Fall möchte ich den jungen Sorel, den Sohn des Sägemüllers, zu uns nehmen«, erklärte Herr von Rênal. »Er soll die Kinder beaufsichtigen. Wir können die Racker schon nicht mehr bändigen … Er ist angehender Priester, also ein tüchtiger Lateiner. Er wird sie vorwärtsbringen. Hat er doch einen festen Charakter, wie der Pfarrer meint. Ich werde ihm dreihundert Franken Jahresgehalt und Kost geben. Nur an seiner politischen Gesinnung zweifle ich ein bisschen. Er war nämlich der Liebling des alten Stabsarztes, des Ehrenlegionärs, der bei den Sorels gehaust hat, als angeblicher Vetter von ihnen. Wer weiß, ob das nicht ein verkappter Spion der Liberalen gewesen ist. Er sagte zwar immer, unsre Bergluft wäre gut gegen sein Asthma. Aber weiß man es denn? Er hat alle Feldzüge des Bonapartes in Italien mitgemacht. Man munkelt sogar, er habe seinerzeit gegen das Kaiserreich gestimmt. Dieser Jakobiner hat dem jungen Sorel das Latein beigebracht und ihm den Haufen Schmöker hinterlassen, den er mitgebracht hatte. Übrigens wäre es mir niemals eingefallen, den Sohn dieses Holzhackers zu unsern Jungen zu nehmen, aber der Pfarrer hat mir erzählt – gerade tags vor der Geschichte, die uns für ewig auseinandergebracht hat –, dass der Sorel seit drei Jahren Theologie studiert und in ein Priesterseminar eintreten will. Somit ist er kein Liberaler. Er ist Lateiner.«
»Auch in andrer Hinsicht ist mein Plan nicht übel«, fuhr Rênal fort, indem er seiner Frau einen verschmitzten Blick zuwarf. »Der Valenod protzt neuerdings mit den zwei prächtigen Normannen, die er sich für seine Kutsche gekauft hat. Aber einen Erzieher für seine Kinder hat er nicht.«
»Wenn er uns unsern nur nicht wegschnappt…«
»Du bist also auch dafür!« unterbrach Rênal seine Frau und dankte ihr für den trefflichen Einfall mit einem Lächeln. »Gut! Somit ist die Sache abgemacht!«
»Du mein Gott! Du bist recht schnell entschlossen, Bester!«
»Ja, ja! Weil ich weiß, was ich will! Der Pfarrer hat das heute auch verspürt. Wir wollen uns nichts vormachen: wir sind hier von Liberalen umringt! Alle diese Leinwandhändler sind voller Neid auf mich. Darüber bin ich mir ganz klar. Zwei oder drei von ihnen sind nahe daran, reiche Leute zu werden. Es soll mir Spaß machen, wenn sie die Kinder des Herrn von Rênal mit ihrem Erzieher auf der Stadtpromenade erblicken. Das wird ihnen imponieren. Mein Großvater hat uns oft erzählt, dass er in seiner Jugend einen Erzieher hatte … Das kostet mich zwar hundert Taler, aber es ist für uns eine notwendige Ausgabe, um standesgemäß aufzutreten.«
Der plötzliche Entschluss versetzte Frau von Rênal in tiefes Nachdenken. Sie war eine große stattliche Erscheinung, ehedem der Stern der Gegend, wie man in den Bergen zu sagen pflegt. Ihr Wesen war unsagbar schlicht. Ihr Gang jugendhaft. Ihre unbewusste, keusche und frische Grazie wäre für einen Pariser süße Wollust gewesen. Aber Frau von Rênal hätte sich geschämt, wenn ihr ein solcher Eindruck bekanntgeworden wäre. Gefallsucht und Geziertheit waren ihrem Herzen fremde Dinge. Valenod, der Armenamtsvorstand, ein reicher Mann, hatte ihr, wie es hieß, den Hof gemacht, aber ohne Erfolg. Das hatte ihrer Tugend den Heiligenschein verliehen, denn Valenod war ein ansehnlicher junger Mann. Mit seinem kräftigen Körperbau, seinem roten Gesicht und seinem langen schwarzen Backenbart war er einer jener ungeschlachten, dünkelhaften und lärmigen Burschen, die unter Provinzlern für schöne Männer gelten.
Frau von Rênal, eine sehr scheue und sichtlich ganz andersartige Natur, war insbesondere durch die ewige Unruhe und die heftige laute Art Valenods abgeschreckt worden. Da sie sich von allem fernhielt, was in Verrières für lustig galt, war sie in den Ruf gekommen, ungemein adelsstolz zu sein. Derlei kam ihr gar nicht in den Sinn; nur war sie seelenfroh, dass die Verrièrer sie seltener aufsuchten. Übrigens galt sie in den Augen ihrer Bekanntinnen für dumm, dieweil sie ihrem Manne gegenüber so gar keine Diplomatin war und sich die besten Gelegenheiten, einen schönen neuen Hut aus Paris oder Besançon zu bekommen, regelmäßig entgehen ließ. Es war ihr alles recht, wenn sie nur in ihrem Garten einsam und allein bleiben durfte.
Bei ihrem harmlosen Gemüt verstieg sie sich weder dahin, ihren Mann zu kritisieren, noch gar, sich einzugestehen, dass er sie langweilte. Ohne es in Worte zu fassen, hatte sie sich damit abgefunden, dass es zwischen Mann und Frau keine weiteren Zärtlichkeiten gäbe. Am meisten liebte sie ihren Gatten, wenn er ihr von seinen Plänen mit den Kindern erzählte. Der eine sollte Offizier, der andre Verwaltungsbeamter und der dritte Geistlicher werden. Alles in allem fand sie ihren Mann weniger langweilig als alle anderen Männer, die sie je kennengelernt hatte.
Diese Beurteilung Rênals durch seine Gattin war durchaus verständig. Der Bürgermeister von Verrières galt für witzig und weltmännisch, und zwar, weil er über ein Dutzend spaßiger kleiner Geschichten verfügte. Die hatte er von einem Onkel geerbt, dem Hauptmann a. D. von Rênal, der vor der Revolution im Infanterie-Regiment des Herzogs von Orleans gestanden und in Paris in den Salons des Fürsten verkehrt hatte. Dort war er mit allerhand berühmten und berüchtigten großen Damen und Herren in Berührung gekommen. Diese Persönlichkeiten erschienen nun in den Anekdoten des Bürgermeisters oft genug, wenngleich er die Wiederholung dieser heiklen Geschichten allmählich selber satt bekam. Er gab sie nur noch bei besonderen Gelegenheiten zum besten. Da er außerdem sehr höflich war, abgesehen in Geldangelegenheiten, so galt er mit Recht für den größten Aristokraten von Verrières.