Kitabı oku: «Jakob», sayfa 2

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Jakob und seine Brüder waren gelehrig und wissbegierig.

Vertrauten der Frau, die es auf jeden Fall gut mit ihnen meinte und sie schon früh aufgeklärt hatte. Sie wussten Bescheid, um die ganze Frauenproblematik und das gereizte Verhalten während dieser bestimmten Zeiten.

Jakob betrachtete seine Klassenkameradinnen nun etwas mehr, auch genauer und etwas näher unter diesem Gesichtspunkt.

Doch das war schwer.

Für ihn nicht auszumachen. Er konnte kaum unterscheiden, ob die Mädchen seiner Klasse nur das Frauenproblem hatten oder ob sie immer so empfindlich grillenhaft drauf waren. Er merkte auch nie, wenn ein Mädchen etwas von ihm wollte.

Hin und wieder fragte ihn ein Freund: „Wo hast du denn heute deine Freundin gelassen?“

Jakob: „Hä?“

Er sah sich nach allen Richtungen um und konnte nur verwundert, allerdings auch irgendwie verlegen zugeben: „Bin mir nicht klar darüber, eine zu haben.“

Das traf es.

Er war sich nicht klar darüber. Aber die Mädchen hatten das untereinander einfach mal so festgelegt. Und im Prinzip für ihn geregelt. Jakob ließ es sich gefallen.

„Gut, dann hab ich also eine Freundin.“

Er rückte sich seine Jacke am Kragen etwas zurecht und fuhr mit den Fingern von vorn nach hinten beidseitig durch die Haare.

„Welche ist es denn? Und seit wann? Sieht sie wenigstens gut aus?“

Und der Freund, der auf dem Gebiet längst viel weiter war, brachte Jakob, wie schon häufiger, wieder einmal auf den neuesten Stand.

Jakobs Vater mischte sich selten ein, wenn es um solche Belange ging, hatte aber immer ein offenes Ohr. War eher für die praktischen Dinge zuständig. Anton erklärte den Söhnen die Welt. Zeigte auf, wie viel man mit den eigenen Händen schafft und ab wann es nötig wird, eine Fachkraft heranzulassen. Er brachte ihnen allerlei Fähigkeiten bei, erläuterte, welche Bücher maßgebend seien oder woran und wie man sich im freien Gelände orientiert. Barbara legte ihnen Gewissen und Anstand, Mitgefühl und Verständnis ans Herz. Auch Toleranz gegenüber einem Jeden. Beide hatten in ihrer Ehe durchaus eine Rollenverteilung, die aber Jakob ebenfalls nicht recht durchschaute. Es reichte, wenn sie funktionierte. Was Jakob aber besonders imponierte, war: Der Vater stellte sich immer vor seine Frau, um sie zu beschützen. Und er stellte sich hinter sie, um sie zu unterstützen. Sie mussten einfach über alles miteinander sprechen, soviel bekam er mit, und das wohl bis spät in die Nacht hinein.

Konspirierten auch, als es um Jakobs Lehrausbildung ging. Manches schloss sich gleich von selbst aus. Bei den Zensuren kam bestimmt nur ein Handwerksberuf in Frage. Das war doch zu regeln. Auch Jakob war daran interessiert. Überaus sogar, mit einem solchen Gedanken konnte er sich anfreunden.

Aber Jakob redet nicht.

Ist sich klar: Alles kann es sein. Nur kein Maurer.

Wenn Jakob reden würde,
kämen gut durchdachte Ferien ans Licht

Denn da war etwas, was lockte.

Gut, dass endlich Sommerferien in Sicht waren, nur einen Monat Schule noch, dann das erste eigene Geldverdienen.

Schon im Februar hatte sich Jakob ernsthaft um einen Job in der HO-Kaufhalle bemüht. Da er im Juni vierzehn werden wird, durfte er laut Gesetz bis zu drei Wochen Ferienarbeit leisten. Sicher, er hatte darüber nachgedacht, er hätte auch bei seinem Vater auf einer der zahlreichen Baustellen oder bei seiner Mutter im Kinderheim in der Küche als Helfer unterkommen können. Aber nee, ein Jakob nicht. Der wollte bei den Eltern nicht auch in den Ferien noch unter der Fuchtel stehen. Wollte seine eigenen Erfahrungen machen. Endlich.

In der ersten Ferienwoche hieß es: 7.30 Uhr ist Beginn.

Prompt konnte man Jakob schon eine viertel Stunde vorher am Personaleingang hin- und herlaufen sehen, damit eine Verspätung unter jeglichen Umständen von vornherein auszuschließen ist. Schließlich hatte er im Kopf, der erste Eindruck ist der beste, und er wollte sich die Arbeit noch weiter für künftige Ferien sichern. Denn begehrt waren solche Jobs. Seine drei Wochen als Lagerhelfer in dieser Kaufhalle vergingen wie im Fluge. Schnell stellte Jakob fest, dass es ihm recht flott von der Hand ging, flotter als anderen, und er konnte dem einen gewissen Spaß abgewinnen. Wieso auch nicht?

Es waren ohnehin immer die gleichen Abläufe: Waren entgegennehmen, sie im Lager unterbringen oder gleich im Verkauf in die Regale einsortieren. Verderbliches wurde meist schon am Vorabend raus auf die Rampe gefahren und in Containern entsorgt. Nur bei der Milch verhielt es sich anders. Das war eine Wissenschaft für sich und war wesentlich umständlicher. Die musste sortiert werden.

Die H-Milch wurde in bedruckten Plastikbeuteln, die am oberen und unteren Ende verschweißt waren, geliefert. Immer ein Liter pro Beutel. Die lagen dann, wenn es ganz schlimm kam, in riesigen verzinkten Aluminiumwannen. Am Boden jeder Wanne gab es dafür einen Ablauf.

Wenn dann hier und da einige Milchbeutel an den Schweißnähten kaputtgegangen waren, wurden die noch unversehrten, aber glitschig-schwabbelnden per Hand herausgefischt, mit einem Lappen einigermaßen trocken gewischt, in kleinere viereckige Kübel sortiert und schließlich wieder in der Verkaufsraum gefahren. Oder sie wurden, falls das Verfallsdatum überschritten war, mit einem Messer aufgeschnitten und die noch übrigen leeren Folienfetzen wurden gekonnt aus der weißen Lake gefischt. ‚Igitt!’ Die in der Wanne verbliebene Milch wurde nun in verschließbare Kübel abgelassen. Im Sommer eine üble, sehr geruchsintensive Angelegenheit. Im Winter nur wenig anders. Allerdings, da konnte man Pech haben, wenn die Wanne draußen auf der Rampe stand. So hatte man entweder Milch mit Eisklumpen oder gleich einen großen Eisblock im Ganzen.

Doch war das noch nicht das Schlimmste, es ging noch einen Zacken schärfer. Wenn nämlich die Milch längst geronnen war, die zusammengeschüttet im Kübel unerträglich vor sich her stank, mit so einer dicken gelbbräunlichen Kruste oben drauf. Im Sommer zog das pausenlos die grün schimmernden Fliegen und auch größeres Getier an, wie Ratten.

Richtig ekelhaft.

Dagegen half auch kein Kübeldeckel, sofern er überhaupt vorhanden war. Schön und interessant anzuschauen indes waren die Milchschleier, die beim Ausspritzen der Alu-Wanne mit dem Wasserschlauch entstanden. Egal wie es kam, umpacken, sortieren, ein- und ausräumen der Regale waren an der Tagesordnung, ebenso wie das Fegen und Wischen sämtlicher Verkaufsräume.

Und das ständige Zählen.

Soviel gezählt hatte Jakob bis dahin in seiner ganzen Schulzeit nicht. Hier kamen Mathe und das richtige Leben zusammen. Geruchsintensiv wurde es außerdem, wenn mal ein paar Bier- oder Limoflaschen, aus welchen Gründen auch immer, zersprangen. Dann stank es so süßsauer.

Aber er war ja nur drei Wochen dort. Und das Geld, was er verdient hatte, wurde in bar ausgezahlt, so richtig mit Lohnschein, jedoch ohne großartige Abzüge. Ein wirklich sehr guter Verdienst! Die Mutter hatte es in Verwahrung genommen und für ihn auf das Sparbuch bei der Sparkasse eingezahlt.

Dort summierte es sich.

Und dann, ab jetzt, hatte er wirklich Ferien. Fünf Wochen Sommer, baden mit Freunden, herumhängen und ins Ferienlager fahren. Herrlich!

In den Winterferien allerdings durfte er nur eine Woche in seiner Kaufhalle arbeiten, mehr war nicht erlaubt.

Aber die Schule hatte für die Jüngeren Ferienspiele veranstaltet, und so konnte Jakob zwei Wochen zusätzlich als Ferienhelfer mitmachen. Eigentlich durfte er das gar nicht mehr, doch was der Eine weiß, macht den Anderen nicht heiß. Und so hatte Jakob mehr Geld verdient als mancher andere. Obwohl die Schule längst nicht so gut bezahlte wie der Handel, dachte sich Jakob: ‚Kleinvieh macht auch Mist.’ Ihm konnte es nur recht sein: war beschäftigt, von zu Hause raus, kam auf diese Weise kostenlos in den Zoo, ins Theater und hier und da hin. Das ging jedes Jahr so. In den Ferien wurde doppelt verdient und Spaß gab’s obendrein. Über Langeweile konnte er sich wirklich nicht beklagen.

Aber Jakob redet nicht.

Weiß Bescheid. Egal, ob das wen wundert.

Wenn Jakob reden würde,
verknüpfte sich Liebe mit Trauer und Tragik

Denn da war etwas, was er das erste Mal erlebte, was ihn lenkte.

Das Mädel kam mit einer Anmut daher, auf die sein ganzes Körperorchester anschlug. Obwohl die Sache mit den Mädchen zuvor auch schon so seine Besonderheit hatte: Ob Kindergartenzeit oder Pubertät, Jakob ließ sich gerne von Mädchen leiten. Auch richtig anleiten. Sie brauchten ihm bloß kundtun, was sie bei ihren Doktorspielchen sehen oder ausprobieren wollten, er zeigte sich ihnen gegenüber höflich.

Außerdem war er selbst ein bisschen neugierig.

Die Mädchen waren so seltsam anders. Und Jakob, der gelehrig und wissenshungrig war, konnte ihnen kaum etwas abschlagen.

Später aber, etwa ab der siebenten Klasse, konnte er ihnen neben kleinen, üblichen Knutschereien – wozu waren Klassenfahrten und Schuldiskos denn sonst gut? – jedoch bereits ein richtig treuer Freund sein.

Daran lag ihm viel.

Eigentlich fand er nichts wichtiger.

So war es denn auch mit seiner ersten Jugendliebe, einer Wochenend- und Ferienbeziehung. Selina lebte mit Eltern, Schwestern und dem Rest der Verwandtschaft im selben Ort, in dem seine Familie ihren Garten hatte. Wo er quasi jede freie Minute verbrachte. Bis zum Ende der Neunten.

Gerade fingen wieder einmal die Sommerferien an und strahlend blau war der Himmel vor Verheißung. Da aber: Plötzlich stand ein Umzugswagen vor genau dem Wohnblock, in dem er ein- und ausgegangen war.

„Mein Vater hat die Bewerbung seit langem laufen. Jetzt hat er die Stelle in Thüringen ganz kurzfristig bekommen und muss sie in ein paar Tagen schon antreten.“

„Und? Was wird aus uns?“

Jakob wusste zwar von sich, dass er manches erst etwas spät mitbekam, aber das nun wollte er keinesfalls wahrhaben. Er stieß ein paar Kieselsteine mit dem Fuß weg. Und hielt die Hände in die Taschen versenkt.

„Ich glaub einfach nicht, dass eine Brieffreundschaft ausreicht.“

„Lass es uns versuchen. Wir reden nochmal. In ein paar Tagen kommen wir sowieso wieder und holen die restlichen Sachen nach.“

Jakob stand allein da. Wie vor den Kopf gestoßen. Dass ein Schornsteinfeger so kurzfristig eine neue Stelle bekommen kann … Er begriff es nicht. Die Tränen ließen sich nur schwer verbergen, wo sie doch schon im LKW saß, sein Mädchen, und ihm hinter dem Fenster bloß noch winkte.

Die Enttäuschung war groß. Zu groß. Lange Zeit war es still um ihn.

Sieben Wochen. Das letzte Wochenende der Sommerferien war es denn, da machte er die Bekanntschaft eines blonden, hübschen Mädchens in seinem Alter. Sie war so ganz anders als die Mädchen, die er bis dahin kennengelernt hatte. Sandra war viel reifer in ihrem Denken, reifer in dem, was sie wie sagte, reifer in der Art, wie sie sich bewegte, wie sie sich gab, auch reifer als die Mädchen seiner Klasse.

Und Jakob?

Der schwebte mit seinen 16 Jahren im siebten Himmel oder sonst wo. Ein geradezu breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er nutzte jede erdenkliche Ausrede, um zu ihr ins Nachbardorf zu gelangen.

Das ging ein halbes Jahr so. Ein glückliches halbes Jahr! Man sah sie nur zu zweit: in den Dorfdiskos, im Freibad, im Steinbruch beim Baden und bei ihr zu Hause, wenn er sie zum Spaziergang abholte. Was sie nicht alles wusste! Jakob war fasziniert. Ihm schien, als hätte sie Tag und Nacht nichts anderes getan als gelesen. Die schönen Momente für sie beide schätzte Jakob, er hielt sie einfach für unerschöpflich.

Und doch. Eines Tages öffnete nicht sie, sondern ihr Vater das schwere Hoftor. Jakob runzelte die Stirn. Wieso nicht sie, wie sonst immer? Er sah sich überall um. Wieso lugte sie nicht erwartend hervor, sie wusste doch, dass er kommen würde.

Aber er sollte sie nie wieder sehen.

Das Schicksal hatte sich von grausamer Härte gezeigt. Sandra verstarb im Frühjahr 1983. Es war Leukämie. Hatten sie ihm danach erzählt. Nichts, aber auch gar nichts hatte er gemerkt. Stand wieder ganz allein da.

Mitten auf der Dorfstraße vor dem großen Hoftor. Musste sich immer wieder vergewissern …, nein, nein – doch! – quietschte das Hoftor. Sandra war plötzlich nicht mehr. Er konnte es nicht fassen. Ahnte auch in keiner Weise, wie sehr sich das Mädchen schon in ihm festgesetzt hatte. Ihm fiel niemals auf, wie traurig ihm die kleine Schwester hinterher schaute, während er leise in sich hineinweinend zum Nachbardorf zurücktrottete.

Jakob sah es nicht.

Wo gerade die Welt einstürzte! Nichts mehr wie früher war. Jakob hatte nichts geahnt, wer hätte sich ausrechnen können, welche Härten von einer Minute zur anderen auf einen Mann zukommen können. Da war alles nur noch Hohlraum und auch er, Jakob, war leer. Von jetzt an zog er sich in sich selbst zurück. Lehnte sämtliche Anfragen von Schulkameradinnen ab, mit ihnen zu gehen. Irgendwie war er für die Außenwelt nicht mehr erreichbar, es kam ohnehin nichts mehr bei ihm an. Darüber hinaus war ihm zu dem Zeitpunkt überhaupt noch nicht klar, wie lange ein Mann, wie lange er, Jakob, um seine Liebe zu trauern vermochte, es einfach musste. Womit soll man einen solchen Hohlraum füllen?

Das legte sich auf alles, beeinflusste wie ein Schema sämtliches Tun. Die Prüfungen der Zehnten hatte er geradeso mit drei Komma vier geschafft. Und als seine Klasse auf Abschlussfahrt ging, fuhr er zwar mit, doch blieb dem bunten Treiben weitestgehend fern. Er, Jakob, trauerte. Tief und ehrlich. Und ohne, dass diese Abgrundtiefe auch nur irgendein Mensch von ihm erfahren hatte oder hätte erfassen können. Da war kein Ende abzusehen. Egal, was kam.

Seither steckte in jeder der nachfolgenden Frauen ein kleines Stück von diesem, seinem Mädchen. Möglicherweise war es das, was Jakob in späteren Frauen beständig suchte. Vielleicht etwas von dieser Reife, mit Bestimmtheit aber irgendetwas von ihr.

Aber Jakob redet nicht.

Stößt sich an der Leere, Leere, Leere. Und lehrt es sich ohne Ende.

Wenn Jakob reden würde,
kämen manch Zufall, Anfall und Abfall ins Spiel

Denn das sollte er bald gewohnt werden.

Dass wie von selbst auf ihn zukam, was ihn prägte.

Erstmal hatte Jakob mit der Trauer zu tun. Das ging auch noch so, als er in Leipzig seine Lehre zum Dachdecker antrat. Die theoretische Ausbildung fand in der „Querbreite“, einer Straße, in der sich die Berufsschule befindet, statt. Die Praxis im Betrieb. Als Einstiegsgeschenk bekam er von seinen Eltern das Werkzeug: einen Spitz- und einen Schieferhammer, eine Rötelzange, einen Zollstock, ein Beil, eine Axt, sowie einen Gürtel mit Nageltasche und Hammerschlaufe. ,Boa-eh’! Jakob riss die Augen auf! Denn das war alles auffallend hochwertig hergestellt. Aber woher seine Eltern das besorgt hatten und wie viel es wohl gekostet haben mochte, das blieb Jakob ein Rätsel. Später ging ihm auf: Vielleicht hatte auch die Westverwandtschaft Anteil daran? Im ersten Moment jedoch war seine Freude darüber riesig! Derart gewappnet konnte man loslegen.

Jakob war aufs Äußerste motiviert.

An diesem ersten Tag, als er sich mit den übrigen Lehrlingen auf dem Betriebsgelände einfand, schien die Sonne.

Jakob war wieder der Erste und bereit, seit dem frühen Morgen. Etwas später betraten dann auch die drei anderen Dachdeckerlehrlinge den Hof und man stellte sich gegenseitig vor. Es gab außer Jakob zwei Manuels und den Markus, der alle einen ganzen Kopf überragte. Ein Herr Schuster kam und begrüßte die vier jungen Männer, zeigte ihnen den Betriebshof, das riesige Lager, die Büros, sowie die Umkleide nebst Duschen und WC. Im Anschluss trabten sie alle in das winzige Büro, in dem sie von ihren zwei Lehrausbildern in Empfang genommen wurden.

Der Eine von ihnen hatte seinen Jungmeister gerade erst erfolgreich abgeschlossen, der Andere, kleine hingegen, war ein alter, schon gestandener Handwerksmeister. Beide stellten sich mit ihren Positionen nacheinander dar und Jakob lauschte interessiert. Dann folgte eine Belehrung für die Neulinge, wie man sich auf der Baustelle, und noch wichtiger, auf dem Dach zu verhalten hat. Anschließend wurden die Vier auf die einzelnen Brigaden aufgeteilt, der eine Manuel kam zur Rotschen-Brigade, der zweite und Markus wurden Meister Kurze zugeteilt. Jakob kam in die Bertholdsche Brigade. Zu guter Letzt ging der Altmeister mit den Vieren ins Lager, kleidete sie ein und versorgte jeden mit einem vollständigen Werkzeugsatz. Eben mit allem, was ein Dachdecker so braucht.

Jakob staunte nicht schlecht.

Auf einmal hatte er einiges doppelt.

Doch was machte es, das störte nicht. Seither konnte er sich das erste und bessere Werkzeug fürs Pfuschen und für den Notfall aufheben. Komplett ausgerüstet stiegen die Neuen mit Sack und Pack in den Barkas und der Altmeister fuhr jeden von ihnen zu der entsprechenden Brigade. Diesmal war Jakob als Letzter im Bus verblieben.

Warum?

Das sollte ihm bald klar werden. Der Altmeister hatte Jakob vorher beiseite genommen und dem Verdutzten erklärt, dass er als Meister vom obersten Chef in Kenntnis darüber gesetzt worden war, und nun also quasi genau Bescheid wüsste, um Jakobs Vater und dessen persönlich-freundschaftlichen Beziehungen zum Chef.

Daraufhin fuhr ihn der Altmeister bloß an: „Bilde dir ja nicht ein, Jakob, dass du hier Privilegien hast! Dich stecken wir zum strengsten Meister rein. Zum Schinder der Firma. Der duldet keinerlei Schlampereien und kein Zuspätkommen.“

‚Na bestens’, dachte Jakob. Klare Fronten. Doch die Pappmesser für die Dachpappe schliff der alte Berthold für Jakob höchst persönlich und schenkte sie dem jungen Schnösel. Aha. Das registrierte der, er lernte ziemlich schnell und allerhand gerade von dem Alten.

Aber auch die, die sonst noch in der Brigade arbeiteten, lehrten ihn sehr viel Praktisches, so dass er unerwartet schnell in die Feierabendbrigade aufgenommen wurde. Als später die Brigade geteilt wurde und Jakob einen neuen Meister erhielt, kam es zu einer seltsamen Begegnung.

Jakob stellte beim Gegenüberstehen fest, dass der ihm gerade mal bis ans Kinn reichte, allerdings viel kräftiger und etwa dreißig Jahre alt war. Ein Malocher, fand Jakob schnell heraus, doch mehr als fair, denn er verlangte seinen Jungs stets nur das ab, was ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangen war.

Sie wurden ein eingespieltes Team, Jakob wuchs daran und ihm machte die Arbeit richtig viel Spaß. Immer öfter gingen er und Biene, so des Meisters Spitzname, zu zweit pfuschen. Über die Wochen und Monate entstand eine wahrhaft enge Freundschaft zwischen ihnen. Biene übernahm immer mehr die Rolle eines großen Bruders für Jakob. Ihr Zusammenspiel harmonierte, war ein himmelweiter Unterschied zu dem, was mit Jakobs Klassenkameraden, mit denen er theoretischen Unterricht hatte, einherging.

Seine Klasse bestand aus dreißig Jungen und zwei Mädchen. Da waren Hänseleien und Rangeleien geradezu an der Tagesordnung.

So was passte Jakob gar nicht; das machte ihn oft und gern erst recht zum Ziel der Attacken.

Im Bauhof ging es besonders hart zu. Da ging es um das Praktische, um die Ausbildung an Modelldächern. Wenn Jakob wirklich sehr viel lernen wollte, woran ihm lag, hatte er keine Chance.

Von zweien aus der Brigade Meister Kurz wurde er nur allzu gerne aufgezogen und bald hierhin und bald dahin geschubst. Ohne jeden Grund. Was war Jakob immer heilfroh, wenn er wieder in seine eigene Brigade, zu Biene, zurückkonnte. Hier schätzte man ihn. Nutzte seinen Eifer, sein Bemühen, immer mehr Arbeitsschritte als die gezeigten oder erklärten zu bringen.

Aber die heiklen Situationen sollten sich noch verschlimmern.

Nach einem Jahr stand die Auszeichnungsreise für die besten Lehrlinge des Betriebes an. Man durfte gespannt sein, auf wen würde die Entscheidung fallen? Wer könnte da in Frage kommen? Schließlich galten alle vier Dachdecker inzwischen als die besten, wiesen alle vier gleichermaßen einen Gesamtdurchschnitt von eins Komma zwei in Theorie und Praxis auf und waren kaum zu toppen. So was hatten sie hier noch nie.

Also waren sie alle vier dabei.

Die Reise dauerte sieben Tage und führte sie, und dazu noch einen Maurerlehrling und die zwei Lehrausbilder mit Anhang nach Lenin, ins Brandenburgische. Schön. Und es hätte prima werden können, aber aus Gründen, die sich später als medizinisches Fiasko herausstellten, fiel Jakob dort um.

Er hatte seinen ersten schweren Krampfanfall. Es kam aus heiterem Himmel.

Alles war erschrocken. Aber Jakob war klar bei Verstand und gab instinktiv Anweisungen: „Setzt mich auf den Stuhl da und schiebt mich ans Fenster.“ Sie taten es.

„Hakt meine Hände in den Fensterrahmen und drückt meine Füße gegen die Wand!“

Nun zog Jakob solange am Fensterhaken, bis seine Finger wieder einigermaßen gerade wurden und er auch die Knie wieder durchdrücken konnte. Doch seine Mühen reichten nicht. Kaum war er vom Fenster weg, waren die Krämpfe zurück. Und die anderen mussten den völlig Verkrampften ins Bett tragen. Nichts half. Nicht einmal die Herztropfen, die er sowieso schon seit ein paar Tagen einzunehmen hatte – alles blieb wirkungslos. Es war einfach unmöglich, der Sache Herr zu werden. Der Maurermeister, ein Schrank von einem Mann, musste wirklich um das Leben von Jakob kämpfen.

Das tat er.

Die drei anderen Lehrlinge aber wussten weder sich, noch dem Betroffenen zu helfen. Und Jakob war nicht mehr er selbst vor Schmerzen, war in einer Zwangslage; hätte beinahe die Pranken dieses Schrankes unbewusst gebrochen. Heftig übermannten ihn diese Zustände immer wieder aufs Neue. Kaum eine Unterbrechung.

Fast bewusstlos von all dem, das da von einer Minute zur anderen kam und von ihm Besitz ergriff, standen er und Leben und Tod beieinander.

Jakob war klar, ohne die Hilfe des Maurers hätte er den Kampf glatt verloren.

Der starke Mann aber konnte sich das Geschehen nicht erklären und gab, weil er zuweilen etwas von der Hänselei gehört hatte, den anderen, den Lehrlingen, die Schuld. Nur das war für den Maurer naheliegend.

Dem aber war nicht so.

Zu einem späteren Zeitpunkt dann sollte Jakob erfahren, die Krämpfe hätten ihn immer und überall erfassen können. Keiner trug dafür eine Verantwortung oder gar Schuld. Ebenso, wie sie auch keiner hätte jemals verhindern können.

Unter den Gegebenheiten hier nun war es erst der Notarzt gewesen, der mit Spritzen dem Ganzen ein Ende bereiten konnte. Zur Nachkontrolle tags darauf begleiteten Markus und der eine Manuel ihren Mitstreiter zum Arzt, wo er gleich nochmals zwei Spritzen verpasst bekam. ‚Na, danke schön auch!’, maulte Jakob für sich im Stillen.

Im November desselben Jahres hatten alle Jungs der Dachdeckerklasse ins GST-Lager zu fahren. Auch Jakob.

Das war Pflicht und dauerte sechs Wochen.

Und natürlich hatte sich der ungewöhnliche Vorfall damals in Lenin inzwischen unter allen Lehrlingen längst herumgesprochen. Und wie es mit unerklärlichen Besonderheiten oft geht, es gibt immer welche, die Freude daran haben, das noch auf die Spitze zu treiben, es methodisch zu provozieren. So geschah es.

Drei langhaarige Typen vom Bauhof, die mit Jakob in dieselbe Klasse gingen, stürmten ganz plötzlich das Zimmer der Jungen rigoros und schlugen – aus Sensationslust, Langeweile oder vermeintlicher Überlegenheit – wie verrückt auf Jakob ein, der nichts ahnend im oberen Doppelstockbett lag. Es geschah aus heiterem Himmel. Sie hatten es so beschlossen, wollten sich die Krämpfe gerne mal live ansehen. Jakob seinerseits versuchte, so gut es ihm auf der kleinen Fläche da oben gelang, sich zur Wehr zu setzen.

Und wie er zurückschlug …

Doch unter diesen Umständen – einer gegen drei – das war wie Jakob gegen den Rest der Welt. Er konnte machen, was er wollte, zu gewinnen war der Kampf für ihn nicht. Aber es gab noch die Lehrer.

Ach ja, die. Der eine, der das mitbekommen haben musste und auch bemerkt hatte, der schaffte Klärung, durchaus.

Kam aber erst nachträglich hinzu. Später, viel später, nämlich dann, als die drei Angreifer das Zimmer bereits verlassen und sich verkrümelt hatten. Und dieser Lehrer war auch noch Boxer, war das zu fassen; aber Jakob hatte ihn durchschaut. Er dachte noch: ‚Was bist du bloß für eine miese Ratte von Mensch?’, als sich der andere gerade genau vor ihm aufbaute. An Zuspruch war hier nicht zu denken. ‚Der war wohl blind?’ Stattdessen gar schrie der Lehrer Jakob an: „Randalieren Sie hier mal nicht so rum, lassen Sie die anderen gefälligst in Ruhe! Sie richten jetzt Ihr Bett her, räumen das verwüstete Zimmer wieder auf und finden sich auf der Stelle beim Lagerkommandanten ein. Aber ein bisschen plötzlich! In zwei Minuten will ich Sie dort sehen!“

Jakob sprang wie wild aus dem Bett und schrie seinerseits: „Du Holzhirsch, bist total blind auf den Augen! Du Idiot, du kapierst ja überhaupt nicht, worum es geht! Und ein fieser Drecksack bist du obendrein! Wie kannst du dir anmaßen, mich, den Geschädigten, abzumahnen, anstatt die Angreifer?“

Im Büro des Lagerkommandanten traf Jakob erneut auf diesen Holzhirsch, auf noch zwei weitere Männer und, oh Wunder, sogar auf den Schuldirektor der „Querbreite“. Alles stand wartend da. Auf ihn.

In GST-Uniformen mit Dutzenden von Abzeichen an den Jacken.

Kaum hatte Jakob einen Fuß in den Raum gesetzt, ergriff der Lagerkommandant das Wort: „Ich erteile Ihnen hiermit einen Verweis. Einen Verweis, der sich auch in Ihrer Personalakte und im polizeilichen Führungszeugnis niederschlägt.“

‚Unauslöschlich wie ein Brandmal!’, dachte Jakob.

Der Verweis lautete dann: „… wegen Angriffs gegen uniformierte Bürger der DDR und Verbreitens von imperialistischer Hetze.“

Als Jakob das hörte, war er entrüstet und flippte nun völlig aus. War das zu fassen? Verbal konnte er sie auch bedrohen.

„Ihr Verleumder, passt bloß auf, ihr verliert gleich eure Männlichkeit und alle eure Weichteile! Da kann dann selbst dieser Rummelboxer von Drecksack nichts mehr gegen mich unternehmen.“

Jakob geriet in Rage. Machte eine perfekte Verbeugung, die er vom Judo her kannte und sagte: „Haschime!“

Und siehe, einer der Uniformierten versuchte den wirklich zum Kampf entschlossenen Jakob zu beschwichtigen. Tat es, indem er zugestand: „Wir wissen doch über deinen gesundheitlichen Zustand Bescheid und wollen darum den Sachverhalt noch einmal prüfen.“

Jakob hatte aber nie ausmachen können, ob das je in irgendeiner Weise geschehen war. Der Eintrag jedenfalls wurde in sämtlichen Akten vorgenommen. Selbst beim MfS wurde daraufhin noch eine Akte angelegt mit eben diesem falschen Sachverhalt.

Auf solche Weise also war der ursprüngliche, erste Eintrag entstanden, dem viele weitere folgen sollten.

Als Jakob, der immer noch voller Wut war, schließlich auf sein Zimmer zurückkehrte, sah er die anderen, die wie gehabt immer noch auf ihren Betten lungerten. Ihm konnte speiübel werden, wenn er daran dachte, wie schön genüsslich sie der Aktion vorhin zugesehen hatten. Und er bedankte sich sehr scharf bei den Kollegen, die nicht einmal diese Bezeichnung verdienten, für ihre ach so große Unterstützung. Aber die grinsten ihm nur frech ins Gesicht.

‚Doch im Gegensatz zu euch Fratzen’, dachte Jakob, ‚bin ich jetzt ein Mann der Tat!’

Und er packte seine Sachen. ‚Weg hier, so schnell wie möglich, hier kann man nur noch abhauen. Die Grenze zum Westen ist nicht weit’, ging es ihm durch den Kopf. Ja, er war ein Mann großen Schrittes. Immer über die Felder. In der Dämmerung dann tauchte das Zonenrandgebiet vor ihm auf. Die Polizei allerdings auch.

Man brachte ihn – wie milde – zurück ins GST-Lager. Von da ab wurde er von sämtlichen vormilitärischen Ausbildungsschwerpunkten ausgeschlossen. Jakob setzte sein hämisches Grinsen auf: ‚ Mann, ist das für mich schade …’

Erfreulicherweise war auch die GST-Ausbildung zeitlich begrenzt und als Jakob endlich in den Betrieb zurückkam, ging alles wieder seinen normalen Gang. Damit konnte man schon eher leben und er fühlte sich wohl und gebraucht dabei.

Nach einigen Wochen Arbeit auf dem Dach aber bekam er hohes Fieber. Ein Fieber, das nicht abklingen wollte, was er auch versuchte.

Um es medizinisch abzuklären, fuhr er ins Sankt Georg Krankenhaus, wo man ihn unverzüglich auf die Quarantänestation legte.

Drei Monate lang.

Er musste dort bleiben, ob er wollte oder nicht und erfuhr, dass ein Virus in seinem Körper ausgebrochen war. Ein Virus, den 80 Prozent der Weltbevölkerung in sich trüge, der aber nur äußerst selten zum Ausbruch käme.

Ein Taubenvirus.

Anschließend, also am ersten Tag nach der Entlassung aus dem Sankt Georg sollte er gleich in die neurologische Abteilung der Uni-Klinik Leipzig nach Dösen eingewiesen werden, um die Folgeschäden des Ausbruches klassifizieren zu lassen und die gebliebene Höhentauglichkeit zu prüfen. Der Virus hatte ganze Arbeit geleistet. Seine Höhentauglichkeit war futsch.

‚Also ist’s Essig mit dem Dachdecker’, sagte sich Jakob, ‚kann ich vergessen.’

Der Betrieb setzte Jakob vorübergehend als Lageristen auf dem Hof ein. Und stellte ihm einen frisch aus dem Knast Gekommenen an die Seite, der bei schweren Lasten helfen sollte. Wie auch immer, den Lehrabschluss hatte Jakob bereits abgeschrieben.

Und nach eineinhalb Jahren wurde der Lehrvertrag nun vom Betrieb aufgelöst.

Dann kam der letzte Tag in der „Querbreite“.

Jakob machte ihn für alle Anwesenden zu einem Erlebnis.

Wie immer besetzte er die letzte Bank.

Nur, dass er diesmal nicht saß, sondern beinahe auf seinem Stuhl lag. Und trank.

Während des EDV-Unterrichts. Schluck für Schluck und direkt aus der Schnapsflasche. Es war ein guter, ein Wodka aus dem „Delikat“. Das ging solange, bis ihn die EDV-Lehrerin des Schulgebäudes verwies.

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22 aralık 2023
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9783957447111
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