Kitabı oku: «Geschichte im Text», sayfa 13

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4.2.4 Im Dialog mit der Geschichte: Dominick LaCapra

Auch der amerikanische Historiker Dominick LaCapra nimmt mit seiner Studie Representing the Holocaust (1994) an den Diskussionen um die ethische Dimension historischer Referenzialität am Beispiel von Holocaust-Darstellungen teil. Zugleich geht er mit seinem Projekt einer Erkenntnisethik weit über den Rahmen der Holocaust-Forschung hinaus, indem er die theoretische Überprüfung der Geschichte bzw. der historiografischen Praxis grundsätzlich ethisch begründet.1 LaCapra teilt dabei den poststrukturalistischen Textbegriff Derridas, versucht jedoch, zwischen den vermeintlichen Fronten der Geschichtswissenschaft, der modernen und postmodernen, zu vermitteln:

Meine These lautet, daß der extrem dokumentarische Objektivismus und der relativistische Subjektivismus keine vernünftigen Alternativen sind. Beide sind Teile eines größeren Zusammenhangs und stützen sich gegenseitig.2

LaCapras selbstreflexive Auseinandersetzung mit den theoretischen Voraussetzungen seines eigenen Faches kreisen bereits seit den 1980er Jahren um den leitmotivischen Begriff des idealen historischen Lesens, mit dem LaCapra die produktive Auseinandersetzung des Historikers mit sprachlichen Dokumenten oder auch anderen Medien (Musik, Malerei, Tanz, Rituale) bezeichnet. Das Verhältnis zwischen Historiker, historischem Text und dem historischen Forschungsgegenstand versteht er als dialogisches, da es stets zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln suche. Ethisch ist dieser historische Lektüreprozess insofern, als er den Historiker mit LaCapra stets vor die Aufgabe stellt, dem in der Gegenwart nicht mehr zur Verfügung stehenden Gegenstand, dem »Anderen in der Geschichte« gerecht zu werden – ohne dies je vollständig zu können. In seinen frühen Veröffentlichungen kritisiert LaCapra die seiner Meinung nach dominierende dokumentarische Lektürepraxis der Historiker, welche die narrativen Merkmale des historischen Textes ignoriere und diesen ausgehend von einer an Fakten und Authentitzitätssignalen orientierten Quellenkritik bewerte.3 Später erweitertet LaCapra seine Kritik um drei weitere historische Lesemodelle, die gleichfalls den historischen Text in seinem Deutungspotential stark reduzieren würden: So beschränke sich ein synoptisches Lesen lediglich auf eine zentrale Fragestellung, ziele die dekonstruktivistische Lektüre voreingenommen auf das Entlarven vermeintlicher Widersprüche im historischen Text und relativiere die erlösende Lesart schließlich sämtliche historischen Brüche. Als Lösung schlägt LaCapra seinerseits nun das Modell eines dialogischen Lesens vor: Damit wird eine als »praktische, erkenntnisethische Haltung«4 verstandene Lektürepraxis bezeichnet, durch die der Historiker in einen reziproken Austausch mit den historischen Zeugnissen tritt – und damit sowohl seine Einflussnahme auf den historischen Forschungsgegenstand wie auch seine eigene Beeinflussung durch die historischen Quellen sowie zuletzt den Dialog des Historikers mit weiteren Forschern zum gleichen Forschungsgebiet ernst nimmt. Ein solches Lesen macht die multiperspektivische Aufbereitung der Geschichte zu seiner Voraussetzung und lässt am Prozess historischer Erkenntnis das vergangene historische Geschehen ebenso teilhaben wie den nachträglichen Moment seiner Rezeption in der Gegenwart und dessen Implikationen für zukünftige historische Deutungsversuche:

A combination of accurate reconstruction and dialogic exchange is necessary in that it accords an important place to the ›voices‹ and specific situations of others at the same time as it creates a place for our ›voices‹ in an attempt to come to terms with the past in a manner that has implications for the present and future. […] In reading the past, one may formulate the combination of reconstruction and dialogic exchange most simply in terms of two related questions: What is the other saying or doing? How do I – or we – respond to it?5

In die Praxis umgesetzt verlangt ein solches dialogisches Lesen nach Maßnahmen, welche die verschiedenen auf den Text der Geschichte einwirkenden und diesen erst konstituierenden Determinanten genauso sichtbar machen wie die textinhärenten Signale, die ihrerseits die Lektüre des Historikers steuern. Dazu gehört etwa die Forderung nach möglichst langen Zitaten aus verwendeten Quellen, die ein Gefühl für die in der historischen Erzählung enthaltene subjektive Interpretation des Historikers vermitteln.6

Auch müsse mit LaCapra das dialogische Lesen den rhetorischen Merkmalen nachgehen (»the role of irony, parody, and ›voice‹ or positionality in general«), welche die historische Referenzialität des Textes (hier argumentiert LaCapra durchaus im Sinne Hayden Whites) a priori einschränken, weil sie weniger auf die dargestellten Fakten als vielmehr die Figur des Historikers verweisen.7 Auch dekonstruktivistische Interpretationsansätze können mit LaCapra gewinnbringend im Kontext eines dialogischen Lesens eingesetzt werden, dann nämlich, wenn sie textimmanente Spannungsverhältnisse, Widersprüche oder aporetische Strukturen zu entlarven vermögen.8

Um den Moment, in dem der Historiker in einen Dialog sowohl mit der Vergangenheit wie auch mit weiteren Forschungsmeinungen tritt, erfassen zu können, bedient LaCapra sich der psychonalytischen Terminologie Freuds und greift auf den Begriff der »Übertragung« (transference) zurück. Dieser meint einen dialogischen, reziproken Vorgang, im Zuge dessen eine bereits stattgefundene Szene auf eine nachzeitige übertragen wird.9 Der Akt der Übertragung kann sich als acting out oder working through darstellen – diese Begriffe lehnt LaCapra an die Freud’sche Unterscheidung von Melancholie (acting out) und Trauer (working through) an.10 Acting out bezeichnet dann eine Beziehung zwischen Historiker und historischem Forschungsgegenstand, die von starker Identifikation und einem mimetischen Verhältnis zwischen Dargestelltem und Darstellung geprägt ist – die Grenzen zwischen vergangenem Geschehen und gegenwärtiger Präsentation mithin verschwimmen lässt:

To act out a transferential relation is to repeat the past compulsively as if it were fully present, to relive it typically in a manic or melancholic manner. I noted that acting-out may be necessary with respect to trauma, especially in the case of victims, and in cases of extreme trauma there may never be a full transcendence of acting-out.11

Das working through hingegen bezeichnet eine Annäherung an die Vergangenheit, die sich ihrer Distanz und ihrer Unterschiede zur Gegenwart bewusst bleibt und um eine wissenschaftliche Objektivität bemüht ist, ohne dabei die moralische Verantwortung des Historikers für den von ihm untersuchten und zugleich (re-)konstruierten Forschungsgegenstand zu vergessen.12

Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass LaCapra sein dialogisches Lektüremodell als Ideal einer angemessenen historiografischen Tätigkeit primär am Beispiel historischer Quellen zum Holocaust und anhand von Zeugnissen Traumatisierter auszuführen sucht. In beiden Fällen erfolgt mit LaCapra eine emotionale Identifikation des Historikers mit dem von ihm untersuchten Gegenstand, der er sich nicht entziehen kann, sondern die ihn nachhaltig prägt.

4.2.5 Vernunft und Verantwortung der Geschichte: Jörn Rüsen

In Deutschland ist es insbesondere der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen, der die ethische Komponente aktueller geschichtswissenschaftlicher Diskussionen unterstreicht, wenn er gezielt nach der »Verantwortung des Historikers« fragt, die »unter dem Schleier der Forschungsmethodologie und der Linguistik der historischen Repräsentation verschwunden« sei.1 Auch Rüsen entwickelt seine Überlegungen zu ethisch-moralischen Herausforderungen der Geschichte bzw. der Geschichtswissenschaft in Auseinandersetzung mit der Postmoderne und dem durch sie relativ gewordenen Begriff der Realität wie der Vergangenheit. Beide haben mit Rüsen insbesondere das Erstarken kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien und Erinnerungsdiskurse nach sich gezogen, die ihrerseits die Quellen der Geschichte selbst in Frage stellen. Die Einsicht, dass subjektiv geprägte Erinnerungs- und an individuellem Nutzen orientierte Wahrnehmungsprozesse als Quellen der Geschichte ernst genommen werden müssen, hat für eine zusätzliche Problematisierung der Kategorien »Wahrheit« und »Objektivität« durch die Historik gesorgt.

Insgesamt zeigt Rüsen sich, ähnlich wie LaCapra, um eine Aussöhnung moderner und postmoderner Auffassungen von Geschichte bzw. die Überwindung ihrer vermeintlich unüberwindbaren Gegensätze bemüht.2 Die moderne Arbeit des Historikers orientiert sich mit Rüsen an den empirisch ermittelbaren Tatbeständen und definiere sich allen voran über die Quellenkritik. Geleitet werde sie vom vielzitierten Diktum Rankes, zeigen zu wollen »wie es eigentlich gewesen ist«.3 Die postmoderne Auffassung versteht Rüsen als diejenige, die den konstruktiven Vorgang der Geschichte, das ›Machen‹ der Geschichte, und die sie konstituierenden Erinnerungsprozesse herausarbeitet, folglich auch die für die historische Repräsentation narrativen Prozesse in den Vordergrund rückt. Moderne wie postmoderne Konzepte müssen sich mit Rüsen ihrer Grenzen jedoch bewusst sein:

Für das moderne geschichtswissenschaftliche historische Denken gilt, daß es keine deutungsfreie historische Erfahrung gibt, und umgekehrt kann die postmoderne Auffassung der Deutungsleistung der Erinnerung nicht davon absehen, daß Erinnerung erfahrungsbezogen ist. Sie würde ihre kulturelle Orientierungskraft verlieren, wenn die sich Erinnernden ernsthaft glaubten, die erinnerte Vergangenheit sei eine Fiktion.4

Entsprechend eindringlich warnt Rüsen vor der Gleichsetzung eines auf Erinnerungsprozessen basierendem Geschichtsverständnisses mit einem »unbeschränkten Subjektivismus, der mit dem Terminus ›Fiktion‹ kategorisiert wurde,«5 und besteht auf einer grundlegenden Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Geschichtsdarstellungen. Für diese Differenzierung spricht der unwiderlegbare Erfahrungsbezug jeder Erinnerung, die dadurch an eine, wenngleich keineswegs objektiv rekonstruierbare, Wirklichkeit zurückzukoppeln sei. Historische Erkenntnis ist mit Rüsen gleichermaßen abhängig von historischen Erfahrungen wie von individuellen und kollektiven Erinnerungsprozessen, die auf diese Erfahrungen zurückverweisen. Ungeachtet der subjektiven Deutungsmuster, die den Erfahrungen zugrundeliegen und die es zu entschlüsseln gilt, hält Rüsen an einer Orientierungsfunktion des historischen Wissens, fest, in der »Geschichtswissenschaft und kulturelles Gedächtnis« konvergieren.6 Diese Orientierungsfunktion historischen Denkens ist es, die mit Rüsen der streng a-teleologischen postmodernen Auffassung der Geschichte widerspricht, weil durch sie die Vergangenheit doch wieder mit der Gegenwart verbunden wird. In jüngerer Zeit findet Rüsen einen konkreten Namen für diese Orientierungsfunktion – das »Feuer der Geschichte«:

Es geht mir um ein Element der Geschichtskultur, das ich »Feuer der Geschichte« nennen möchte. Ich verstehe darunter die Motivationskraft, die historisches Denken haben kann, wenn es zur kulturellen Orientierung gegenwärtiger Lebenszusammenhänge gehört. Eine Geschichte ist dann ›feurig‹, wenn sie in der Lage ist, kulturell eine Gegenwart im Rückgriff auf die Vergangenheit über Zukunftschancen zu informieren. ›Information‹ ist ein zu schwacher Ausdruck, denn es geht um eine ganz bestimmte Weise der geistigen Orientierung: Sie verortet nicht nur die Gegenwart in der Zeit, sondern dient zugleich auch der Motivation der Lebenspraxis. ›Kulturell‹ ist diese Orientierung insoweit, als sie zu den mentalen Vorgängen der menschlichen Sinnbildung gehört.7

Rüsens Arbeiten auf dem Feld der Historik zeigen sich bestrebt, die aufgrund konstruktivistischer und poststrukturalistischer Befunde unsicher gewordene Geschichtswissenschaft auf die sie ausmachenden fachspezifischen Methoden und ihr Wissenschaftsverständnis zurückzubesinnen. So etabliert er bereits in den 1980er Jahren einen historiografiegeschichtlichen Ansatz, der die Historik als die Theorie der Geschichtswissenschaft dem Postulat der Vernunft unterstellt. Diese Fokussierung auf ein »vernünftiges« historisches Denken versteht sich im Kontext von Rüsens Kritik an Hayden White, dem er, wie bereits dargestellt (vgl. Kap. 3.2.1), eine fehlende Berücksichtigung wissenschaftsspezifischer Aspekte der historischen Arbeit vorwirft – mithin das Ignorieren eines der Rationalität verpflichteten historischen Denkens, das dieses grundlegend von der fiktionalen Geschichtsdarstellung unterscheide. Als »vernünftig« bezeichnet Rüsen jenes historische Denken,

das in der Form einer Argumentation vor sich geht, […] wenn es in der Form einer Diskussion erfolgt, die von der Kraft des besseren Arguments bewegt wird. […] Es geht also darum, die für die Geschichte als Wissenschaft maßgeblichen Prinzipien historischen Denkens als Prinzipien einer Rationalität darzulegen, die den Streit der Meinungen mit den Waffen der besseren Argumente austragen läßt.8

Für die Ermittlung dieser vernünftigen Prinzipien historischer Sinnbildung schlägt Rüsen im Rückgriff auf Thomas S. Kuhn eine »disziplinäre Matrix« vor, die den Blick auf den Zusammenhang von »Orientierungsbedürfnissen der Gegenwart, leitenden Hinsichten auf die menschliche Vergangenheit, Regeln der empirischen Forschung, Formen der historiographischen Darstellung und Funktionen des historischen Wissens« richtet.9 Das Zusammenspiel dieser fünf Faktoren bestimme, so Rüsen, den Grad der Wissenschaftlichkeit historischen Denkens.10 Er selbst korrigiert dieses Modell später infolge der ›postmodernen‹ Wende der Geschichtstheorie, schlägt als neue Bezugsgröße sogenannte »Prinzipien der historischen Sinnbildung« vor, und ergänzt diese wiederum in Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Geschichtsbegriff und Gedächtnisdiskurse um spezifische Erinnerungsstrategien, die auf die »Mehrdimensionalität der Geschichtskultur« zurückverweisen.11 Rüsens Bestreben, die Rationalität historischen Denkens systematisch zu erfassen, wird in jüngsten Veröffentlichungen und gerade im Kontext seiner Kritik an postmodernen Entwürfen um den Begriff der historischen Verantwortung erweitert. Mit diesem greift er auf eine lange Zeit vernachlässigte Kategorie zurück, die erst durch die im Rahmen kulturanthropologischer sowie neohistoristischer Ansätze begründete kulturwissenschaftliche Perspektive der Geschichtswissenschaft wiederbelebt wurde. Die vorausgegangene linguistische Wende habe, so Rüsen, die »Verantwortungslosigkeit der methodischen Rationaliät« eher legitimiert: Indem sie die narrative, subjektiv geprägte Konstruktion der Geschichte problematisiere, sei die historische Realität zum »Ergebnis einer poetischen und ästhetischen Schöpfung der Historiker« marginalisiert worden, zu einer Art »Erfindung, die überhaupt nicht mehr auf eine ethische Instanz der Verantwortung und Rechtfertigung bezogen ist«.12 Verantwortung meint dabei keineswegs die bedingungslose Rückbindung historischer Darstellungen an die vermeintlich verbürgten historischen Fakten, sondern ein aufmerksames historisches Denken, das gegenwärtige Wertvorstellungen und vergangene Erfahrungen gleichermaßen ernst nimmt.13

Mit seiner Rückbesinnung auf die Perspektive der Ethik des historischen Denkens versucht Rüsen seinerseits eine Anknüpfung an die Ergebnisse postmoderner Befunde, zugleich aber auch eine Überwindung ihrer geschichtstheoretischen Schlussfolgerungen. »Methodische Strenge«, mithin eine auf rationalen Prinzipien fußende Historik als Grundlage der Produktion zuverlässigen historischen Wissens, müsse nun »mit dem Gebrauch von Normen und Werten in der mentalen Arbeit des Geschichtsbewußtseins vermittelt« werden.14 Wie, so lautet Rüsens zentrale Frage, kann eine solche ethische Dimension zurück in die Praxis eines methodisch geschulten historischen Denkens gebracht werden? Als Lösung schlägt er eine Hermeneutik vor, die sich als »kognitive Operation mit methodischer Qualität« begreift – etabliert damit einen Prozess des Verstehens, der den narrativen Repräsentationsformen der Geschichte ebenso gerecht werden soll wie dem methodischen Selbstverständnis historischer Forschung:

Im Akt des Verstehens selber realisiert sich zeitliche Intersubjektivität und verwirklicht sich Verantwortung. In ihm verschmilzt die verstehende Subjektivität des Historikers mit der verstandenen Subjektivität vergangenen Handelns, Unterlassens und Leidens.15

Rüsens Hermeneutikbegriff meint sowohl den subjektiven Umgang mit der Erfahrung der Vergangenheit durch den Historiker wie auch die Darstellung derselben und verweist damit auf den (von Rüsen allerdings nicht näher berücksichtigten) durch LaCapra etablierten erkenntnisethischen Begriff des dialogischen Lesens. Beiden, Rüsen wie LaCapra, geht es um einen geschichtstheoretischen wie -methodischen Zugang, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenbringt und ein anthropologisches Deutungsmuster vorschlägt, »in dem die Vergangenheit zu einer sinn- und bedeutungsvollen Geschichte für die Gegenwart wird, und zwar so, daß aus ihr heraus eine handlungsleitende Zukunftsperspektive entwickelt wird.«16

Für Rüsen wie LaCapra ergeben sich daraus klare Neuansätze für die historiografische Praxis, die sich in dem Punkt treffen, dass eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, nicht zuletzt die Quellenkritik, nur dann verantwortungsbewusst aussieht, wenn es ihr gelingt, die Aufarbeitung der Vergangenheit als Korrekturmöglichkeit für die Gegenwart zu begreifen. Ohne LaCapras Modell des working through oder mourning zu erwähnen, führt Rüsen den Freud’schen Begriff der Trauer ein, um einen Umgang mit der Vergangenheit zu beschreiben, »in dem sich ihre Erfahrungsschwere in Handlungsstimulation für eine andere Zukunft auflöst.«17 Der Vorgang des Trauerns erzeugt Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart und ermöglicht einen kritischen Umgang mit dem vergangenen Geschehen. Dieses bietet im Prozess seiner Aufarbeitung die Möglichkeit zu Korrekturen und zu einer Neukonstitution der Geschichte.18 Wie LaCapra implementiert Rüsen den Trauma-Begriff als zentrale Kategorie einer Geschichtswissenschaft, die ihre historische Deutung nicht a priori als sinnstiftend, sondern als »Abarbeiten von Widersinn« begreift. (Vgl. Kap. 8.4) Hier liegt die entscheidende Verantwortung des Historikers nicht allein für die Gegenwart, sondern für die Vergangenheit verborgen, die durch die historische ›Be-Deutung‹ nicht auf der Ebene der Fakten »besser« werden kann, jedoch in ihrer Wirkungskraft auf die Gegenwart wie Zukunft neu interpretiert werden kann. Geschichte führt mit Rüsen das vergangene Geschehen keineswegs in streng positivistischen Sinne vor Augen, sondern avanciert zum »Ort des Utopischen«, an dem sich »der Sinn der Geschichte von einer Zukunft her erschließt, die die Erfahrung der Vergangenheit überbietet.«19 Ausgehend von der Konstituierung der Geschichte durch zukünftige Perspektiven und angesichts einer Vergangenheit, die erst »lebendig in ihrer historischen Bedeutung für die Zukunftsentwürfe der Gegenwart« bleibt,20 lässt sich die titelstiftende Frage Rüsens positiv beantworten: So verstanden – kann Gestern durchaus besser werden.

4.3 Neue Wege zu einer historischen ›Wirklichkeit‹: Lucian Hölscher

2003 veröffentlicht der Bochumer Historiker Lucian Hölscher mit seiner Studie zur Neuen Annalistik ein geschichtstheoretisches Programm, das sich zur Aufgabe macht, neue Lösungswege für die infolge postmoderner Überlegungen »zerbrochene Geschichte« zu suchen.1 Die grundsätzliche Herausforderung der Geschichtswissenschaft erkennt Hölscher darin, ihrem genuinen Anspruch gerecht zu werden, die »historische Wirklichkeit zu beschreiben, und zwar in ihrem ganzen Umfang« – eine Aufgabe, die er als Grundlage des wissenschaftlichen Selbstverständnisses, der Methodik sowie der gesellschaftspolitischen Funktion der Geschichtswissenschaft begreift.2 Wie aber ist dieser Anspruch im Zeitalter einer, mit Hölscher, »zerbrochenen Geschichte« einzulösen, wie lässt sich Geschichte schreiben, wenn deren Einheit schon längst in Abrede gestellt wurde?

Hier setzt der Bochumer Historiker an, wenn er zunächst die Existenz einer »Einheit der Geschichte« ungeachtet der theoretischen Einwände (denen er sich durchaus anschließt) vehement verteidigt:

Denn auch zu unserem heutigen Weltverständnis gehört die Vorstellung von der Einheit der Geschichte in gewissem Sinne ganz selbstverständlich dazu: Wir setzen nämlich, wenn wir uns auf Vergangenes beziehen, einen Begriff von historischer Wirklichkeit voraus, der die vergangenen Ereignisse als Elemente eines Weltzusammenhangs begreift. Ohne eine solche Vorstellung von einem einheitlichen Geschichtsraum könnten wie die Vergangenheit gar nicht in der Weise erforschen und beschreiben, wie wir dies tun.3

Das vielfach postulierte Ende der historischen Einheit ist, so Hölscher, mit dem Ziel der Geschichtsschreibung, einen vergangenen historischen Wirklichkeitsraum festzuhalten, nicht zu vereinbaren. Denn nur »weil wir historische Fakten als Elemente einer zusammenhängenden vergangenen Wirklichkeit begreifen, können wir sie aufeinander beziehen, Zusammenhänge zwischen ihnen herausarbeiten und Wirkungen postulieren, die in den Quellen so gar nicht erwähnt werden.«4 Entsprechend begreift Hölscher die Geschichte der Geschichtswissenschaft als Versuch, der Geschichte trotz aller Einwände einen übergeordneten Sinn abzugewinnen, welcher mitunter in die Suche nach einem metaphysischen Subjekt der Geschichte jenseits individueller historischer Ereignisse münde. Daraus ergibt sich ein Paradoxon historiografischer Arbeit, da sie konsequent »die Einheit der Geschichte in Frage stellte, um sie auf Umwegen über eine neue Definition von Wirklichkeit wiederzugewinnen.«5

Mit den Folgen des linguistic turn, der »semiotischen Revolution des Konstruktivismus« ebenso wie der kulturwissenschaftlichen Problematisierung der Geschichte als Ergebnis individueller wie kollektiver Erinnerungsprozesse sei, so führt Hölscher weiter aus, die Einheit der geschichtlichen Wirklichkeit inzwischen »radikal in Frage gestellt worden.«6 Mit Blick auf die generelle Gleichsetzung der Geschichtskultur mit einer auf divergierenden (und damit nicht zuverlässigen) Perspektiven fußenden Erinnerungskultur warnt er vor der zeitgenössischen Einebnung von Realität und Fiktion. Wie fatal die Auflösung historischer Realität in individuelle Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse, und schließlich einer konstruierten, mithin nicht mehr realen, sondern fiktiven Wirklichkeit, auszusehen vermag, führt auch Hölscher am Beispiel divergierender Perspektiven auf die Verbrechen der Nationalsozialisten aus. Würde man hier auf den »erkenntnisleitende[n] Fluchtpunkt einer einzigen historischen Realität« verzichten, wäre damit keine Möglichkeit mehr gegeben, Korrekturmöglichkeiten an ›falschen‹ Erinnerungsprozessen vorzunehmen. Das Gedächtnis der Opfer und die Erinnerungen der Täter stünden damit gleichberechtigt nebeneinander ohne die Möglichkeit, letztere in ihrer Manipulation oder Instrumentalisierung der Geschichte zu überführen. Dies führt Hölscher zu seinem hinsichtlich konstruktiver Befunde entscheidenden Fazit:

Auch wenn die Geschichte mehrere Ebenen ihrer – subjekten oder objektiven, zeitgenössischen oder nachträglichen – Wahrnehmung freigibt, muss sie am Fluchtpunkt einer einheitlichen historischen Wirklichkeit festhalten.7

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