Kitabı oku: «Geschichte im Text», sayfa 4

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1.2 Epochenzäsur 1989: Zum Begriff der Gegenwartsliteratur

Unter dem Begriff der deutschsprachigen ›Gegenwartsliteratur‹ fasst die vorliegende Untersuchung historisch-fiktionale Texte, die nach 1989 erschienen sind. Zum einen legitimiert sich diese Grenzziehung durch die nach 1989 veröffentlichten und von der Geschichte erzählenden Texte selbst. Diese erlauben es, von einem anhaltenden Trend in der Gegenwartsliteratur zu sprechen, der in den 1990er Jahren und erst recht mit Beginn des 3. Jahrtausends seine Wirkungsmacht zeigt. Zum anderen ergibt sich diese zeitliche Fokussierung aus der historischen wie literaturhistorischen Bewertung der politischen Ereignisse in den Jahren 1989/90. Diese sind inzwischen nicht nur als Wendepunkt der deutschen Geschichte, sondern als eine »ganz offensichtliche Zäsur auch in der Literatur«1 erkannt worden – wenngleich als Zäsur, die kontrovers sowohl als Abgesang auf die deutsche Literatur wie als Aufbruch in ein neues literarisches Zeitalter bewertet wird.

Die Wiedervereinigung: Ringen um Identität und Versuche der Revision

Das Annus mirabilis 1989 markiert einen Epochenbruch. Der Atem der Geschichte weht durchs kollektive Bewusstsein, der frohe, aber ungläubige Ausruf »Wahnsinn!« ertönte aus aller Munde. […] 1989 ist Ausgangspunkt und Schlüsseljahr der Ausstellung, die aber keine sozialhistorische oder mentalitätsgeschichtliche Einordnung jener Jahre seit dem Ende der bipolaren Weltordnung trifft, sondern den Chiffren, Metaphern, Atmosphären und Gefühlslagen nachspürt, die mit dem Verfall eines Systems und einem politischen Umbruch verbunden sind, und die in ihrer Folgewirkung bis heute ungebrochene Aktualität besitzen.2

Die einleitenden Worte Gerald Matts, Direktor der Kunsthalle Wien, zur Ausstellung »1989. Ende der Geschichte oder Beginn der Zukunft« aus dem Jahr 2009 vergegenwärtigen programmatisch die annähernd emphatische Verkündigung eines mit der Wende von 1989/90 einhergehenden Epochenbruchs in der Kunst, hier der bildenden Kunst. Die Wiener Ausstellung ist eine von vielen, die im Anschluss an die deutsche Wiedervereinigung Auswirkungen des Zusammenbruchs des osteuropäischen Kommunismus, den Fall des ›Eisernen Vorhangs‹, auf zeitgenössische künstlerische Entwürfe untersuchen.3 Eine der zentralen Beobachtungen ist dabei jene, dass die Kunst nach 1989 Abschied von postmodernen Konzepten, insbesondere der von Lyotard postulierten Auflösung der ›großen Erzählungen‹, nimmt und mit den realgeschichtlichen Veränderungen, allen voran der deutschen Vereinigung, der Begriff einer historisch fassbaren Wirklichkeit erneut Eingang in die Kunst gefunden habe.4 Tatsächlich ist es auch im literarischen Feld gerade der Wirklichkeitsbegriff, an dem sich unmittelbar nach 1989 literaturkritische wie -wissenschaftliche Diskussionen entzünden – wie der deutsche Literaturstreit um Christa Wolfs Erzählung Was bleibt exemplarisch zeigt. Ralf Schnell pointiert in seinem literaturgeschichtlichen Überblick über die Literatur nach 1945 den zentralen Vorwurf, dem sich insbesondere die Schriftsteller der DDR stellen müssen: »Wohl nie zuvor haben so viele prominente Schriftsteller in so konzentrierter Form ein so hohes Maß an Wirklichkeitsindifferenz unter Beweis gestellt wie zum Zeitpunkt des Umbruchs in der DDR.«5 Ähnliche Vorwürfe werden zugleich auch mit Blick auf die Literatur der Bundesrepublik geltend gemacht. Heinz Ludwig Arnold klagt mit Blick auf die Literatur der 1980er Jahre den Wirklichkeitsverlust in der Gegenwartsliteratur an und konfrontiert in seiner Abrechnung mit der postmodernen Literatur gerade Autoren historisch-fiktionaler Literatur (Christoph Ransmayr, Patrick Süskind, Hanns-Josef Ortheil, Umberto Eco) mit dem Eskapismus-Vorwurf:

Geschichtlich fundiert, aus Realität, ihrer Anschauung und Erfahrung gewonnen ist solche Literatur nicht; sie gibt auch keine Verweise auf die Wirklichkeit, in der sie entstanden ist – im Gegenteil, sie meidet sie, flieht in eine Metarealität und will von einer Bindung der Literatur an die Realität bewußt nichts wissen. […] Sie dient bloß noch der Ablenkung von erdenschwerer Besorgtheit, ist eklektisch und spielerisch, ihr Genuß wird von der momentanen Laune des rezipierenden Individuums bestimmt, sie ist also weniger subjektiv als individuell im extremsten Maß – in ihr bildet sich ab die große Bewegung unserer Zeit: der Sprung aus der Verantwortlichkeit für unser Dasein, das wir schon längst nicht mehr in der Hand haben, die Flucht aus der Gegenwart ins Leere, der Sprung aus der Last in die scheinbare Lust.6

Arnold, so wird unmissverständlich deutlich, verhandelt einen Literaturbegriff, der nicht mehr vorrangig ästhetischen als nunmehr moralischen wie gesellschaftspolitischen Anforderungen unterliegt. Mit Blick auf die Wende und »angesichts einer so grundstürzend veränderten Welt«7 idealisiert Arnold eine Literatur, die sich einmischt, und fordert von Autoren »Lust auf politische Gegenrede und kritisches Engagement«8. Dieser politischen Inanspruchnahme der Literatur widersprechen jene Stimmen, die, wie etwa Frank Schirrmacher in der FAZ, den endgültigen »Abschied von der Literatur der Bundesrepublik« und eine Gegenwartsliteratur einfordern, die zu jenen politisch-moralischen Kategorien, wie Arnold sie vermisst, gerade kritisch auf Distanz geht.9 Ästhetik, so lautet der vielzitierte Vorwurf Schirrmachers, sei in den der Wende vorausgegangenen Jahrzehnten in beiden Teilen Deutschlands durch »Gesinnung« ersetzt worden – eben das müsse sich nun grundlegend ändern. Auch Ulrich Greiner erkennt in dieser vermeintlich typisch »deutschen Gesinnungsästhetik« das »gemeinsame Dritte« zwischen den Literaturen von BRD und DDR: Mit der deutschen Einheit hofft er den Aufbruch in eine neue literarische Epoche begrüßen zu können, die nicht nur die nationale Identität, sondern mit ihr die Aufgaben der Literatur, mithin den seines Erachtens moralisch wie politisch instrumentalisierten Literaturbegriff neu entwerfen könne.10

Bemerkenswert bleibt, mit welcher Vehemenz der gesamte Literaturbetrieb unmittelbar nach der Wende einen literarischen Epochenumbruch ausruft und diesen gleichzeitig für die Abrechnung mit der Literatur bis 1989 nutzt. Literarische Reaktionen auf diese vermeintlich neue Zeitrechnung bleiben nicht lange aus, sondern zeigen sich beispielhaft in Texten, die, wie Frank Thomas mit Blick auf die Erzählliteratur der 1990er Jahre konstatiert, den Fall der Mauer literarisch geradezu »zum ›unerhörten Ereignis‹ im Goetheschen Sinne« überhöhen und als Beginn einer »neuen Zeit« oder als »neues Jahr Null« ausweisen.11

Jenseits dieser emotional und mitunter polemisch geführten Diskussion hat sich in der retrospektiven literaturwissenschaftlichen wie -historischen Wertung die Einsicht, dass die Jahre 1989/90 einen Epochenumbruch innerhalb der literarischen Historiografie markieren, als wissenschaftlicher ›common sense‹ etabliert, gegen den nur vereinzelt Einspruch erhoben wird.12 Daraus resultierende Forderungen an die Literaturgeschichtsschreibung fallen heterogen aus und spiegeln sich insbesondere im nach wie vor kontrovers diskutierten Umgang mit den Literatursystemen der getrennten deutschen Staaten wider. Roswitha Skare verweist in ihrer Untersuchung der jüngsten deutschen, nach 1990 erschienenen Literaturgeschichten auf die beiden Tendenzen, die sich abzeichnen: Während die einen zwar eine kritische Revision sowohl der DDR- wie auch der westdeutschen Literaturgeschichte einfordern, jedoch an deren Trennung festhalten,13 plädieren andere dafür, die DDR-Literatur in die Geschichte der westdeutschen Literatur zu integrieren.14 Ungeachtet bestehender Kontroversen schlussfolgert Skare in ihrer Untersuchung, dass der ›Blick der Einheit‹ sich in der Literaturgeschichtsschreibung durchgesetzt habe, was nicht zuletzt auf ein neues Geschichtsbewusstsein nach dem Fall der Mauer und dem Auseinanderfallen des Ostblocks zurückzuführen sei:

Außerdem entspricht man einer Tendenz in der deutschen Gesellschaft nach 1989/90 nach erneutem Geschichtsinteresse, nach Aufklärung über die Vergangenheit und historische Zusammenhänge, zumal die meisten dieser Informationen für den ostdeutschen Teil der Bevölkerung über viele Jahre kaum oder nur sehr schwierig zugängig waren.15

Tatsächlich zeigen sich von den politischen Ereignissen in den Jahren 1989/1990 Vergangenheit und Zukunft der deutschen Literaturgeschichtsschreibung gleichermaßen beeinflusst:16 Zum einen geht es um die Genese einer kollektiven Identität, die sich nach 1990 im Hinblick auf die bislang »geteilte« deutsche Literatur neu formieren muss. Zum anderen positioniert sich die literarische Kritik neu, die im wiedervereinten Deutschland nun mit einem Literaturbegriff abrechnet, der in der DDR durchgehend »nicht in einer autonomen Wertsphäre angesiedelt, sondern unmittelbar der Lenkung und Kontrolle durch die SED unterworfen« war.17 Erst die Öffnung der staatlichen Archive in den Jahren nach 1989 (und nicht nur jene der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit, sondern auch die des Schriftstellerverbandes, der Akademie der Künste oder der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel) macht die Verschränkung des literarischen Systems mit (macht-)politischen Interessen in ihrem ganzen Ausmaß deutlich – und fordert Korrekturen an der ›Arbeit an der Vergangenheit‹ ebenso wie innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung ein.18 Das Feld der literarischen Historiografie, der Literaturkritik sowie der literarischen Produktion trägt Spuren der nun nicht mehr zensierten und um bislang zurückgehaltene Einsichten erweiterten Forschung: Es zeigt sich dominiert von der schwierigen Frage, wie Literatur vor 1989, insbesondere die DDR-Literatur, nach der Wende neu gelesen werden kann, bzw. muss. Rainer Benjamin Hoppe stellt in diesem Zusammenhang dar, dass jede Auseinandersetzung mit literarischen Texten vor der Epochenzäsur sich grundsätzlichen Fragen zu stellen habe, die über rein hermeneutische Kategorien hinausgehen:

Beruht ein anderes Verständnis von fiktionalen Texten, die vor 1989 geschrieben wurden, nach 1989 lediglich auf neuen Informationen, welche wiederum die Grundlage für neue Analysen oder Interpretationen bieten? Oder sind die neuen Lesarten das Produkt einer grundlegenden politischen Umorientierung? Anders ausgedrückt: Dreht es sich um eine Horizonterweiterung im Sinne der Hermeneutik, oder unterwerfen die neuen Machtverhältnisse den Diskurs der DDR-Literatur einer politisch motivierten Umwertung?19

Die vorliegende Untersuchung nimmt den Epochenumbruch von 1989 ernst und beabsichtigt zugleich, die oben beschriebene Auseinandersetzung um die Thematisierung von Wirklichkeit in der Literatur unter moralistischen Gesichtspunkten hinter sich zu lassen. In den Vordergrund rückt hingegen ein Wirklichkeitsbegriff, der nicht mehr gegen seine politische Instrumentalisierung verteidigt werden muss, sondern als extraliterarischer wie spezifisch historiografischer Referenzbereich im Medium der Literatur selbst kritisch diskutiert wird.

Welche Aufgaben sich mit der Literatur nach 1989 im Kontext der politischen Umbrüche ebenso wie dem neuen Realitätsverständnis möglicherweise verbinden, formuliert stellvertretend für die Schriftstellergeneration der 1990er Jahre Robert Menasse. Der österreichische Autor äußert sich nicht nur in seinem literarischen Oeuvre, sondern auch als Essayist wiederholt zur österreichischen wie europäischen Geschichte und fordert in einem 1995 geführten Interview für die zeitgenössische Literatur eine neue Auseinandersetzung mit dem Geschichtsbegriff ein:

Die neunziger, obwohl wir erst die erste Hälfte hinter uns haben, haben ja bereits ein bestimmtes Image. Sie begannen 1989 und sind das erste Jahrzehnt seit langem, in dem wieder Weltgeschichte passiert ist und nicht nur aufzuarbeiten oder festzuschreiben versucht wurde. Ich glaube, wenn die Literatur sich als zeitgenössisch versteht und das reflektieren will, dann wird sie sich einfach verstärkt mit dem Geschichtsbegriff auseinandersetzen müssen.20

Menasse setzt nun gerade nicht, im Unterschied zu zahlreichen Vertretern der Literaturkritik wie der Literaturgeschichtsschreibung, die neu aufkommende Relevanz politischer Realität leichtfertig und unkommentiert mit dem Ende postmoderner Vorstellungen gleich. Stattdessen koppelt er diese zunächst noch an den aktuell gültigen Geschichtsbegriff, den es literarisch einzufangen gelte:

Was ist Geschichte überhaupt? Ich meine, wenn der Glaube an einen immanenten Sinn der Geschichte, an Fortschritt und an ein Geschichtsziel verlorengeht, dann hat das Auswirkungen auf jede Geschichte, die wir jetzt erzählten wollen. Die narrativen Zusammenhänge etwa, die wir herstellen, können ja nicht unbeeindruckt bleiben von der Zerstörung der Zusammenhänge, die wir gewohnt waren und die wir vorausgesetzt haben.21

Menasse skizziert hier sehr pointiert einen Spannungsbogen, der die Produktion und die Rezeption historisch-fiktionaler Texte seit 1989 maßgeblich steuert und die Herausforderung dieser Literatur sichtbar macht, die Historie nämlich als literarisches Sujet tatsächlich ernst zu nehmen und zugleich deren einschneidende (dabei nicht allein postmodernistisch geprägte) Neuausrichtung auf inhaltlicher wie formal-stilistischer Ebene sichtbar zu machen.

Das Ende der Nachkriegszeit: Ein Generationswechsel und seine Folgen

Die Jahre nach 1989 bedeuten nicht nur mit Blick auf das politisch wiedervereinte Deutschland eine Zäsur, sondern zugleich auch angesichts der veränderten Rolle, die dem Thema der ›Vergangenheitsbewältigung‹ zukommt. Der Historiker Michael Wildt beschreibt in seiner Auseinandersetzung mit der »Epochenzäsur 1989/90« das Ausmaß der Horizonterweiterung, den diese Jahre allem voran für die Geschichtswissenschaft bedeuten:

Durch den Zusammenbruch des Kommunismus fiel nicht allein die ständige Zumutung fort, sich legitimatorisch von der marxistischen Geschichtsschreibung abgrenzen zu müssen. Vor allem wurde mit dem Fall des Eisernen Vorhangs der Blick auf Osteuropa frei, wo die Massenverbrechen des NS-Regimes überwiegend stattgefunden hatten. […] Insgesamt aber war die deutsche Historiographie zum Nationalsozialismus 1989/90 noch stark nationalgeschichtlich ausgerichtet gewesen. Nun nahm Osteuropa nicht nur seinen Platz in Gesamteuropa wieder ein, sondern auch die Geschichtsschreibung erkannte, dass das NS-Regime seine Vernichtungspläne mit besonderer massenmörderischer Vehemenz außerhalb der ehemaligen deutschen Reichsgrenzen verwirklicht hatte – nämlich in den besetzten Ostgebieten.22

Unmittelbare Folge dieser Ausweitung der nun nicht mehr allein nationalgeschichtlich bestimmten Historiografie ist mit Wildt die Europäisierung und Globalisierung des Holocaust-Diskurses, die sich in neuen Formen der Erinnerungspolitik bemerkbar machen.23 Aleida Assmann geht diesem Wandel der Erinnerungs- und Geschichtspolitik nach 1989 nach und unterstreicht ebenfalls, dass sich hier »die Gedächtnisrahmen noch einmal deutlich verschoben« haben.24 Mit Assmann ist es eben jene auch von Wildt konstatierte neue, weltöffentliche Aufmerksamkeit, die nun spezifisch nationale Gedächtniskonstruktionen verabschiede und für neue kollektive Erinnerungsformen sorge,

die nicht mehr in die Muster einer nachträglichen Heroisierung und Sinnstiftung fallen, sondern auf universale Anerkennung von Leiden und therapeutische Überwindung lähmender Nachwirkungen angelegt sind.25

Voraussetzung für diese Sensibilisierung, die Schuldabwehr durch Schuldannahme ersetzt, ist der in den 1980er und 1990er Jahren sichtbar werdende Generationswechsel, der unmittelbaren Einfluss auf die Dynamik des kollektiven Gedächtnisses nimmt. Eine gewichtige Folge dieses Generationswechsels ist die schwindende Stimme der Zeitzeugen – jener Generation der Überlebenden wie der Täter. Das Bewahren dieses Zeitzeugengedächtnisses vergegenwärtigt in den 1990er Jahren einen fundamentalen Aufgabenbereich der NS-Historiografie, ablesbar an dem Bemühen um ein möglichst umfangreiches Archiv an Dokumentationsmaterial, das dem Verstummen der ›erlebten Geschichte‹ Einhalt gebieten soll.26

Für Deutschland bedeutet der beschriebene Generationswechsel im Besonderen den Wandel vom Erfahrungs-, nicht zuletzt vom Tätergedächtnis, das sich der Vergangenheitsbewältigung und damit der Annahme eines auch negativen Gedächtnisses bis dato häufig in den Weg stellte, zu Formen einer kollektiven Erinnerung der Nachgeborenen, die – mit Assmann –

die dunklen Kapitel ihrer Geschichte nicht mehr mit Vergessen übergehen können, sondern für diese Verantwortung übernehmen, indem sie sie im kollektiven Gedächtnis stabilisieren und ins kollektive Selbstbild integrieren.27

Der Wechsel vom Erfahrungs- zum kollektiven Gedächtnis markiert den Übergang von der Zeitgeschichte zur Historie, mit unmittelbaren Konsequenzen nicht nur für das historiografische, sondern auch das literarische Erzählen nach 1989: Holocaust und Nationalsozialismus sowie die dazugehörigen literarisch sichtbar gemachten individuellen wie kollektiven Erinnerungsprozesse lassen sich fortan dem Themenfeld des historischen, nicht mehr des zeitgeschichtlichen oder Gegenwartsromans zuweisen – ein Umstand, der Aussehen und Form der Gattung in der Gegenwart maßgeblich bestimmt. Die literarische Reflexion über deutsche Geschichte erfolgt dabei aus einer zweifach veränderten historischen Perspektive, die sich durch den beschriebenen Generationswechsel ebenso beeinflusst zeigt wie durch die Umbruchsjahre nach der politischen Wende von 1989. Die in den literarischen Texten vorangetriebene ›Arbeit an der Geschichte‹, allen voran die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, wird dabei oft in ihrer Teilhabe am Prozess einer kollektiven Vergangenheitsbewältigung verstanden. Dass dieser Begriff nicht ganz unproblematisch ist, hat zu Recht Clemens Kammler angemerkt: »[…] unglücklich deshalb, weil er die Abschließbarkeit eines Reflexionsprozesses suggeriert, den wach zu halten diese Literatur gerade intendiert.«28

Insgesamt versteht sich die Epochenzäsur 1989 als Initial einer als »Vergangenheitsbewältigung« gekennzeichneten Geschichtsarbeit, die den Prozeduren des Vergessens und Verdrängens der Nachkriegsjahrzehnte eine neue Form der Erinnerungspolitik entgegensetzt – das, nach Tony Judt, »öffentliche Erinnern als zentrales Fundament der kollektiven Identität«.29 Diese institutionalisierte und zugleich kollektiv verstandene Form der Gedächtnispolitik geht mit einem gesteigerten Bewusstsein für die Konstruktion der Erinnerung, des kollektiven Gedächtnisses, schließlich der Geschichte und ihrer Medien einher. Diese erfahren nun, Aleida Assmann hat darauf hingewiesen, eine neue Bewertung:

An die Stelle der kritischen Rationalität, die Bilder vorwiegend als Mittel der Manipulation einstuft, ist die Überzeugung einer irreduziblen Angewiesenheit des Menschen auf Bilder und kollektive Symbole getreten. […] Natürlich sind nicht nur Bilder daran beteiligt, sondern auch Erzählungen, Orte, Denkmäler und rituelle Praktiken.30

Assmanns Thesen decken sich hier mit den Einsichten Wildts, der das Entscheidende der Wende von 1989 ebenfalls darin sieht, dass sie den Übergang vom Vergessen zum Erinnern markiert und damit die Medien des Erinnerns in den Blick nehmen muss. In diesem Zusammenhang spricht Wildt von der »Medialisierung der Geschichte«, die neben der bereits angesprochenen Europäisierung und Globalisierung insbesondere die NS-Historiografie entscheidend verändert und vor neue Herausforderungen gestellt habe.31 Im Medium des Textes und des Bildes kommt es zu einer Neudefinition der Erinnerungen, die einerseits als Ergänzung und Korrektiv der Geschichtsschreibung etabliert werden, zugleich aber in ihrer sinnstiftenden Funktion auch kritisch reflektiert werden müssen. Diese sich nach 1989 immer dominanter durchsetzende Perspektive auf die medial nicht erst vermittelte, sondern mitunter erst erzeugte Geschichte sowie die damit verbundenen Konstruktionsmechanismen eines kollektiven Gedächtnisses zeigt ihre Relevanz gerade im Hinblick auf die zeitgleich entstehende historisch-fiktionale Literatur. Diese steht eben nicht allein im Zeichen einer therapeutisch wie aufklärerisch verstandenen Vergangenheitsbewältigung, sondern zeichnet sich, so zumindest lautet die Prämisse der vorliegenden Studie, durch eine außerordentlich reflektierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, aber auch Grenzen eines Geschichtsbegriffes aus. Dieser zeigt sich von individuellen und kollektiven Erinnerungsprozessen ebenso abhängig wie von jenen medialen Vermittlungsformen, die ihn erst sichtbar machen.

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