Kitabı oku: «Elfenzeit 8: Lyonesse», sayfa 7

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Kurus stürzte sich auf das Essen und verschlang es in wenigen Bissen, wobei seine drei Zahnreihen nur so klickten. Danach lächelte er glücklich und mit rosigen Wangen. »Du bist ein guter Herr!«, sagte er zufrieden und rülpste. Der Gestank, der nach der ersten Mahlzeit seines Lebens aus dem Maul kam, war eines Mantikors würdig.

Dass ein Mantikor sich niemals einem Herrn unterwarf, würde Kurus gewiss lernen, aber der Getreue würde ihm diese Lektion sicher nicht beibringen.

7.
Hunger

Auf dem Heimweg war Anne außer sich. »Ich kann es einfach nicht glauben! Was ist nur los mit mir?«

»Wovon sprichst du?«, fragte Robert ratlos.

Sie blieb stehen und warf die Arme in die Luft. »Ich gebe nach! Ich tu, was du sagst! Ich … ich kenne mich selbst nicht mehr!« Er zuckte kurz zusammen, als ihre Hände sich in seinem Mantelrevers verkrallten. »Als ich dich zu meinem Gefährten gemacht habe, habe ich dir etwas gegeben!«, fuhr sie fort. »Ich habe dich zu meinesgleichen verändert, soweit es möglich war. Du bist nun gewissermaßen elfisch, so wie Nadja, und du bist auch ein wieder auferstandener Vampir. Aber …«

Er hob die Hand und strich eine dunkle Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Er stand ruhig, während sie zitternd an seinem Mantel zerrte. »Aber du fragst dich jetzt, was ich dir gegeben habe, und wie das geschehen konnte«, sagte er sanft.

Sie blies heftig den Atem aus, ließ ihn los und wandte sich ab. »Das wusste ich nicht«, stieß sie hervor. Sie rieb sich die Arme, als ob sie frieren würde. »Du warst der Erste, ich hatte darin keine Erfahrung. Wenn ich das nur geahnt hätte!«

»Ich glaube«, sagte er behutsam, »da kommen mehrere Faktoren zusammen.«

Sie atmete tief durch und drehte sich zu ihm. »Und welche?«

»Du bist sterblich geworden, Anne. Das mag dir noch nicht so offenkundig bewusst sein, aber das verändert. So wie mich die Erkenntnis verändert, dass ich jetzt unsterblich bin.«

»Und weiter?«

»Anscheinend ist es bei dieser Sache … dieses Geschenks an mich wie bei einem Handel. Du gibst mir etwas, also muss ich dir auch etwas geben. Elfenregeln.«

»Wunderbar«, sagte sie bitter. »Ich gebe dir meine Macht und Kraft und bekomme dafür von dir deine Schwäche.«

»Nein«, widersprach er. »Menschlichkeit.«

»Was ist der Unterschied?«

»Immerhin habe ich dir keine Seele geschenkt.«

»Dafür bin ich sehr dankbar.«

Eine Weile standen sie schweigend voreinander. Robert hoffte, dass Anne nicht sehen konnte, wie tief gekränkt er war. Er konnte aber auch verstehen, dass sie nicht minder verletzt war.

»Seit Jahrtausenden bin ich die Muse der Menschen«, murmelte sie. »Wie konnte das nur geschehen?«

»Es ist die Zeit, die Veränderungen bringt«, sagte er leise. »Du bist immer noch eine Dämonin, Anne, es hat sich nichts geändert. Aber es schadet nicht, wenn deinerseits nicht mehr alles aus der Distanz beobachtet wird. Wenn du Anteil hast am Schicksal anderer, und sie nicht einfach nur lenkst.«

Sie stieß einen trockenen Laut aus. »Das ist nicht Elfenart.«

»Eben doch«, widersprach er. »Rian. Pirx. Grog. Und erinnere dich an das, was wir beim Priesterkönig erlebt haben. Hingabe, Zuneigung, Aufopferung.« Langsam legte er seine Hände an ihre Schultern. »Befreie dich von deinem Vater, Anne. Er ist nicht das Maß aller Dinge, auch wenn er dich einst darauf konditioniert hat. Durch deine einzigartige Gabe unterscheidest du dich von seiner gefühllosen Kälte. Was Menschen durch dich geschaffen haben, kann nicht von dir emotionslos in Gang gesetzt worden sein. Magie ist keine Maschine. Das kann ich beweisen, ich habe schon eine Ley-Linie gesehen, sie ist lebendig und pulsiert. Sie ist das Adergeflecht zum Herzen der Welt. Und ich habe oft genug deine Leidenschaft erlebt, in vielen verschiedenen Situationen.«

Ihre tiefliegenden Augen ruhten auf ihm. »Und darum liebst du mich?«

Er hob leicht die Schultern. »Das ist schwer zu erklären. Es gibt viele Gründe – und keinen. Zumindest keinen rationalen, den man analysieren kann. Mein Herz hat so entschieden, und dann ist es eben so. Nicht zu ändern.«

»Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Die Liebe ist ihr eigener Sinn, Anne.«

»Aber was empfinde ich wohl für dich nach dieser langen Zeit?«, sagte sie nachdenklich.

»Immerhin schon ein Fortschritt, dass du es überhaupt zugibst«, schmunzelte er.

»Nachdem ich den Schritt getan habe, stand das außer Frage.« Sie blieb ernst. »Und nun bemerke ich weitreichende Veränderungen an mir, die mich beunruhigen. Sie sollten mir missfallen, aber dem ist nicht so. Das verwirrt mich am meisten und das muss ich erst … ergründen.«

»Und warum kannst du es nicht einfach geschehen lassen?«

»Einfach so?« Sie klang schockiert.

Er nickte. »Schau, du lebst schon so lange, Anne. Du hast alles, was möglich ist, mehrmals erlebt – aber das hier noch nicht. Das ist einmalig, so wie es die Liebe eben auch ist. Wie wär’s, wenn du es zulässt und dadurch herausfindest, wohin es führt? Es könnte sogar Spaß machen.«

Anne hob die Brauen. Dann zuckte ein Lächeln in ihren Mundwinkeln. »Du hast zu viel von mir gelernt. Ich sollte dich verlassen und Toms Muse werden.«

»Von dem lass die Finger! Außerdem ist er nicht an Frauen interessiert.«

»Na und? Ich bin eine elfische Dämonin. Denkst du, das wäre mein erstes Mal?«

Robert nahm ihren Arm, hakte ihn bei sich unter und schlenderte mit Anne weiter. In diesem Moment hörte der Schneefall auf, die Wolkendecke riss auf und schickte einen gleißenden Sonnenstrahl durch die klare, kalte Luft.

»Wenn das kein Zeichen ist!«, bemerkte er lachend.

»Unheilbarer Romantiker«, versetzte sie und stieß ihn leicht in die Seite. »Lass uns zum Stachus gehen und die Lage sondieren, bevor wir uns heute Nacht an die Arbeit machen.«

*

Die Sonne ging schon früh unter in diesen Tagen. Die Kälte biss zu, sobald es anfing zu dunkeln, und die Leute drängelten sich an den Glühweinständen. Dick eingepackte Straßenmusikanten aus Ecuador spielten Weihnachtslieder mit Quechua-Flöten, und sogar ein Maroniverkäufer hatte sich eingefunden, neben dem Stand mit den gebrannten Mandeln und Magenbrot. Überall brannte festliche Beleuchtung, Weihnachtssterne, Kometen, Engel und mehr, umrankt von grünen Girlanden. Die Jäger der Weihnachtsgeschenke steckten ihre Reviere in den Kaufhäusern ab und feilschten um die besten Schnäppchen.

Die Polizisten liefen möglichst unauffällig zu zweit Patrouille, sondierten unentwegt die dunklen Stellen oder hielten Ausschau nach verdächtig wirkenden Gestalten.

Es herrschte friedliche Feierabendstimmung, obwohl es erst Spätnachmittag war und im Sommer um diese Uhrzeit jeder an den Badesee gefahren wäre. Vereinzelt stäubte Schnee vom Himmel und brachte die Luft zum Glitzern.

Albert hasste und liebte diese Zeit am meisten. Er hasste sie, weil sie ihn zum Weinen brachte, wenn er sich zwangsläufig an die Vergangenheit erinnerte, als er noch einer von denen da gewesen war. Einer der geschäftig dahineilenden Familienväter, die sich beeilten, nach Hause zu kommen, nur vorher rasch eine Kleinigkeit besorgten. Damals hatte er die Penner genauso mitleidvoll angeschaut, wie er heute betrachtet wurde, und hatte gar nicht verstehen können, wie man so tief sinken konnte. Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass das sogar sehr schnell gehen konnte und man nicht unbedingt Einfluss auf die Entwicklung hatte.

Wie lange war das her? Nein, nein, nicht zählen. Dann musste er nur noch mehr weinen, und nichts war demütigender, als vor all denen da zu heulen. Sie sprachen einem auch so schon jegliche Würde ab.

Aber immerhin, und das war der Grund, warum Albert diese Zeit liebte, waren sie zu Weihnachten freigiebiger und nachsichtiger. Die Beruhigung des schlechten Gewissens. Auch die Niedrigsten sollten es mal ein bisschen besser haben, und man hinterfragte nicht, wieso sie auf der Straße saßen und bettelten.

Heute war ein recht guter Tag gewesen, stellte Albert fest. Da würde er sehr spät, wenn kaum mehr jemand da war, in den Frittenburger gehen und sich den Bauch vollschlagen. Kurz vor Betriebsschluss bekam er da oft noch einen Nachlass. In diesen Wochen gegen Jahresende musste Albert zwar oft frieren, aber nicht hungern. Da er nicht trank, was eine rühmliche Ausnahme war, wie er wusste, hatte er meistens etwas zu essen, und ab und zu durfte er in einem Geschäft die Mitarbeiterdusche benutzen und leistete sich den Waschsalon. Eine ordentliche Kleidung war das Wichtigste, das sagte Albert immer zu den anderen. Die meinten dann, dass er sich gefälligst schleichen solle, er, der antialkoholische besserwisserische Buchhalter, der sich für was Vornehmeres hielt und angenehmer riechen wolle, wo es auf der Straße doch immer gleich stank.

Ab und zu wurde es eng, vor allem im Winter. Nicht nur, dass die guten Verstecke noch begrenzter waren und man auf der Hut sein musste, nicht von den Bullen aufgegriffen zu werden, man lief auch mehr Gefahr, den Jugendbanden in die Arme zu laufen. Wenn man Glück hatte, verlor man nur den Verdienst vom Tage. Viel öfter aber verlor man noch ein paar Zähne. Inzwischen gab es auch welche, die einen gar nicht ausrauben, sondern überhaupt nur zusammenschlagen wollten, dabei mit dem Handy filmten, um die Aufnahmen in den Social Medias zu verbreiten. Happy Slamming nannten sie das. Unter happy verstand Albert aber was anderes. Was das Slamming allerdings betraf, damit kannte er sich inzwischen recht gut aus.

»Danke, vergelt’s Gott und fröhliche Weihnachten«, murmelte er höflich und kopfnickend, immer bemüht, dem Gebenden nicht in die Augen zu sehen. Der wäre dann peinlich berührt und würde das nie wieder tun. Als Penner hatte man genau zu wissen, wie man sich zu benehmen hatte, und musste sich bewusst sein, wo der eigene Stand war: flach auf dem Boden, unterhalb jeder nützlichen Kreatur.

»Alles Gute«, sagte der Mann und gab ihm einen Schein, und Albert fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sah er richtig, waren das wirklich fünfzig Euro?

»V-verzeihung, aber Sie haben …«, stammelte er und hätte beinahe zu hoch geschaut. Er bremste gerade rechtzeitig vor der Augenhöhe und erkannte dabei, dass es ein gut gekleidetes Paar war, das Arm in Arm vor ihm stand. Von der Frau ging ein Duft aus, nach Sandelholz und Moschus und Rosen, der Albert fast den Verstand raubte.

»Das ist in Ordnung«, unterbrach der Mann. Er hatte eine merkwürdige Ausstrahlung, die Albert ein wenig beunruhigte. »Gönnen Sie sich was.« Sie gingen weiter, und Albert wäre am liebsten jubelnd und mit dem Schein wedelnd die Fußgängerzone rauf und runter gerannt.

Die Polizei kam schon wieder vorbei. »Alles in Ordnung?«, fragte die Gesetzeshüterin.

Hatte er sich etwa töricht benommen und es nicht gemerkt? Kleiner Blackout? Still, still, er durfte nicht auffallen, sich nicht verraten …

»Ja, danke«, antwortete Albert im gewohnt devoten, höflichen Tonfall und sah sie nicht an, hob den Blick nur halb. »Ich fühle mich sicher.«

»Machen Sie bald Schluss«, riet der Kollege. »Wir dürfen Sie hier nicht sitzenlassen, das wissen Sie.«

»Ich wollte sowieso gerade gehen«, versicherte Albert. »Es reicht heute sogar fürs Asyl.«

»Schön. Gu… hmm … Abend.«

Albert wartete, bis sie in der Menge verschwunden waren, dann stand er auf. Seit diese furchtbaren Morde geschehen waren, gab es mehr Kontrollen als früher, aber die Polizei war erstaunlich rücksichtsvoll. Sogar gesiezt hatten sie ihn. Als ob er ein Mensch wäre wie sie, was natürlich ein Trugschluss war. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass die Presse irgendwo lauerte und alles dokumentierte.

Die meisten Obdachlosen hatten sich zum Hauptbahnhof zurückgezogen, wo heftige Kämpfe wegen des begrenzten Platzes stattfanden, aber dort fühlten sie sich trotzdem sicherer. Albert war geblieben.

Wenn es denn sein sollte, dass ihm jemand ans Leder wollte, dann war es eben so, er sah das völlig fatalistisch. Er hatte sowieso nichts mehr zu erwarten. Tagein, tagaus dieses Leben, jahrein, jahraus … er war nur zu feige, Schluss zu machen. An einem verbliebenen Funken Hoffnung lag es nicht, denn es würde niemals wieder besser werden. Eher schlimmer, wenn sich das Alter mit Zipperlein und desgleichen bemerkbar machte. Wenn er nun also ermordet würde, wäre alles überstanden, und es gab wenigstens einen kurzen Nachruf in der Zeitung. Und seine Familie in Berlin würde es erfahren, vielleicht sogar in den Abendnachrichten, wenn es bei Albert besonders grausige Details gäbe. Zur Vorsicht hatte er immer seinen abgelaufenen Ausweis dabei, damit man wusste, dass er einst einen Namen, einen Wohnsitz und ein ordentliches Leben gehabt hatte.

Das mit dem Asyl hatte er nur so gesagt, weil es die Polizisten gern hörten. Aber das stundenlange Anstehen hatte Albert satt, vor allem, wenn dann sowieso kein Platz mehr frei war. Er döste ja irgendwie den ganzen Tag vor sich hin, da machte es nichts, wenn es nachts unbequem war. Unter Schlafmangel litt er nicht, er tat ja nichts weiter und konnte jederzeit ein Nickerchen halten, wann immer ihm danach war.

Das Essen war es, um das er immer panisch besorgt war. Als er auf der Straße angefangen hatte, hatte Albert so unter Hunger gelitten, dass er alles gelb gesehen und sich die Galle aus dem Leib gekotzt hatte. Das sollte ihm nie wieder passieren. Da half auch kein Alkohol, aber den hatte er sowieso noch nie vertragen. Und seit er die Galle los war, wurde ihm schon übel, wenn er nur daran dachte.

»Ach, was soll’s«, murmelte Albert und steuerte einen Straßenimbiss an. Gönnte er sich heute eben schon früher etwas, und etwas Besonderes. Döner? Bratwurst? Pizza? Eins nach dem anderen? Albert kicherte in sich hinein. Nein, das ging nicht, würde nur auffallen. Und auch gar nicht in seinen geschrumpften Magen passen.

Besser, das Geld nach und nach auszugeben, das würde für Tage reichen. Also holte er sich zwei Leberkäsesemmeln aus dem Sonderangebot, einen großen Kaffee und ein Wasser. Während die eine Hand sich um den knisternden Schein krümmte, zählte die andere die Münzen exakt ab. Und dann gab er noch zehn Cent obendrauf und lächelte heiter dazu.

Die Leute schauten ihn ausnahmsweise einmal nicht komisch an, weil man bei der Dunkelheit, den dahintreibenden Schneeflocken und den dick eingepackten Figuren sowieso nicht mehr erkennen konnte, ob sich da ein Penner unter die Menge mischte. Albert trug außerdem einen Hut, der seine Haare und die Hälfte seines Gesichtes verbarg.

»Hör mal, Alter …«, fing der Mann im Fenster an, der natürlich sehen konnte, wen er da vor sich hatte, aber er winkte ab.

»Lass man gut sein, Junge, das ist doch lächerlich, was ich dir da geb, aber gönn mir die Freude, ja? Heut war’s ein guter Tag, und ich will davon was weitergeben.«

»Na, dann.«

Er nahm die Tüte in Empfang und machte sich seltsam beschwingt wieder auf den Weg. Heute war ihm noch gar nichts Schlechtes passiert, und trotzdem hatte er keine Angst, dass es dafür umso geballter kommen könnte. Denn es kam sogar besser. Als er die Tüte öffnete, entdeckte er einen kleinen Schokoriegel, den der Mann am Fenster extra eingepackt hatte, ohne etwas zu sagen oder zu berechnen. Und zwar, bevor Albert ihm die Münze gegeben hatte.

Albert stiefelte über den Karlsplatz bis hinunter zum Alten Botanischen Garten, setzte sich dort im Dämmer auf eine Bank und schmauste voller Genuss. Der kleine Park selbst war unbeleuchtet, aber der Schein der Straßenlampen ringsum fiel herein, und der Schnee reflektierte das Licht zusätzlich.

Ab und zu knackste es im Gehölz, aber Albert fürchtete sich nicht. Er wusste, dass hier Katzen nach Ratten jagten. Er hatte schon völlig Abgestürzte mit den Katzen um die fiepende und bissige Beute kämpfen gesehen.

Selbst wenn man sich schon ganz unten angekommen glaubte, ging es trotzdem immer noch ein Stückchen tiefer hinab. Drogen und Alkohol. Aber so tief würde Albert niemals sinken. Das nicht!

Mit dem Kaffee zusammen kaute Albert den Schokoriegel und kam sich vor wie im Himmel. Er konnte sich fast nichts Besseres wünschen. Nun den Rest der heutigen Einkünfte noch ins Versteck bringen und dann auf zur Suche nach einem Nachtlager. Es wäre zwar ein wenig früh, aber es war dunkel, und wenn es einen guten Platz gab, warum nicht? Er konnte sich ja ein wenig im U-Bahnhof herumtreiben, außerhalb des Sichtbereichs der Kameras. Da war es einigermaßen warm, das half die Nacht besser zu überstehen. Eventuell konnte er da sogar zwei Stunden in Ruhe schlafen.

Und dann würde er mal wieder nachzählen, was er gebunkert hatte. Vielleicht würde es ja doch mal reichen, um …

Ja, was sollte er eigentlich damit anfangen? Eine dicke Jacke hatte keinen Sinn, die würden die Banden ihm sofort wieder wegnehmen. Desgleichen Schuhe. Hatte er alles schon einmal ausprobiert und dann nie wieder. Ein anständiges Essen, also ein Menü? Nur, wenn es nach draußen geliefert wurde, denn in ein Restaurant würde ihn keiner lassen. Also, was?

Ein Hund, dachte Albert. Ich werde mir einen Hund aus dem Tierheim holen. Und wenn die mir keinen geben, so werde ich schon anderswo einen finden. Und dann bin ich nicht mehr allein. Ich werde mich gut um ihn kümmern, und wir werden uns im Winter gegenseitig wärmen, und im Sommer fahre ich mit ihm an den See. Von dem Gesparten kaufe ich ihm ein Halsband und Dosenfutter. Aber nur Gutes, keinen Billigdreck. Mein Hund soll es bestens haben. Er soll glänzende Augen und ein glänzendes Fell haben, und die Leute sollen sagen, wie gepflegt er ist und mich dafür bewundern.

Alberts Herz begann aufgeregt zu pochen. Das war es! Gleich nach Weihnachten, wenn die niedlichen flauschigen Geschenke unterm Christbaum zum ersten Mal ins Haus gepisst hatten und deswegen rausflogen, würde er sich einen so armen kleinen Kerl holen und sich seiner annehmen. Wenigstens einer sollte Glück im Unglück haben.

Er nickte heftig, stand auf und kehrte zum Stachus zurück. Ein guter Plan, ein sehr guter Plan. An ihm würde er heute Nacht noch ein bisschen herumfeilen. Unten in der Bahn, wo es wärmer war.

Alberts gewohnter Abstieg war gesperrt, das hatte er vergessen. Das Problem war, die anderen Abgänge waren bewacht. Überall patrouillierten Polizisten und nahmen jeden genau in Augenschein, der runter wollte. Vor allem auf die Penner hatten sie es abgesehen, keiner durfte sich derzeit dort unten aufhalten. Dabei war Albert sicher, dass ihm nichts geschehen würde. Es gab ja niemanden mehr außer ihm hier, die anderen waren alle feige abgehauen. Und nun gehörte ihm dieses Revier ganz allein. Was bedeutete, die anderen brauchten sich bloß nichts einzubilden, wenn sie irgendwann zurückkamen, sobald die Luft rein war, und meinten, es ginge so weiter wie vorher. Nichts da!

Für Albert stellte sich nun das Problem in den Weg, dass er unbedingt da hinunter musste. Denn dort war auch sein Safe, wo er das Geld bunkerte. Und das war jetzt wichtig, wo er doch bald einen Hund zu versorgen hatte.

Da lachte ihm erneut das Glück.

Eine Gruppe Touristen kam angestapft, in lebhafte Unterhaltung vertieft. Albert lavierte sich geschickt mit dazu und war schon in der U-Bahn unten, noch bevor sein Herz aufgeregt pochen konnte. Man lernte auf der Straße schnell, unsichtbar zu sein. Albert war inzwischen Profi, trotzdem hatte er jedes Mal Lampenfieber.

Er steuerte zwischen den Menschen hindurch und hinter den Säulen entlang, immer am Erfassungsbereich der Kameras vorbei, zum anderen Ende des Bahnsteigs, wo es keinen Aufgang mehr gab. Er setzte sich auf die letzte Bank, ganz nach außen, und beobachtete aus der Distanz die Leute, die auf den Zug warteten. Wenn Polizei auftauchen würde, musste er schnell verschwinden. Mist, ich habe die Bahnsteigkarte vergessen!, dachte Albert ärgerlich. Dabei hätte ich sie mir heute leisten können.

Und dann hätte die Polizei ihm nichts anhaben können. Mit einer ordnungsgemäß gelösten Bahnsteigkarte durfte er sich hier aufhalten, zumindest für eine bestimmte Zeit. In so einem Moment hatte er nicht einmal den Status des Obdachlosen. Eine oder zwei Stunden Normalität. Und er hatte es vergessen!

Er könnte sich heute sogar eine ganz normale Fahrkarte kaufen und eine Weile kreuz und quer durch die Stadt fahren. In der U-Bahn sitzen und so tun, als wolle er irgendwohin.

Und wenn ich den Hund habe, gehe ich mit ihm im Englischen Garten spazieren. Und unterhalte mich mit anderen Hundebesitzern und tausche Tipps …

Die Polizei kam und ging. Albert spielte Verstecken mit ihr und gewann jedes Mal. Der Abend schritt voran, die Geschäfte schlossen, der Bahnsteig leerte sich. Bald konnte er an sein Versteck, und dann nach einer Übernachtung suchen. Vielleicht löste er doch noch eine Bahnsteigkarte und blieb hier bis zur Sperrstunde, immerhin war er ja gut bewacht. Und es war leidlich warm im Gegensatz zu oben. Wenn er dann rausgeworfen wurde, hatte er schon ein wenig geschlafen und konnte sich im Frittenburger noch was zu essen holen, bevor er sich der Kälte stellen musste.

Alles leer. Die Gelegenheit war günstig. Schnell, schnell, bevor wieder jemand kam.

Albert glitt von der Bank, näherte sich dem Schacht und schlüpfte am Sperrschild vorbei auf den Montagesteg. Keine Gefahr durch den Zug, der Abstand war groß genug. Da hatte ausnahmsweise ein Architekt mal mitgedacht.

Eins, zwei, drei … die Schritte genau gezählt, um die richtige Stelle nicht zu verpassen. Der Tunnel war hier nur dürftig beleuchtet, und weiter hinten gab es gar kein Licht mehr. Irgendwo dazwischen war Alberts Safe.

Er erkannte die Stelle, tastete die Rillen und Unebenheiten ab und fand den richtigen Stein. Behutsam löste er ihn heraus und ließ die Hand in die Tasche gleiten.

»Hunger …«

Schlagartig standen Albert sämtliche Haare zu Berge, als er die heisere, seltsam kratzige Stimme aus der Dunkelheit hörte. Jemand hatte ihn beobachtet und kannte jetzt sein Versteck!

Hastig stopfte er das Geld, allem voran den großen Schein, in den Safe. »Ich kann dir was leihen, damit du dir was kaufen kannst«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Fieberhaft präparierte er das Versteck und verwischte alle Spuren.

»Hunger …«

»Ja, das habe ich verstanden, Kumpel.«

Fertig. Albert stand auf und drehte sich um. »Wie wär’s, wenn du erst mal aus der Dunkelheit kommst, damit wir in Ruhe über alles reden können?«

Stille. Dann hörte Albert ein schlurfendes Geräusch und ein Röcheln, als ob jemand Schwierigkeiten mit dem Atmen hätte. Das auch noch, ein Kranker. Hoffentlich war er nicht ansteckend!

»Na, was ist? Nur nicht schüchtern, du siehst doch, ich bin einer von deiner Sorte.«

»Hunger …«, krächzte die Stimme, die so gar nichts Menschliches an sich hatte. Aber die Straße nahm einem jegliche Menschlichkeit, das war noch nicht beunruhigend.

Doch dann trat eine Gestalt ins schummrige Licht, kam quer übers Gleis auf Albert zu, und er begann zu schreien.

*

Kurz nach 23 Uhr trafen Robert und Anne wieder ein. Sie waren zu Fuß gegangen, um zu sehen, ob nur der Stachus von der Gefahr betroffen war. Sie waren nicht die einzigen Fußgänger, das eine oder andere Paar unternahm ebenfalls einen Schaufensterbummel, und natürlich war die Polizei unterwegs.

Magische Strömungen waren keine zu spüren. Was auch immer die Bürger in Angst und Schrecken versetzte, es hatte nur einen sehr begrenzten Wirkungskreis.

»Dann werden wir des Rätsels Lösung bald haben, und Commissioner Gordon wird zufrieden sein«, resümierte Robert.

»Der in dem Fall gar nicht ermittelt, und außerdem seid ihr beide zu erwachsen dafür, oder nicht?«, bemerkte Anne sarkastisch.

»Aber nein, aber nein, dafür kann man nie erwachsen genug werden«, meinte er grinsend. »Wobei, aus der Rolle des Olsen bin ich tatsächlich herausgewachsen, jetzt bin ich mehr ein Superheld, so wie Blade oder so.«

»Du hast mehr von einem Elfen an dir, als du ahnst.« Sie lachte, was selten genug vorkam. »Anscheinend bist du gerade heimgekehrt.«

»So fühle ich mich, mein Herz.«

Der gesamte Stachus lag in romantischem Licht. Der einzige Schandfleck war der hässlich verdeckte Brunnen, der sonst im Sommer zusätzliche Stimmung verbreitete.

Ein steter Strom an Autos flanierte vorbei; kaum zu glauben, dass hier mitten im Leben derart grausige Morde geschehen konnten, ohne dass die Ursache dafür gefunden wurde.

»Und denkst du immer noch schlecht über deine Stadt?«, fuhr Anne fort, während sie Arm in Arm zum verabredeten Punkt schlenderten.

»Grummel«, machte er. »Nein. Ich meine, ja. Ich meine … diese Stadt ist schön. Man wird sogar mit Hund freundlich aufgenommen, ohne gleich als niederträchtiger Sünder und Umweltverschmutzer verschrien zu sein. Aber was mich stört … ist das, was verloren gegangen ist. Die Stadt hat versucht, sich an die Moderne anzupassen, und dabei ihre eigene Identität aufgegeben. Das ist, was ich ihr vorwerfe. Sie hat all das verworfen, was sie liebenswürdig und lebenswert gemacht hat. Wien ist die Anpassung besser gelungen, und von London brauchen wir erst gar nicht zu reden. Diese Stadt aber ist ein Dorf geblieben, das nicht weiß, wohin es gehört. Doch sie hat auch ihren studentischen Flair an gewissen Orten.«

Anne sah sich um. Leute spazierten ohne Ziel und Wollen, einfach nur so. Es war der friedlichste Ort der Welt. Eine Illusion? »Wo ist jetzt Tom?«

»Na, hier«, erklang eine muntere Stimme, und plötzlich stand der blonde Journalist vor ihnen. »Ich folge euch schon eine Weile.«

Robert war verblüfft. »Wie …«

Tom grinste vergnügt. »Erste Reporterregel: Falle niemals auf.«

»Das weiß ich, aber …«

»Na ja, das ist so eine Sache. Ihr seid ja beide magische Geschöpfe.« Tom hob die Schultern. »Wisst ihr, als das auf Island geschah … als alle nach Nadja gesucht haben …«

Robert erinnerte sich. »Ich habe mit Fabio telefoniert, als du auch da warst …«

»Genau. Ihr seid alle nach Island geflogen. Und dann kam der Getreue und quetschte mich aus. Ich habe Nadja an ihn verraten.« Toms blaue Augen trübten sich. »Sie hat mir verziehen, ich mir nicht. Wie auch immer. Anstatt mich umzubringen, hat der Getreue mir etwas gegeben. Ich stellte es in Tokio fest, als ich Cagliostro begegnete. Zuerst haben wir ja darüber gerätselt, wie das möglich sein sollte. Auf dem Rückflug hatte ich allerdings genug Gelegenheit, darüber nachzudenken und meine Schlüsse zu ziehen. Und meiner Ansicht nach gibt es nur eine einzige Lösung.« Auffordernd sah er Anne an. »Mach was.«

»Und was?«, fragte sie irritiert.

»Wirke einen Elfenzauber gegen mich.«

»Was ist das für ein dummes Spiel?«

»Probier’s, Anne, bitte«, forderte Robert sie auf, der ahnte, worauf Tom hinauswollte.

Ihre Augen funkelten, aber dann gab sie nach. Sie richtete ihren Blick auf Tom. Robert hörte durch seinen Vampirsinn, dass sie etwas zu ihm sagte, konnte es aber nicht verstehen.

Tom rührte sich nicht.

Anne machte ein verblüfftes Gesicht.

»Du wolltest, dass ich auf einem Bein herumhüpfe und dabei mit den Armen wedle, wie ein Gockel um eine Henne«, sagte Tom völlig ernsthaft.

»Ja«, gab sie zu. »Meine leichteste Übung. Ich habe noch nie versagt.«

»Das hast du auch nicht. Dein Zauber kam bei mir an. Aber ich habe ihn neutralisiert.«

»Was?«, rief Robert. »Du hebst jeden Zauber auf?«

»Ich weiß nicht, ob jeden«, gestand Tom. »Aber Cagliostro, der ein sehr mächtiger Zauberer geworden ist, erzeugte keine Wirkung, solange ich in der Nähe war.«

Anne schluckte. »Und das … soll der Getreue dir gegeben haben?«

Tom nickte. »Ich kann dir versichern, vorher hatte ich diese Fähigkeit, oder wie immer man es nennen will, nicht. Und …« Er schloss die Augen, und Grauen verzerrte seine Miene. Dann brach es wie eine Sturmflut aus ihm hervor.

»Er … hat mich vergewaltigt«, flüsterte er. »Nicht körperlich, sondern geistig, was viel schlimmer ist. Was er mir angetan hat … ich sage euch ehrlich, ich war zuerst nicht sicher, ob ich das überleben würde. Überleben wollte. Ich hatte mich noch nicht entschieden, als Nadja sich aus Tokio meldete. Das war sozusagen meine Lebensrettung. Und letztendlich die Erkenntnis, dass der Getreue mir etwas als Ausgleich gegeben hatte, dass er mich derart beschmutzte.«

Robert merkte, wie sehr Tom es gut tat, mit ihnen darüber sprechen zu können, dass es aus ihm heraus musste. Kein Wunder, er hatte ja sonst niemanden, und mit Nadja konnte er nicht so darüber reden wie mit Robert und Anne, da sie der Grund für Toms Trauma war. Robert und Anne waren neutrale Verbündete, mit denen man über so etwas Entsetzliches reden konnte. Seit Monaten quälte es ihn, da musste er ja verzweifeln.

Jeder wusste, was der Getreue einem antun konnte. Robert war erstaunt, wie fröhlich Tom dabei immer noch sein konnte. Er selbst hätte sich wahrscheinlich bewusstlos gesoffen.

Hatte er getan, nach dem Tod seiner Frau und Tochter.

Anne tat etwas Ungewöhnliches. Sie legte eine Hand auf Toms Arm. »Das ist vorbei«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Er hat seine Schuld beglichen.«

»Und ich muss damit leben?«

»Du kannst damit leben.« Anne sprach eindringlich. »Der Getreue hat erkannt, dass du noch eine wichtige Rolle zu spielen hast in dieser Geschichte, deswegen ließ er dich leben. Und gab dir etwas, wie bei einem Handel, für das, was er dir nahm. Es war schrecklich, was er dir angetan hat, aber es ist nichts, woran du scheitern müsstest, Tom. Das Gleichgewicht ist erhalten geblieben. Es ist vorbei.«

»Und die Narbe?«, sagte er leise.

»Unser Leben taucht die Feder in die Tinte und schreibt seine Geschichte auf. Das sind die Narben, Tom. Nichts anderes als Schriftzeichen. Markierungen für deine Erinnerungen. Die Historie deines Lebens. Was sollte daran schlimm oder erschreckend sein? Sei froh darum. Du wirst nicht als unbeschriebenes Blatt sterben, sondern eine Geschichte hinterlassen. Du hast deinen Abdruck in die Annalen des Lebens gesetzt.«