Kitabı oku: «Elfenzeit 8: Lyonesse», sayfa 4

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Doch jetzt hier zu stehen, von den Kameras nicht erfasst werden zu können und einer Finsternis ihre Geheimnisse zu entreißen – das hatte was. Und war erst der Beginn. Robert kannte bei weitem noch nicht alle seine Fähigkeiten, und er war gespannt darauf, was alles in ihm lauerte, abgesehen von den übermenschlichen Kräften.

Moment … hatte sich da etwas bewegt? Er hatte wieder einmal nicht aufgepasst, war in seinen Gedanken abgeschweift, ganz wie früher. Zu sehr versunken in sich selbst. Als Jäger hatte er noch nicht sonderlich viel Erfahrung und wahrscheinlich auch kein ausgeprägtes Talent.

Robert ging ein Stück näher und konzentrierte sich. Um nicht zu sehr auf sich aufmerksam zu machen, hörte er einfach auf zu atmen. Solange er sich nicht bewegte, war das kein Problem, sein Körper verfiel dann in eine Art Leichenstarre. Auch einer der Tricks, die er durch Zufall herausfand.

Die Geduld machte sich bezahlt. Dort hinten war etwas!

Robert sprang in den Gleisgraben und rannte los. Er brauchte keine Sorge zu haben, keine U-Bahn fuhr derzeit. Anne rief ihm hinterher, doch er achtete nicht auf sie. Er wollte wissen, was sich da bewegt hatte; er war sicher, dass es etwas Nichtmenschliches gewesen war.

Anne stieß einen Fluch aus, dann tauchte Robert in die Dunkelheit ein, und alle Geräusche hinter ihm erstarben. Trittsicher fanden seine Füße den Weg, ohne an die tückischen Stromleitungen zu geraten oder über Unebenheiten zu stolpern. Ihm war so, als würde er genau wie Anne den Boden nicht mehr richtig berühren.

Vor ihm erklang ein erstickter Laut, und dann huschte etwas davon, tiefer in den Schacht hinein. Eine andere Fluchtmöglichkeit gab es nicht, was die Jagd erleichterte.

»Bleib stehen!«, rief Robert. »Lass uns reden!«

Das Wesen dachte nicht daran, und Robert konnte es ihm nicht verübeln. Wenn es bereits wusste, dass ein Vampir hinter ihm her war, konnte es solchen Worten wohl kaum Vertrauen schenken.

Also Gas geben. Mal sehen, wie schnell er hier unten werden konnte. Robert beschleunigte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er spürte, wie seine Fangzähne ausfuhren, und wie etwas anderes, Wildes an die Oberfläche drängte und übernehmen wollte. Robert zwang es zurück, doch es gelang ihm nicht ganz. Der Jagdtrieb trieb ihn nun voran, er brauchte gar nicht mehr viel dazu zu tun.

Die Beute … das Wesen war sehr viel kleiner und dadurch flinker im Hakenschlagen. Robert kam ihm trotzdem näher, doch es wechselte schnell die Seiten, sodass er es nicht packen konnte. Seine hochkonzentrierten Sinne empfingen plötzlich Luftströmungen, was bedeutete, dass es irgendwo dort vorn eine Abzweigung gab. Vermutlich auch Verstecke. Dann hatte er so gut wie keine Chance mehr, die Beute – nein, das Wesen zu erwischen.

Er war fast dran. Für einen kurzen Moment überließ Robert die Kontrolle dem Raubtier in sich und empfand sich plötzlich als Beobachter. In einer rasendschnellen Berechnung erkannte das Tier in ihm, welchen Haken die Beu… das Wesen als nächstes schlagen würde. Im selben Moment stieß Robert sich ab, hechtete quer über das Gleis in einem gewaltigen Satz nach vorn und brach wie ein Sturm über den Verfolgten herein.

Roberts Finger packten raues Fell, während sie beide stürzten, er rollte sich sofort ab und kam wieder auf die Beine. Sein Opfer wand sich heftig, doch er hielt es unerbittlich fest.

»Halt endlich still!«, rief er. »Ich will dir ja nichts tun, nur mit dir reden.«

»Lügner!«, schrillte das Wesen. »Ihr Untoten seid alle gleich!«

»Ich bin kein Untoter, jedenfalls nicht so richtig«, erwiderte Robert.

»Was denn sonst, du Vampir? So rotglühende Augen hat doch kein Mensch, und ein Elf bist du auch nicht! Da bleiben nicht viele Möglichkeiten übrig!«

Rotglühende Augen, dachte Robert. Erneut fuhr er sich mit der Zunge über die spitzen Reißzähne, entblößte sie dabei, und sein Gefangener stieß einen weiteren panischen Schrei aus.

»Ich tu alles, was du willst, nur beiß mich nicht!«, bettelte er.

»Du bist mir viel zu haarig«, erwiderte Robert und setzte den Kleinen ab, hielt ihn nur noch im Genick fest. Das Raubtier in ihm zog sich langsam, enttäuscht zurück. Keine lohnenswerte Beute. Robert war froh darüber. »Was bist du überhaupt für einer?«

»Pickwick Chadwick Sloterbick, oder auch kurz Chad, wenn’s genehm ist«, antwortete der Kleine. Er mochte etwa so groß wie Grog sein und aus einer ähnlichen Sippe stammen, da er ebenfalls eine ziemlich große Nase besaß. Sein Körper war von dichtem braunem Fell bedeckt, das nach Steinpilz roch, und hellgrüne Augen funkelten in der Dunkelheit. Seine haarigen Ohren waren sehr lang. »Ich bin nur auf der Durchreise und hatte nicht vor, lange zu verweilen.«

»Auf der Durchreise von wo?«

»London, Mann. Da ist’s derzeit ziemlich ungemütlich, deshalb suche ich nach einem ruhigeren Plätzchen, hatte aber bisher kein Glück.«

»Also, Chad – ich bin Robert. Bis vor kurzem war ich ein Mensch, jetzt ein Vampir, aber ich bin nicht an deinem Blut interessiert. Kommen wir zur Sache. Was weißt du über die Vorgänge hier, welche die Polizei auf den Plan bringen?«

»Komische Frage! Menschen sterben wie die Fliegen, ein Vampir ist in der Nähe – da kann man doch wohl eins und eins zusammenzählen, oder?«

Robert schüttelte Chad leicht, dessen Fell sich daraufhin sträubte. »Wenn ich dir diese Frage stelle, liegt die Vermutung nahe, dass ich nicht der Mörder bin, meinst du nicht? Andernfalls wärst du gar nicht mehr am Leben.«

»Möglich«, brummelte Chad, er klang nicht vollends überzeugt. »Lass mich endlich los, das ist demütigend!«

Robert kam der Aufforderung nach, die gebückte Haltung war ohnehin mehr als unbequem, und er stellte sich aufrecht hin, die Arme vor der Brust verschränkt. »Also, was geht hier vor sich?«

»Woher soll ich das wissen?« Chad schüttelte sich und strich das Fell glatt. »Ich bin neutral, ich halte mich aus allem raus. Halte mich fern von den Menschen und den meisten Elfen. Ich wäre schon längst fort, wenn das Tor funktionieren würde, aber irgendwas blockiert den Durchgang!«

»Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen«, überlegte Robert. »Wieso hast du London verlassen?«

»Sagte ich bereits. Seit die Grenzen fallen und die Zeit überall einbricht, dreht alles durch. In London ist ein Machtkampf ausgebrochen.«

»Zwischen wem?«

»Das willst du nicht wissen. Nicht mal ein Vampir will was mit denen zu tun haben.«

»London gehört doch zum Königreich Crain, nicht wahr?«

»Ja, aber es hat einen eigenen Machtbereich, sehr alt. Fanmór musste Unabhängigkeit zugestehen, er hat nur die oberste Gerichtsbarkeit. Und jetzt ist dort Krieg ausgebrochen zwischen zwei Mächtigen, da bin ich abgehauen. Wie viele andere übrigens.«

Robert rieb sich das vom Dreitagebart bedeckte Kinn. »Ganz schön leichtsinnig, allein zu reisen, wenn man so klein ist.«

Chad grinste plötzlich, und das beunruhigte Robert umgehend. »Bin ja nicht allein«, sagte der Kobold, und dann bekam Robert auch schon gewaltig eins über den Schädel gebraten.

4.
Der Zorn des Windes

Die Sonne brannte auf ihn herab. Kein Schatten, der ihm vorauslief, während er Richtung Norden ging. Seine Stiefel hinterließen keine Spuren, nur kurze Eindrücke, die sofort verwehten. Der Umhang, nicht viel mehr als grobes, an den Rändern ausgefasertes Gewebe, flatterte im heißen Wüstenwind.

Zug um Zug kehrten die Erinnerungen wieder, doch noch immer gab es große Lücken. Nur sein dunkler Turm in der Geistersphäre könnte sie ihm zurückgeben, aber trotz der Stärkung durch die Panzerechse war er nach wie vor zu schwach, dorthin zu gelangen. Also Ayoubs Rat folgen und gen Norden gehen, zum Meer, »wo alles begann«, was auch immer das bedeuten mochte. Doch der Nomade war nicht ohne Grund bei ihm gewesen.

Er wusste wieder, wer er war.

Er wusste wieder, was er war.

Aber er erinnerte sich nicht, was ihn hierher verschlagen hatte.

Da war Island gewesen … eine große Schlacht … aber warum? Was war seine Beteiligung daran gewesen? Was hatte ihn besiegen können?

Der Getreue blieb stehen und richtete den Blick zum wolkenlosen Himmel. »Bruder …«, flüsterte er. Hatte er schon jemals um Hilfe gebeten? Er konnte sich nicht entsinnen. Sie wäre allerdings sehr willkommen. Er erhielt keine Antwort.

Warum nur war er nach Island gegangen? Verschwommen tauchten Gesichter in seiner Erinnerung auf, doch er wusste nicht, wer sie waren. Ich habe meine Aufgabe und mich selbst vergessen. Ich werde verschwinden, wenn ich nicht schnell genug bin, um …

Ja, was zu finden? Was genau war der »Anfang«? Wodurch konnte der Getreue gerettet werden?

Er hob den Arm und betrachtete die Faust, öffnete sie, ballte sie wieder. Er spürte die Bewegung der Muskeln und erkannte, dass er vorher nicht nur sehr schnell, sondern auch unermesslich stark gewesen war. Die Erinnerung an diese Kraft war in ihm und trieb seinen Körper voran … oder vielmehr das, was von ihm übrig war. Er war nicht so recht stofflich, aber keinesfalls sphärisch.

Ein Schrei schallte durch die Wüste und wehte den Sand von der Düne. Der Getreue schrie Wut und Frustration hinaus. Der Wunsch zu töten kam in ihm auf, die Finger in zuckendes Fleisch zu tauchen, um seiner Existenz eine Basis zu geben, sie besser zu fühlen, sich zu verankern. Hatte er sich je zuvor in einer ähnlichen Situation befunden? Wenn ja, wie hatte er herausgefunden?

Ich bin abgeschnitten von etwas, das sterben muss, wenn ich nicht rechtzeitig zurückfinde. Ich weiß nicht, was es ist, nur, dass es Bestandteil meiner Aufgabe ist. Oder die Aufgabe selbst? Was kann ich tun? Wie kann ich verhindern, dass ich schwinde? Ich muss meinen Turm erreichen …

Der Boden schwankte unter seinen Füßen, die Sicht verschwamm. Die Grenzen zwischen den Welten waren hier fließend und nicht mehr undurchlässig. Der Getreue bewegte sich vermutlich gleichzeitig in der Menschen- und der Anderswelt. Nur die Geistersphäre konnte er nicht erreichen, obwohl unter ihm die mächtige Ley-Linie pochte, deren Verlauf er folgte. Sie gab ihm die Kraft, durch die Wüste zu wandern, aber sie verweigerte die Energie zum Wechsel in den dunklen Turm. Warum nur?

»Vielleicht Rache?«

Eine hohe Stimme kicherte hinter dem Getreuen und fuhr über ihn hinweg. Er sah sich um, da kam es schon von rechts: »Ist doch kein Wunder, nach allem, was du ihr angetan hast, oder?«, und von links: »Sie zu besetzen, zu missbrauchen, ihr die Freiheit zu nehmen …«

»Schweig still!«, fauchte der Getreue. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

Ein heißer Windstoß raubte ihm fast den Atem, brauste über ihn hinweg und zerrte an seinem Gewand. »Spiel nicht den Unschuldigen, Kapuzenmann! Du bist hier, um zu sühnen, und wir alle sehen dabei zu!«

»Dann zeig dich doch«, forderte der Getreue. »Wie sonst sollte ich wissen, ob du auch wirklich lachst?«

Das hohe Pfeifen erklang wieder, blies heiß und trocken um ihn herum, brauste dann davon. Auf einem Dünenkamm vor ihm bildete sich ein Wirbel, der die leicht verschwommene Gestalt eines schmalen Jünglings mit langen Locken und einem kecken kleinen Fez auf dem Kopf annahm. Seine tanzenden, von Schnabelschuhen bedeckten Füße wirbelten den Sand auf und verfestigten seine Konturen.

»Erkennst du mich nun, Schattenloser?« Er lachte herunter.

»Ghibli«, brummte der Getreue. »Ich gehe nach Norden, also pack dich und verschwinde nach Süden, wo du hingehörst!«

»Ha! Ich puste, wo und wie ich will, und blase dich um!«

Da musste der Verhüllte lachen, wenngleich krächzend. »Das hat schon der Sohn des Nordwinds vergeblich versucht.«

»Reize mich nicht!« Ghibli stürmte heran, doch der Getreue hielt ihm unbeeindruckt stand. Menschen und Elfen mochten in dieser trockenen Hitze halb verdorren, ihm machte das nichts aus. Er hatte sich an dem Krokodil gestärkt und er stand auf der Ley-Linie.

»Was willst du?«, fragte er ungehalten. »Wenn du nutzbringend sein willst, so blase mich über den Gebirgskamm da vor mir, das erspart mir viel Mühe.«

Am Horizont waren hoch aufgetürmte Felsengrate zu erkennen, soweit das Auge reichte. Unmöglich, sie zu umgehen. Steine und absolute Trockenheit lauerten dort, gnadenlose Hitze und steile Pfade. Die Grenze zu Ägypten verlief mitten hindurch. Doch dorthin durfte er nicht gehen, nicht jetzt.

»Du hast mir nichts zu befehlen, und ich habe keine Angst vor dir!«, pfiff der Südwind. »Diese Zeiten sind vorbei!«

»Sie fangen erst an«, knurrte der Getreue. Es würde ihn Kraft kosten, aber das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er bückte sich, tauchte die Hand in den Sand und rührte darin wie in einer Teigschüssel. Er rührte und rührte, und nach einer Weile wurde der Sand schwerelos und stieg auf, bildete eine Spirale, die um sich selbst tanzte.

»Was machst du da?«, rief Ghibli und kam auf leichter Brise näher. Er nahm wieder die Konturen des Jünglings an und sah neugierig zu.

»Ich erschaffe eine Dünentänzerin«, antwortete der Getreue.

»Was? Was? Lass mich sehen, ich kann nichts erkennen!« Ghibli wehte aufgeregt noch näher heran und jauchzte wie ein Kind, als sich weibliche Rundungen und Formen aus der Spirale bildeten, und Haare wie Schleier, die um die zierliche Gestalt wehten. Die Dünentänzerin hob die Arme und tanzte anmutig, bevor sie vollendet war.

»Warum so aufgeregt?«, fragte der Getreue und unterdrückte den Spott in seiner Stimme. »Du selbst erschaffst sie doch!«

»Ach nein«, sagte Ghibli traurig, »das macht mein Bruder, Chamsin. Er erschafft sie vor dem Sturm und zeigt sie Karawanen, bevor er sie unter Sand begräbt.«

»Dann bitte ihn doch, dir eine zu schenken!«

»Kann ich nicht diese haben? Bitte, bitte?«

Unter seiner Kapuze lächelte der Getreue finster. Er würde den jungen Wind Respekt lehren. Seine Hände vollführten ein paar Gesten, mit denen er die Dünentänzerin aufzunehmen schien und dann zu einer Düne schickte, auf deren Kamm sie zierlich landete und sofort weitertanzte.

»Du hattest wohl noch keine?«, fragte der Getreue scheinbar leutselig.

Ghibli schüttelte das windumtoste Haupt. »Chamsin hat es nie zugelassen, dabei bin ich längst alt genug! Er ist immer so streng und sagt, ich bin für den Süden zuständig, während er überall ist. Was für ein Unsinn!« Seine Gestalt schwankte unruhig hin und her, wie eine dünne Palme im Sturm. Seine Augen waren so begierig auf die Dünentänzerin gerichtet, dass er nicht einmal wissen wollte, wie der Getreue etwas zustandebrachte, das sein Bruder sonst als alleinige Fähigkeit zur Schöpfung beanspruchte.

Der Getreue bewegte die Finger, als wäre die Dünentänzerin seine Marionette, und ließ sie tanzen, tanzen …

Ghibli vergaß alle Vorsicht und brauste zu ihr. Er wehte um sie herum, umhauchte sie wispernd, und nach einer Weile fing sie an, sich an ihm zu orientieren. Sie drehte sich mit ihm, mit wiegenden Hüften und fließenden Armen, Sand stieg auf und umhüllte sie beide. Immer schneller und schneller drehten sie sich, immer mehr Sand wirbelte auf, wurde zu einem dichten Umhang, einer … Mauer.

Endlich merkte Ghibli es. »Was tust du?«, erscholl seine Stimme aus dem fest gewobenen Wirbel, der sich immer noch rasendschnell drehte und nichts mehr hindurchließ. »Lass mich frei!«

Der Getreue musste sich den Bauch halten, so lachte er. Es tat ihm gut, neue Kräfte durchströmten ihn, und er fühlte sich bedeutend besser.

»Tanz, kleiner Wind, tanz!«, rief er dem gefangenen Südwind zu. »Die Dünentänzerin ist allein dein, genieße das Geschenk!«

Lachend ging er weiter, während Ghibli verzweifelt hinter ihm herschrie, ihm drohte, ihn verfluchte, ihn zuletzt um Befreiung anbettelte. Aber der Getreue hatte kein Ohr mehr dafür. Ghibli hatte bekommen, wonach er verlangt hatte, alles weitere ging ihn nichts mehr an. Beschwingt schritt er aus, erklomm die Düne und ließ sich auf der anderen Seite hinabsinken.

Die Berge waren nun nicht mehr fern. Dem Getreuen war nicht wohl zumute, wenn er an die schwierige Überquerung dachte. Er würde sich von der Ley-Linie entfernen, die sich zudem dort verzweigte. Der Hauptstrang floss weiter nach Ägypten, zur Oase Siwa, und ein Nebenzweig folgte dem Pfad nach Norden, zu nicht weniger bedeutungsvollen Orten … zumindest hatte der Getreue es so in dunkler Erinnerung.

Doch die Felsen waren hoch, der Abstand weit, in seiner gegenwärtigen Verfassung keine angenehme Vorstellung. Früher … hätte er sich einfach an seinen Bestimmungsort gedacht. Aber nicht nur, dass ihm die Kraft dazu fehlte – er kannte seinen Bestimmungsort nicht. Vermutlich würde er sich erst daran erinnern, wenn er ihn erreicht hatte.

Die Dünen zogen sich allmählich zurück, und eine Kiesebene breitete sich am Fuße des Gebirges aus. Sobald er das Reich des Sandes verlassen hatte, gab es keine Deckung mehr, auch keine Hilfsmittel für kleine Zaubertricks.

So ungeschützt und schwach zu sein … fast wie ein Mensch.

Der Mann ohne Schatten lächelte grimmig. Dann soll es eben so sein.

Nur noch etwa vierhundert Meter trennten den Sand vom Stein.

Da verdunkelte sich innerhalb weniger Augenblicke der Himmel, und ein Sturm brach aus. Ein Sandsturm, der von Süden her mit gewaltiger Geschwindigkeit heranrollte. Sandwogen, höher als ein Tsunami, rasten heran und bedeckten im Nu das Himmelsblau. Der Getreue hastete in die Deckung einer Düne, die Einzige, die ihm blieb. Noch während er sich niederließ, um den Sturm über sich hinwegbrausen zu lassen, materialisierte vor ihm eine aus Sandwirbeln geformte Gestalt, ein Mann von drei oder vier Metern Höhe, der so sengende Hitze ausstrahlte, dass der Sand rings um ihn zu Glas gebacken wurde.

»Schattenloser!«, donnerte er.

»Chamsin!«, gab der Getreue zurück, denn er zweifelte keinen Moment daran, dass der mächtigste und tödlichste von Ghiblis Brüdern eingetroffen war. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Das weißt du besser als ich!«, brüllte der glühende Wüstenwind. »Was hast du meinem Bruder angetan?«

»Nichts. Was sollte man einem Wind schon antun können? Er weht davon.«

»Wenn er es vermag! Du hast ihn eingesperrt, die schlimmste und unerträglichste Schmach für unsere Art!«

»Oh, aber es war sein Wunsch – er wollte eine Dünentänzerin für sich, ohne dass du davon …«

»Schweig!« Chamsin wuchs immer mehr in die Höhe, und Flammen umloderten ihn.

Als er sich umsah, erblickte der Getreue eine gigantische Sandwelle über sich, die in der Bewegung eingefroren war. Würde sie freigesetzt, überspülte sie vermutlich noch die Südflanke des Gebirges und begrub alles unter sich. Der dabei ausgestoßene Staub würde bis Europa wehen und Fensterscheiben und Autos gelb färben. Möglicherweise war die Sandwolke sogar noch am Himmel erkennbar.

»So ein Aufwand nur meinetwegen?«, rief der Getreue. »Ich fühle mich geschmeichelt!«

»Ich tu dir einen Gefallen, wenn ich dich hier und jetzt begrabe«, dröhnte Chamsin. »Viele sind bereits auf der Suche nach dir. Es hat sich an gewissen Stellen herumgesprochen, dass du kränkelnd durch die Wüste ziehst, und eine Menge sehnen sich nach Rache.«

»Wie überaus zuvorkommend von dir, mich zu warnen. Aber nun muss ich weitergehen.« Der Getreue richtete sich auf und schickte sich an, auf das Gebirge zuzuschreiten.

Chamsin tobte vor Zorn, seine Gestalt verflüchtigte sich und formte sich neu zu einer rasenden Windsäule. »Du wagst es, mich zu missachten?«

»Du kannst mich nicht töten«, versetzte der Getreue. »Niemand kann das. Und für Rache besitze ich nicht mehr genug Substanz. Ich würde mich schneller auflösen als einer von euch mich überhaupt greifen kann.«

»Ich will dich ja nicht töten«, zischte der Wüstenwind, und der Mann ohne Schatten musste hastig den Fuß zurücknehmen, als der schmelzende Sand nun bis zu ihm reichte, rauchend und zu Glas erstarrend.

Chamsin fuhr fort: »Ich werde dich hier begraben, bis du von selbst dahingeschwunden bist! Denkst du, ich weiß das nicht? Alle Winde sind Brüder, Schattenloser! Ich habe genug über dich gehört!«

Der Getreue erkannte, dass er so nicht weiterkam. Er konnte sich auf keine Auseinandersetzung mit dem mächtigen Wind einlassen, das würde ihm Kräfte rauben, die er dringend benötigte.

Er schnellte in den Dünenschatten zurück, kauerte sich hin und warf den Umhang um sich, rollte sich wie ein Igel ein, und gerade noch im rechten Moment.

Chamsin ließ die wartende Sandwoge frei, die nun über dem Getreuen zusammenschlug. Das ohrenbetäubende Pfeifen und Brausen ließ keine anderen Geräusche mehr zu, der Sand war allgegenwärtig. In rasender Geschwindigkeit verschüttete er den Getreuen, drang durch das Gewebe, die Stiefel, die Handschuhe, drang in jede Pore, jede Öffnung, unaufhaltsam. Er ertrank im Sand, erstickte im Staub. Es gab keinen Schutz, keine Rettung.

Dem Sand konnte man ebenso wenig entkommen wie dem Wasser – es sei denn, man besaß Kiemen.

Doch im Sand waren Kiemen nutzlos. Selbst die gut angepassten Tiere hatten keine Chance, wenn sie es nicht rechtzeitig in die Tiefe schafften. Und auch dann war es fraglich, ob sie sich aus der Verschüttung befreien konnten. Sich freizugraben war fast unmöglich – je weiter es hinaufging, je mehr man unten schaufelte, desto mehr Sand rieselte von oben herunter und füllte den freigelegten Graben neu.

Der Sand war eine Naturgewalt, der nicht beizukommen war. Sie stellte auch den Getreuen auf eine harte Probe. Er spürte, wie sein stofflicher Körper langsam erstickte und verfiel, kaum dass er angefangen hatte, sich zu verfestigen. Der Verhüllte wusste nicht, wie er dem beikommen sollte, versuchte das Gewebe des Umhangs dichter zu verbinden, noch enger um sich zu schlingen und zu verhärten. Es gelang ihm kaum, und er verlor zusehends die Kontrolle. Aber er wollte nicht wieder als Tuchfetzen enden, der auf ewig im Sand begraben lag, ohne Aussicht auf Rettung, mit einem langsam erlöschenden Bewusstsein.

Ich hatte einst eine kalte Aura, dachte er. Sie muss mir helfen …

Er strengte sich an, suchte die Verbindung zur Ley-Linie und zapfte sie an. Der Strom floss nur dünn an dieser Stelle, doch er genügte ihm. Nach kurzer Zeit umhüllte ihn der Schutz seiner Aura, die eisige Kälte verströmte und sich gegen den heißen Sturm stemmte. Der Sand prasselte in unverminderter Wucht dagegen, konnte aber nicht mehr durchdringen.

Wie lange es dauerte, konnte der Getreue nicht einmal schätzen. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Müdigkeit spürte er, trotz der Verbindung zur Kraftlinie. Der Erstickungstod immerhin war abgewendet, sein geschwächter, halbstofflicher Körper erholte sich langsam. Die Kälte war wohltuend, schützte ihn vor Hitzschlag und Verbrennungen. Geduldig wartete er, weigerte sich, dem Verlangen nach Schlaf nachzugeben. Erst später, viel später würde die Zeit kommen zu ruhen. Doch nicht jetzt.

Schließlich war es vorbei. Chamsin konnte seinen Zorn nicht ewig über ihm ausschütten, es gab Regeln. Die Menschenwelt war sehr fragil. In diesen Tagen mehr denn je. Daran mussten sich auch die Winde halten.

Auf das Tosen folgte Stille. Beinahe so wie jene, an die der Getreue sich erinnerte, am Ursprung seines Seins. Wie lange war das her …

Der Getreue lauschte in die Stille hinein. Eine Wohltat, wie die Kälte. Fast, als wäre er wieder dort, wo alles anfing. Manchmal vermisste er den Ursprung. Manchmal wünschte er, er könnte dorthin zurückkehren.

Und so wird es sein, wenn ich diese Aufgabe beendet habe, dachte er. Ich habe eine lange Pause verdient, wenn alles vorüber ist.

Kühne Gedanken für jemanden, der sich überhaupt nicht mehr daran erinnerte, was denn seine Aufgabe war. Doch er war zuversichtlich, dass auch dieses Wissen bald zu ihm zurückkehren würde. Bis jetzt verlief alles gut. Wenn nicht bestens …

Dunkelheit umgab ihn, und er wäre gern noch eine Weile geblieben. Aber es duldete keinen Aufschub mehr. Der Mann ohne Schatten richtete sich langsam auf. Der Sand versuchte, Widerstand zu leisten, rieselte jedoch haltlos an ihm hinab. Sich hindurchzuschlängeln war eine der leichtesten Übungen, und der Getreue beherrschte sie auch in seinem angeschlagenen Zustand. Vielleicht sogar besser noch als im Vollbesitz seiner Kräfte, da er nicht ganz stofflich war.

Er versuchte nicht, sich nach oben freizugraben, das wäre zum Scheitern verurteilt. Vielmehr wand er sich durch den Sand hindurch wie eine Schlange, bewegte sich vorwärts und wagte erste Schritte. Vorwärts, bis ans Ende des Berges, und dann hindurch.

Auf seinen Orientierungssinn konnte er sich verlassen. Er fühlte die Kraftlinie unter sich und ihre Stromrichtung. Dort lag Norden, dort endete die Düne. Stetig, immer weiter kämpfte er sich durch den Sandberg aus Windzorn, der sich über ihm aufgetürmt hatte. Doch da wurde es heller, die Schichten dünner, und er konnte den ersten Luftzug spüren. Erleichtert atmete der Getreue ein, und dann brach er durch den Sandwall hindurch und stand im Freien.

Tiefblauer Himmel wölbte sich über ihm, und weit im Westen hing eine rote, leicht verschleierte Sonne. Das Land ringsum hatte sich völlig verändert und war nicht mehr wiederzuerkennen. Sandberge, wohin er schaute, bis an den Fuß des Gebirges. Hinter ihm türmten sich Dünen auf, die bis zu sechzig Meter hoch sein mochten. Wer auch immer seiner Spur gefolgt war, hatte sie nun verloren. Vielleicht sogar sein Leben.

Chamsin war fort. Vermutlich hatte er Ghibli befreit und mitgenommen. Die anderen Winde hielten sich nun zurück, sie würden zunächst abwarten, wie sich die Dinge entwickelten.

Vom Umhang hingen weitere Fetzen herab, die müde mit einer kleinen Brise spielten, Reste von Chamsins verwehtem Zorn. Zweifelsohne bot der Getreue weder einen furchteinflößenden noch vertrauenerweckenden Anblick. Er sah vielmehr aus wie etwas, das gerade dem Grab entstiegen war – und irgendwie war das ja auch so.

Also vorwärts. Nun musste er sich doch an den mühsamen Weg über das Gebirge machen, wo ihn, so weit entfernt von der Ley-Linie, Hunger und Durst plagen würden, und alle Schwächen, die ein sterbliches Wesen durchmachen konnte.

Er wandte sich zum Gehen, als er stutzte.

Der Sand war gewandert, hatte neue Dünen aufgetürmt, aber an anderer Stelle Hügel abgetragen und den Boden entblößt.

Am Rand der Düne, aus der er gerade gestiegen war, war felsiger Grund freigelegt.

Mit einem eingemauerten Metallring.

Dieses Gebiet war schon immer menschenleer gewesen. Wer baute also hier draußen, fern von allem, eine Grube oder einen Schacht, verschloss ihn und hinterließ einen starken Ring als Markierung und Öffner? Sollte das, was sich darunter verbarg, etwa nicht für immer dort bleiben?

Der Getreue wischte mit den Händen über den Boden, kehrte und blies Sand aus Ritzen und Fugen und legte einen Deckstein frei, umgeben von weiteren quaderförmigen Blöcken, die eindeutig künstlichen Ursprungs waren.

Er prüfte die Festigkeit des Rings. Alter und Zeit hatten ihm nichts antun können, er saß fest und sicher, das Metall war wie neu. Elfenbronze, ohne jeden Zweifel. Der Verhüllte würde jedoch nicht genug Kraft aufbringen, um den Deckstein auch nur einen Zentimeter anzuheben.

Also noch einmal die Ley-Linie in Anspruch nehmen. Es stimmt nicht, was Chamsin sagte, ich missbrauche sie nicht, habe ich nie getan, dachte der Getreue. Ich führe sie zu ihrer Bestimmung.

Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog.

Er schüttelte die Gedanken ab, das war jetzt nicht von Bedeutung. Allein die Konzentration auf die Selbstfindung zählte, alles andere war zweitrangig. Seine Hand sank nach unten, neben den Deckstein, und er tastete mit seinen magischen Sinnen tief hinab. Bald drang ein rötliches Leuchten von unten herauf, und dann sickerte roter Nebel nach oben, wie von einer unterirdischen heißen Quelle ausgestoßen. Er umspielte die Hand des Getreuen, wanderte hoch zu seiner Schulter, und von da aus den anderen Arm hinunter, dessen Finger sich fest in den Ring verkrallten. Als der Nebel dort angekommen war, spannte der Getreue seine Muskeln an und riss den Deckstein mit einem gewaltigen Ruck aus der Verankerung. Der Schwung warf ihn um, hastig ließ er los, während er den Halt verlor, und der schwere Stein krachte dröhnend auf den Boden. Der Getreue stürzte auf den Rücken und stieß einen keuchenden Laut aus. Seine Gestalt flackerte für einen Moment und wurde diffuser, doch er fing sich schnell wieder, sein eiserner Wille zwang ihn hoch.

Er drehte sich und kroch auf allen vieren an den Rand des Schachts, der schwarz empor gähnte. Uralte, staubige Luft waberte hervor und sank müde auf den Boden, um zu vergehen.

Ein leises Scharren zeigte an, dass sich etwas dort unten bewegte. Etwas atmete, zog geräuschvoll die sonnenerhitzte Luft ein, die über der Kälte dort unten strich und kleine Wirbel bildete.

Ein tierhaftes Wesen. Groß. Krallen kratzten über Gestein. Lungen pumpten Luft. Muskeln spannten sich an zum Sprung.

Der Getreue wich zurück und zwang sich auf die Beine.

Und da kam es auch schon heraus.

Ein rotgoldener Schemen, der mit donnerndem Gebrüll und einem gewaltigen Satz sein Gefängnis verließ und mit der Wucht eines Erdbebens auf dem Boden der Freiheit landete. Die mit herabwallender Mähne bedeckten Schultern annähernd zwei Meter hoch, ein muskulöser Löwenleib mit Skorpionschwanz, und statt eines Löwengesichts das eines menschlichen Mannes, beherrscht von wild glühenden Augen, harten, fast grausamen Gesichtszügen und einem übergroßen, überbreiten Mund mit drei scharfen Zahnreihen.

Sieh mal einer an, dachte der Getreue überrascht.

Der Mantikor brüllte ein zweites Mal und schüttelte sich, bevor er sein Augenmerk auf den Getreuen richtete, der ruhig dastand.

»Bin ich … der Letzte?«, fragte er mit heiserer, ungeübter Stimme.

»Hier? Soweit ich weiß, ja«, antwortete der Getreue. »Die anderen sind nach Jangala gegangen, doch es gibt nicht mehr viele von ihnen. Die Menschen mögen es im Allgemeinen nicht, bei lebendigem Leibe verspeist zu werden. Da sie zahlreich wie Zecken und unaufhaltsam wie Mücken sind, haben sie deiner Art den Garaus gemacht.«

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