Kitabı oku: «Das letzte rote Jahr»

Yazı tipi:

Miša, Rita und Slavka sind Freundinnen, seit sie denken können. Sie wohnen in einem Haus in der slowakischen Stadt Žilina: Ich-Erzählerin Miša in der Mitte, Rita in der Wohnung darüber, Slavka in der Wohnung darunter. Sie vertrauen sich Geheimnisse an, sprechen über ihre ersten Liebschaften. Dabei könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Rita ist überzeugte Pionierin, umso unerhörter scheint es, dass gerade Ritas Eltern heimlich über eine Flucht nach Österreich sprechen. Slavka, deren Vater sich bereits nach Schweden abgesetzt hat, interessiert sich wenig für Politik, dafür umso mehr für den jungen Geschichtslehrer und für die Gymnastik, ihre große Leidenschaft. Miša ist die Sensibelste der drei, ihre vorerst einzige Liebe gilt der Literatur. Das Leben könnte immer so weitergehen – doch das Gegenteil ist der Fall.

Opportunismus oder Rebellion, Anpassung oder Auflehnung – gemeinsam, und doch jeder für sich erleben die drei Freundinnen und ihre Familien das Jahr vor dem Untergang des sozialistischen Regimes. Einfühlsam, in einer klaren, eleganten Sprache lässt Susanne Gregor große Umwälzungen anhand von kleinen Verschiebungen greifbar werden und führt den Leser an sicherer Hand durch die Jahreszeiten des Jahres 1989: »Das letzte rote Jahr«.



Inhalt

Prolog

1989

Frühling

Sommer

Herbst

Winter

Für Vater

Als ich Rita im Fernsehen sah, blieb mir die Luft weg. Ich war gerade von der Bibliothek nach Hause gekommen, einen Stapel Bücher in der Hand, und hatte automatisch den Fernseher eingeschaltet, dann das Fenster geöffnet. Meine Füße taten weh, den halben Tag hatte ich damit verbracht, in einem Wiener Café Touristen zu bedienen, und während ich mich bückte, um mir die Schuhe auszuziehen, hörte ich ihre Stimme, unverkennbar. Doch als ich mich aufrichtete, war sie nicht im Bild. Es war eine billige, schlecht gemachte Seifenoper über ein paar junge Leute in Berlin, die sich ständig stritten und gelegentlich ohrfeigten oder entführt wurden. Ich sah zwei junge Frauen in einer Bar über einen Mann sprechen, einen Freddy oder Ferdy, der Sinn entging mir, als ich im Hintergrund Rita entdeckte, mit einer schiefen Kurzhaarfrisur, die Fläche über ihrem linken Ohr kahl rasiert. Sie trug eine schwarze Bluse und polierte mit einem weißen Geschirrtuch ein Weinglas, bevor die Kamera eine andere Einstellung übernahm und sie aus dem Bild verschwand. Ich setzte mich langsam auf das Bett, ohne meine Winterjacke auszuziehen, und drehte lauter. Einmal kam sie noch zu Wort, als sie sich in das Gespräch der jungen Frauen mischte, mit dem Satz Das geht aufs Haus und einem halben Lächeln, bevor die Frauen die Bar verließen und eine neue Szene in den Straßen Berlins begann. Ich blieb mit dem Bild einer erwachsenen Rita zurück und ihren mühelos auf Deutsch gesprochenen Worten: Das geht aufs Haus. Ich versuchte, sie mir wieder vorzustellen, ihr kurzes schwarzes Haar, das ihr über ein Auge fiel, die violett geschminkten Lippen, die schwarze Bluse, leicht aufgeknöpft, ihre Bewegungen so selbstverständlich wie früher, als gehöre sie immer genau dorthin, wo sie gerade war. Die Erinnerung an sie irritierte mich, wühlte etwas in mir auf, ich ärgerte mich über sie, ohne genau zu wissen, warum. Natürlich war sie im Fernsehen, dachte ich, und natürlich war ich die echte Kellnerin, während sie bloß eine spielte. Ich sah die ganze Folge zu Ende, ohne dass Rita noch einmal darin vorkam, und suchte sie dann im Internet, machte sie auf der Setliste der Seifenoper ausfindig, unter einem neuen Familiennamen: Milo, statt Horváthova. Mehr fand ich nicht. Ich rief Alan an, der wie üblich nicht abhob. Als er Tage später zurückrief, hatte ich fast vergessen, was ich eigentlich sagen wollte. Sobald ich Rita erwähnte, schlug seine Stimme sofort um und er wurde zu dem aufgebrachten Teenager von früher. Aufgeregt wiederholte er die alte Leier: der polnische Hippie, den sie ihm plötzlich vorgezogen hatte, ein Kiffer mit verfilzten Haaren, verstehst du, ein kompletter Loser, der nicht einmal Deutsch sprach. Seine Stimme schwoll an und senkte sich immer noch unkontrolliert, sobald ihr Name fiel, besonders, wenn er mit mir sprach, als könnte ich in seinem Namen für Gerechtigkeit sorgen, sollte ich Rita eines Tages wiedersehen. Heute ist sie im Fernsehen, na und, sagte er, morgen heiratet sie oder besteigt den Mount Everest, und nichts davon würde ihr etwas bedeuten, von ihm aus könne sie machen, was sie wolle. Ich legte auf und rief Vater an, der keine Ahnung hatte, wohin Ritas Familie gezogen war. Kurz wandte er sich vom Hörer ab und fragte Mutter, die im Hintergrund mit Geschirr hantierte. Wir wissen nichts, sagte er schließlich, du weißt doch, wie chaotisch am Ende alles war. Auch in Žilina wusste niemand mehr etwas über sie, die wenigen Male, die ich in den letzten Jahren dort gewesen war, hatte ich bloß Gerüchte gehört. Die einen sagten, Ritas Eltern seien in der Schweiz, die anderen korrigierten, sie wüssten sie in Spanien, jemand sprach sogar von Südafrika.

Ich fand sie erst, als ich aufhörte, sie zu suchen, Jahre später auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung meines Verlages in Wien, zu der ich mich übertrieben leger gekleidet hatte, in schwarzer Hose und schwarzem Top, der einzige Schmuck, zu dem ich mich hatte hinreißen lassen, war eine lange Bernsteinkette. Mit Hose und Kurzhaarfrisur fühlte ich mich zwischen den Cocktailkleidern der übrigen Frauen besonders unkonventionell, während ich mit Kolleginnen an der Bar Wodka Orange trank, als ich sie an einem der weiß gedeckten Tische sitzen sah, in tiefschwarzem Abendkleid und mit eleganter Hochsteckfrisur. Sie sah mich im gleichen Augenblick, in dem ich sie erkannte, und ich weiß nicht, was mich in dem Moment mehr erschreckte: wie wenig sich ihr Gesicht verändert hatte, wie verloren sie an dem leeren Tisch aussah oder der immer gleiche, ernste Blick, der schnell über meinen Körper flog. Und obwohl Jahre vergangen waren, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, kehrte das alte Gefühl sofort zurück: dass sie niemand wirklich kannte, dass niemand wusste, wer sie war, nur ich.

1989

Frühling

An ein Leben vor Rita und Slavka kann ich mich nicht erinnern. Obwohl es eine Zeit ohne sie gegeben hat, wie mir erzählt wurde, in der ich bloß Miša war und Rita bloß Rita und Slavka bloß Slavka. Doch von dem Moment an, in dem wir die Vierzimmerwohnung im Bezirk Vlčince bezogen, weil mein Vater eine neue Stelle bei Tesla in Žilina antreten sollte, wurden wir zu Miša, Rita und Slavka. Das Einzige, was uns trennte, war eine Treppe: ein paar Stufen hinauf zu Rita, ein paar Stufen hinab zu Slavka. Wenn es still war, erkannte ich die beiden an ihren Schritten: Rita nahm die Stufen im Laufschritt, begleitet vom klackernden Geräusch ihrer Hausschuhe. An der Tür blieb es eine Weile still, bevor sie leise klopfte, und in ihren Augen lag dann stets der eine, dunkle, ernste Blick, als gäbe es etwas Wichtiges zu besprechen. Slavkas Schritte waren langsamer, mit ihren langen Beinen nahm sie zwei Stufen auf einmal, klopfte viel lauter, und sobald sie mein Zimmer betrat, ließ sie sich auf den Teppichboden fallen. Ihr langes blondes Haar umrahmte ihr Gesicht, das alle immer für ausnehmend schön befanden und an dem die Erwachsenen die »slawischen Wangenknochen« bewunderten, was mich und Rita irritierte, weil wir nicht verstanden, was slawische Wangenknochen überhaupt sein sollten. Rita und ich, mindestens einen halben Kopf kleiner als Slavka, fielen durch andere Dinge auf: Rita durch die Kombination aus schwarzem Haar und Sommersprossen und ihren weichen, molligen Körper, ich wiederum durch meine jungenhafte Schlaksigkeit und meine blonde Kurzhaarfrisur, die mir Mutter immer schnitt. Wenn Slavka auf meinem Teppich lag, die Arme und Beine von sich gestreckt, und sich mit zur Decke gerichtetem Blick über die Langeweile beschwerte, weil ihr Gymnastiktraining ausfiel, oder über unseren neuen Geschichtslehrer, Genosse Baník, sprach, saß ich auf meinem Schreibtischsessel und kippelte nach hinten, gerade noch das Gleichgewicht haltend, hörte ihr zu und sah ihre Welt in schillernden Farben vor mir, die bunten Anzüge der Turnerinnen, ihre schwingenden Zöpfe oder die stechend grünen Augen des jungen Baník. Slavkas Welt war ein Kaleidoskop aus Glanz und Grazie, während Rita mich meistens grob am Arm packte, weil sie mir etwas erzählen wollte, und mich mit größter Dringlichkeit mitzog, um mir zu zeigen, was sie gefunden hatte, einen Hund, der in unserer Straße herumirrte, einen alten Liebesbrief in der Schublade ihrer Mutter, neue Graffiti in der Unterführung, und immer empörte sie sich über die Menschen und wozu sie fähig seien, sieh mal diese Achtlosigkeit, wer lässt einen Welpen im Stich, wer verunstaltet unsere Stadt. Slavka beeindruckte das nicht, ist ja gut, unterbrach sie sie dann genervt, und Rita wandte sich nur mir zu und redete weiter. Ich wiederum lief atemlos die Treppe zur einen oder anderen, um über einen der Romane zu sprechen, die wir für die Schule lesen mussten, und meine Eindrücke mit ihren zu vergleichen, die sich nie deckten. Aufgeregt las ich ihnen ein paar Zeilen daraus vor, einen Gedanken, den ich weltbewegend fand, nur um festzustellen, dass die beiden darin nichts Interessantes entdecken konnten, als hätten sie nicht das gleiche Buch gelesen. Unabhängig voneinander fühlten wir aber alle drei, dass unsere Freundschaft kein Zufall war, sondern es das Schicksal gewesen sein muss, das uns zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammengebracht hatte. Diese Überzeugung hatten wir von unseren Eltern übernommen, die beim Einzug ins neu gebaute Wohnhaus entzückt festgestellt hatten, dass wir drei im selben Alter waren, und es mit großer Begeisterung als göttliche Fügung bezeichneten, ohne dass auch nur einer von ihnen tatsächlich an Gott und Fügungen geglaubt hätte. Sofort wurden wir einander als Freundinnen vorgestellt: Hier ist deine neue Freundin Rita, das ist deine neue Freundin Slavka. Sie waren von unserem Trio hingerissen, und wir ließen uns von ihrer Freude anstecken, sodass wir die Unterschiede, die wir untereinander wahrnahmen, einfach ignorierten. Unsere Freundschaft war beschlossene Sache, und wenn Mutter mich dann bei Slavka abgab, war Rita schon da, und wurde ich bei Rita abgegeben, riefen wir auch Slavka herauf. Unsere Eltern fanden das unglaublich praktisch und dankten einander so lange mit Weinflaschen und Gugelhupf für die Kinderbetreuung, bis es ganz selbstverständlich wurde, dass man uns Mädchen in den Wohnungen der anderen zwei suchte. Brach doch einmal Streit unter uns aus, waren sie bemüht, die Wogen so schnell wie möglich zu glätten, und wir wurden losgeschickt, um uns bei einander zu entschuldigen. Dennoch verging kein Tag, den wir nicht zusammen verbrachten, in einem unserer Zimmer oder draußen zwischen den anderen gleichförmigen Plattenbauten der Siedlung oder auf dem Spielplatz hinter dem Haus, in dem kleinen Labyrinth aus Beton, das man dort für Kinder gebaut hatte. Unsere Welt war der lange staubgraue Wohnblock in der Pieštanská-Straße, Eingang Nummer 5, der erste, zweite und dritte Stock. Dort hatten wir unser Spielzeug geteilt, phasenweise unsere Kleidung und zuletzt die abwehrende Haltung unseren Eltern gegenüber, die abends meistens in unserem Wohnzimmer zusammensaßen, Wein tranken und diskutierten. Wir hörten ihnen zu, während sie sprachen, über die neue Ware im Tuzex, über die alte Ware in den Supermärkten, über das frisch eröffnete Thermalbad und über die letzten Fernsehnachrichten, den Vorschlag einer Annäherung zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO etwa. Michal, Ritas Vater, bezweifelte lauthals, ob dieser tatsächlich aus Prag gekommen war, während er immer wieder aufstand, um sich und anderen Wein nachzuschenken. Rita schüttelte den Kopf, sobald er flammende Reden über die Heucheleien der Regierung hielt und dabei mehr und mehr ins Lallen verfiel. Slavka rollte die Augen, als ihre Mutter mit ihrem ewigen Optimismus dagegenhielt, dass der Vorschlag sehr wohl aus Prag gekommen sein könnte, und ich ärgerte mich über meinen Vater, der mit beschwichtigenden Gesten und vermittelnden Argumenten versuchte, einen Streit zu verhindern, und sich dabei allen Anwesenden merklich überlegen fühlte. Eine Eigenschaft, die er mit meiner Mutter teilte, die sich selten in diese Diskussionen hineinziehen ließ, sondern sie bloß beobachtete, in ihrem Lieblingssessel sitzend, ihren Kopf in die Hand gestützt, die Füße mit den dicken Socken an den Po gezogen. Rita und ich hörten ihren Reden vom Flur aus zu, wo wir uns währenddessen von Slavka ihr neuestes gymnastisches Kunststück zeigen ließen, einen Salto rückwärts. Wir staunten über ihren langen, biegsamen Körper und die präzise Art, mit der sie jede einzelne Bewegung ausführte. Wenn Slavka turnte, blieb die Zeit stehen. Als sie sich schließlich erschöpft zu uns auf den Boden fallen ließ, unterhielt uns Rita mit schockierenden, detailgenauen Erklärungen über das Amputieren von Gliedmaßen, mitsamt Zitaten aus den medizinischen Fachbüchern ihrer Arzteltern. Ich wiederum wollte die beiden überzeugen, dass die Geschichte von Winnetou, die wir gemeinsam im Kino gesehen hatten, in Buchform viel mehr Tiefe habe, während im Film die Kriegsszenen das eigentliche Thema überschatteten: nämlich die Aufhebung der Gegensätze durch Menschlichkeit. Rita fand das faszinierend, während Slavka sich nur ein verwirrtes Halblächeln abrang, sie hielt das für philosophischen Quatsch, ihrer Meinung nach sollte jeder sich selbst der Nächste sein, dann wäre für alle gesorgt.

Kamen abends einmal nur unsere Mütter zusammen, wurde das Treffen viel gewissenhafter vorbereitet, mit frisch gebackenem Kuchen von Slavkas Mutter oder von meiner Mutter extra vom Tuzex besorgtem argentinischen Wein. Gleich nachdem sie damit nach Hause kam, stellte sie ihn feierlich in den Kühlschrank, noch bevor sie ihre Schuhe auszog, erst dann hängte sie das Jackett ihres Hosenanzugs an den Garderobenhaken, warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, zupfte ihre kurzen dauergewellten Haare zurecht und strich ihre Bluse glatt. Sie hatte sich nie mit den hässlichen karierten Röcken abgefunden, die es in den Läden gab, sondern kopierte die Kleidung aus den ausländischen Magazinen, nähte sie einfach selbst. Nicht einmal die Ware von Tuzex entsprach ihrem Geschmack, obwohl die Sachen aus dem Westen kamen und schwer zu bekommen waren. Für die Fremdwährungsbons, mit denen man dort bezahlte, musste Vater extra in die Fußgängerzone, um den jungen Mann mit krausem Haar und Akne aufzusuchen, kurz: Pickelgesicht genannt. Pickelgesicht war verlässlich, er verkaufte keine Fälschungen, und Mutter hatte seinen Bons die schultergepolsterten Blusen und ihre echte Jeans, Marke Rifle, zu verdanken, die aber auch erst von ihr umgenäht und angepasst werden musste. Genauso wie ihre Frisur, die sie nach jedem Salonbesuch noch mit unserer Küchenschere selbst fertig schnitt, vor dem Spiegel, kopfschüttelnd. Dennoch sah sie nie sonderlich zurechtgemacht aus, als wären diese Maßnahmen eigentlich nur für sie selbst und nicht für andere, Komplimente winkte sie ab und wechselte das Thema. Sie arbeitete als technische Zeichnerin in der örtlichen Papierfabrik, stagnierte aber seit Jahren in ein und derselben Position, während ihre männlichen Kollegen alle längst befördert worden waren, was sie eine Schweinerei nannte, vor allem wenn sie Wein trank wie an diesem Abend. Sie bat mich, ein paar Gläser auf den Wohnzimmertisch zu stellen und ließ mich sogar einen Schluck kosten, der scheußlich schmeckte. Kurz darauf traf Maria, Slavkas Mutter, mit duftendem Marillenkuchen ein, schließlich Ritas Mutter Hana, wie gewöhnlich mit leeren Händen, direkt von der langen Schicht im Krankenhaus, mit Marcel, Ritas kleinem Bruder, im Schlepptau. Längst hatten wir uns daran gewöhnt, dass er ihr überallhin folgte, wir nahmen kaum noch wahr, wie er sich an ihr Bein klammerte, sie auf die Toilette begleitete oder beim abendlichen Weintrinken an ihrer Schulter einschlief. Sie ließ ihn vorsichtig neben sich auf das Sofa gleiten und schenkte sich Wein nach, während sie sich über ihren Mann beschwerte, der nachts betrunken nach Hause gekommen war und alle mit lauter Musik geweckt hatte. Maria warf ein, sie solle doch um Gottes willen froh sein, dass er überhaupt nach Hause käme, eine Karte, die sie immer wieder und gerne zog. Ihr Mann war vor zehn Jahren als Profisportler zur Teilnahme an einer Skimeisterschaft nach Stockholm entsandt worden, eine Reise, von der er zum Entsetzen seiner Familie nie zurückgekehrt war. Als wir kleiner waren, hatte Slavka mehrere Versionen seines Verschwindens parat. Einmal erzählte sie, er sei bei einem Skiunfall umgekommen, ein anderes Mal, dass man ihn unschuldig ins Gefängnis gesteckt hätte oder dass man in Stockholm nicht mehr auf ihn hätte verzichten können und ihn kurzerhand nicht gehen ließ. Alle Versionen hatten gemein, dass er sie nicht freiwillig verlassen hatte, sondern es etwas gab, das sich zwischen sie gestellt hatte. Und zum Teil stimmte es ja auch, denn wer einmal in die glückliche Lage kam, aus der ČSSR in den Westen auszureisen, der brauchte schon Willensstärke, um nach Žilina zurückzukehren. Zumindest behauptete Vater das oft nach seinen Dienstreisen. Maria, die tatsächlich nichts von den Plänen ihres Mannes gewusst hatte und sogar immer wieder beteuerte, er habe sein Fortbleiben selbst nicht geplant, sondern sei von seinen Eindrücken im Westen ganz einfach überwältigt worden, konnte ihre Unwissenheit glaubhaft genug versichern, um ihren Job zu behalten. Als sie aber selbst einen Antrag auf Ausreise stellte, nahm man ihnen kurzerhand die Pässe ab und stellte ihnen einen neuen Mitbewohner vor, den Genossen Kubička, der ein paar Monate lang bei ihnen bleiben, sie in Wahrheit aber beobachten sollte. Auch Jahre nach seinem Auszug war Slavkas Sicherheit, das wussten alle, dünner als ein Blatt Seidenpapier: Eine falsche Äußerung in der Schule, ein paar versäumte Pioniertreffen, und sie könnte etwas verlieren, was ihr wichtig war, das Gymnastiktraining, ihre Wohnung, einen Platz auf dem Gymnasium, das wir im nächsten Schuljahr besuchen würden. Maria ließ keine Gelegenheit aus, ihre Einsamkeit zu betonen, was allen auf die Nerven ging, am allermeisten meiner Mutter, ich merkte es an ihren Stirnfalten. Das Leben gehe doch weiter, warf sie ungeduldig ein, es sei Zeit, dass sie sich nach jemand Neuem umsähe. Davon wollte Maria nichts hören, ihre Augen verengten sich vor Wut, und sie warf ihre großen Hände in die Luft, Vlado warte all die Jahre bloß darauf, dass sie eine Ausreisegenehmigung bekämen und nachkommen könnten. Er schicke Geschenke und schreibe regelmäßig Briefe, die in der letzten Zeit sogar immer öfter ungeöffnet ankämen. Meine Mutter winkte ab, hielt es für verrückt, nach so vielen Jahren noch an dieser Ehe, ja überhaupt an einem Mann zu hängen, der abwesend war. Sie selbst sei zwar verheiratet, aber froh um jede Dienstreise, die mein Vater unternahm, zu Hause gehe er ihr nach kurzer Zeit bereits auf die Nerven. Schließlich stimmten sie alle drei darin überein, dass Männern ein Gen fehle, ein Mitgefühls-Gen oder ein Intelligenz-Gen oder einfach ein Hausverstands-Gen, wobei sie deutlich mehr tranken als in Anwesenheit ihrer Männer und deutlich mehr lachten, sodass der große Busen von Hana unter ihrer weiten Bluse bebte, Mutters spitzes, helles Lachen in den Ohren wehtat und Marias Gesicht in Lachfalten zu verschwinden drohte. Mutter war die Dünnste der drei, und es bedeutete etwas, nicht für sie, aber für die zwei molligen Nachbarinnen, nämlich dass sie sich neben ihr etwas unwohl fühlten und erleichtert wirkten, wenn sie kurz zur Toilette oder in die Küche ging und sie eine Bemerkung fallen lassen konnten, etwa, füll doch der Bohnenstange auch noch etwas Wein nach. Ich hörte es, als ich das Wohnzimmer betrat, um etwas aus einer Schublade zu holen, und für eine Sekunde hatte ich das Bedürfnis, den verschlossenen Schrank zu öffnen und den Schädel, der darin lag, herauszunehmen, ihn vor allen auf den Tisch zu stellen, aber ich tat es nicht, ich hatte Rita versprochen, es nicht zu tun.

Der Schädel, genauso wie das dazugehörige Skelett in Lebensgröße, hatte im Flur der Wohnung von Ritas Familie gestanden, weil Rita es so schön fand, sich täglich daran zu erinnern, dass wir sterblich sind. In Wahrheit liebte sie es, Leute mit den Lehrutensilien ihrer Eltern zu erschrecken. Sie nahm den Schädel ab und legte ihn mir in die Hände, ich solle einmal fühlen, wie schwer er sei, und ich nahm ihn entgegen, drehte ihn ein paarmal hin und her, betastete den schweren Kunststoff, während sie mit verschränkten Armen zusah und darauf wartete, dass ich mich beeindruckt zeigte, in irgendeiner Weise, aber ich tat ihr den Gefallen nicht, stattdessen fragte ich gelassen, ob ich ihn ausborgen dürfte. Sie lächelte und warf mir einen bestätigenden Blick zu, nickend, als hätte ich einen Test bestanden, den sie sich für mich ausgedacht hatte. Ich stopfte den Schädel in meine Schultasche, schulterte sie und ging hinunter zu unserer Wohnung, während sie mir noch nachrief, ich solle damit bloß vorsichtig sein. Ich sperrte die Wohnung auf, packte ihn zu Hause absichtlich unvorsichtig wieder aus und stellte ihn in unseren Wohnzimmerschrank, zwischen das feine Geschirr, das nur zu Weihnachten benutzt wurde, und das Vergrößerungsgerät, das mein Bruder zum Belichten von Negativen brauchte. Ich nahm an, dort würde es eine Weile niemand suchen, gerade lang genug, damit Rita es so schnell nicht wiederbekäme, zur Sicherheit drehte ich aber auch noch den kleinen Schlüssel, der im Schloss steckte, und nahm ihn mit. Als Alan das nächste Mal sein Vergrößerungsgerät benutzen wollte, begann eine große Suchaktion nach dem Schlüssel, mehrmals kam er ungeduldig zu mir ins Zimmer, was er sonst nie tat. Komm schon, Miša, bat er, hilf mir suchen, und ich gab eine Weile halbherzig vor, ihm zur Hand zu gehen, im Wissen, dass der Schlüssel gut verstaut war, dort, wo nie jemand etwas suchen würde, in einem der Bücher in meinem Regal.

Es war Mai 1989, das Schuljahr fast vorbei, ich war vierzehn Jahre alt, Pionierin bei der Sozialistischen Jugend und hätte mich um die von Rita beschworene Vergänglichkeit nicht weniger scheren können. Ich hatte noch nie etwas enden sehen, keine Ehe, kein Menschenleben, noch nicht einmal die Lebensdauer eines Gerätes, eines Kassettenspielers oder Mixers, alles, was ich kannte, waren Anfänge. Einer davon war ausgerechnet am Vortag in mein Leben eingebrochen, als ich in der Schule zur Toilette gegangen und etwas Blut am Toilettenpapier zurückgeblieben war. Ich ging nach Hause, ohne mich zu entschuldigen, ohne jemandem Bescheid zu sagen, legte mich allein zu Hause auf mein Bett und schlief ein. Mutter, die wenig später anrief, erklärte ich, ich hätte Blut in meiner Unterhose entdeckt, und konnte dabei ein Zittern in der Stimme nicht unterdrücken. Obwohl sie mich bereits gewarnt hatte, dass es zu erwarten war, hatte ich doch gehofft, es würde mich vielleicht umgehen. Ganz anders als sie, die sofort tief aufatmete, es sei aber auch an der Zeit gewesen. Nach der Arbeit kam sie mit einer kleinen Tasche voll Watte nach Hause, zeigte mir, wie man sie zu Binden formte und in die Unterhose legte, und sagte, ich sei gut beraten, mir alle achtundzwanzig Tage in meinen Kalender etwas zu vermerken. Sie hob mit der Hand mein Kinn etwas an, es sei nicht das Ende der Welt, schloss sie, sondern im Gegenteil, der Anfang des Frauseins, etwas, was nicht gut oder schlecht sei, sondern mit dem man sich abzufinden habe. Sie legte die Watte in einen kleinen Schrank im Badezimmer, wusch sich die Hände und verschwand in der Küche, wo Alan saß und Zeitung las. Eine Weile hörte ich die beiden leise miteinander reden, so wie sie es manchmal taten, als hätten sie Geheimnisse vor Vater und mir, dann drehte Mutter das Radio auf und fing an, Kartoffeln zu waschen. Nie habe ich verstanden, warum das nötig war, wenn sie sie gleich darauf ohnehin schälte, aber ich hatte irgendwann aufgehört, sie nach solchen Dingen zu fragen. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, ging ich zu ihr in die Küche und begann mit dem Schälen, und sie überließ mir wortlos die Kartoffeln, während sie Gemüse aus dem Kühlschrank holte. Wie schwer immer alles aussah, was sie tat, und immer fehlte etwas, entweder hatte sie nicht das Mehl, das sie für den Kuchen gebraucht hätte, sondern nur ein ähnliches, oder im Geschäft gab es nicht den richtigen Faden zu dem Stoff, aus dem sie etwas nähen wollte, oder sie hatte auf dem Markt heute nur eine Gurke bekommen und keine Paprika, die sie viel lieber zum Abendbrot aß, immer waren ihre Vorstellungen zu groß, ihre Wünsche unerfüllt, und nie wollte die Realität sich ihrer Vision fügen, und unser sozialistischer Supermarkt schon gar nicht. Ewig drehten wir Runden auf der Suche nach etwas, und nie konnte ich ihre Enttäuschung abfedern oder sie von dem Mangel ablenken, den sie stets empfand, egal, womit sie sich gerade beschäftigte, außer am Abend, wenn Hana und Maria vorbeikamen, nur dann konnte sie sich über den Mangel lustig machen oder darüber hinwegsehen, ihre Augen feucht vor Lachen, ihre Zähne entblößt, so sah das Glück aus jeden Abend, ein Glas Wein in der einen Hand, eine Zigarette in der anderen.

Rita und Slavka waren die Ersten, denen ich es erzählte. Sie sahen mich mit großen Augen an, und für eine Sekunde flackerte in Ritas Blick Begeisterung auf, sie strich sich den schwarzen, zu langen Pony aus dem Gesicht und wollte wissen, ob ich auch Schmerzen hätte, die Krämpfe im Bauch, und als ich verneinte, winkte sie lässig ab, ich wisse noch gar nicht, was auf mich zukomme, und auch Slavka stimmte ein, sie selbst müsse manchmal kotzen oder bekomme schreckliche Kopfschmerzen, als bohre ihr jemand ein Loch in den Schädel. Ich hörte ihnen zu und fragte mich, seit wann sie all das bereits hatten, ohne mir davon erzählt zu haben, wohl aber einander, ich starrte auf den Holztisch vor uns, an dem wir uns am Spielplatz täglich trafen, mit unseren eingeritzten Initialen mitsamt Datum. Als Kinder hatten wir hier kleine Blätter aus dem Gras gezogen und sie mit Steinen durchgeklopft und so getan, als brieten wir Schnitzel. Ich fuhr mit der flachen Hand über das geritzte Holz und sehnte mich für einen Moment nach der Zeit zurück, als unsere Körper noch nach gleichen Gesetzen funktionierten, wir hinter den Büschen einfach die Hose hinunterzogen, um zu pinkeln, und Erbrechen bloß auf eine Bauchgrippe hinwies.

Wenn ich nun zu Rita in die Wohnung kam, stand das Skelett kopflos in der Garderobe, und während ich mir die Schuhe auszog, überlegte ich, warum es mir so wichtig gewesen war, den Schädel tatsächlich mitzunehmen, und warum ich ihn Rita nicht längst zurückgebracht hatte. Wir gingen in ihr Zimmer, das genauso möbliert war wie meines, mit quadratischen Schränken aus hellem Holz und dem gleichen Bett, unter dem sich eine zweite Matratze herausziehen ließ. Auf ihrem Nachttisch stapelten sich in letzter Zeit Bücher, abgegriffene, halb zerfallende Exemplare aus der Krankenhausbibliothek, deren Titelseiten der rote Stern mit Hammer und Sichel zierte. Ich hob eines auf, Staat und Revolution, blätterte ein paarmal hin und zurück, ohne es zu lesen, legte es wieder auf den Stapel, fragte, was sie damit eigentlich mache. Sie sah mich überrascht an, als hätte ich die dümmste aller Fragen gestellt. Lesen, was sonst, sagte sie, jemand müsse es schließlich tun, eine Schande sei es, dass nicht einmal unsere Lehrer es gelesen hätten, wo sie doch alle vorgaben, Genossen zu sein. Ob mir aufgefallen sei, dass unsere Mathematiklehrerin privat Jeansröcke von Tuzex trage? Natürlich ging es einmal wieder darum, den Lehrern eins auszuwischen, dachte ich, genauso wie bei ihrer Weigerung, im Schulgebäude die Straßenschuhe auszuziehen und nicht aufzustehen, wenn die Lehrer den Raum betraten. Mit großem Enthusiasmus stellte sie den Lehrern nun unangenehme Fragen, ohne vorher aufzuzeigen, die Biologielehrerin hatte sie zu ihrer Einstellung zur Religion befragt, die Mathematiklehrerin nach der Herkunft der westlichen Kleidung, die sie privat trage. Ob ich nicht merke, dass wir hier zum Narren gehalten würden? Jeder, der diese Bücher lese, sagte sie und zeigte auf den Stapel, müsste jedenfalls feststellen, dass es enttäuschend sei, was aus Lenins großer Idee geworden sei, und dass nicht einmal mehr unsere Lehrer die genauen Prinzipien seiner Vision kennen. Auf den ersten Blick war ihre neueste Überzeugung gar nicht so weit von der ihres Vaters entfernt, dessen Meinung über die Partei bekannt war und der jedem, der es hören wollte oder nicht, jederzeit eine spontane Wutrede über die Verlogenheit der Genossen halten konnte. Doch während er das System am liebsten losgeworden wäre, pochte Rita darauf, es zu überholen, was ihr eine gute Möglichkeit bot, sich auch ihm entgegenzusetzen, als Einzelkämpferin, als die sie sich gern sah. Sie hob das Buch auf und zitierte eine zufällige Stelle über die Diktatur des Proletariats und ihre freiheitsbeschränkende Wirkung auf ihre Unterdrücker, die Kapitalisten, während sie wie ein Guru im Schneidersitz auf dem Fußboden vor mir saß und vor Aufregung von Seite zu Seite schaukelte. Als sie den Blick wieder zu mir hob, waren ihre Augen kreisrund, in Erwartung meiner Reaktion, aber ich kam nicht zu Wort. Sie sprach nahtlos weiter, stellte fest, dass es die höchste Form von Fortschritt sei, eine Staatsform zu haben, die dem Volk diene und nicht bloß der Wirtschaft, die die Bildung aller in den Mittelpunkt stelle und nicht etwa das Bruttoinlandsprodukt. Sie sprach mit so viel Begeisterung, dass ich sogar ein wenig Feuer fing. Es sei schon richtig, nickte ich, Gleichheit und Bildung seien wichtige Werte, so gesehen sei es natürlich ein Privileg, hier aufzuwachsen. Aber nein, es sei eine schwere Bürde, erklärte sie mit zusammengezogenen Brauen, denn es sprach uns Bürgern Verantwortung zu, uns zu engagieren, den Schwächeren zu helfen, statt regelmäßig ins Tuzex zu laufen, wo die Leute Kleidung einkauften, ohne auf Größe, Farbe und Schnitt zu achten, bloß, weil sie im Westen produziert worden war. Ich hörte ihr zu und zupfte an meinem pinken Kapuzenpullover mit der sinnlosen Aufschrift »Bam!«, den Vater mir aus Wien mitgebracht hatte, und begann, mich innerlich gegen ihren versteckten Vorwurf aufzulehnen. Aber mit ihr zu diskutieren war aussichtslos, wie immer, wenn sie sich in etwas vertieft hatte, in das ich ihr nicht folgen konnte. So wie ihr plötzliches Interesse an Bäumen, als sie alle Blätter aus dem Wald mit lateinischen Namen klassifizierte, oder ihrem maßlosen Enthusiasmus für Eishockey während der letzten Weltmeisterschaft. Diese Leidenschaft für Politik war relativ neu, genauso wie ihre Haare, die sie jetzt offen trug, und auch dass sie die Pionieruniform täglich zur Schule anzog, statt nur zu besonderen Anlässen, wie es vorgeschrieben war, sehr zum Verdruss ihrer Mutter, die sich bei uns am Abend bei einem Glas Wein beschwerte. Ihre Tochter sei zweifelsohne verrückt geworden, so ein Parteienthusiast sei nicht einmal Husák selbst, worauf meine Mutter abwinkte und meinte, das mache sie sicher bloß, um ihr eins auszuwischen, sie selbst hätte so etwas in ihrem Alter mit großer Sicherheit auch getan. Was sie nicht hinzufügte, war, dass sie mein Verhalten auch für grenzwertig hielt, meine Gewohnheit, mich tagelang mit Büchern im Bett zu vergraben, da sie fand, man könne es mit dem Nachdenken auch übertreiben. Sie sagte es zwar nicht, aber ich sah es in ihrem Blick, der mich streifte.

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