Kitabı oku: «Ludwigs längste Nacht im Schatten»
Impressum
Widmung
Vorwort
Triggerwarnung
Ludwigs längste Nacht im Schatten
Der Beschützer
Die Alte
Der Schatten
Niemand geht fort, niemand kommt herein
Schuld
Sei stark
Frieda
Maja
Der Entscheider
Hoffnung
Du bist mein
Albert
Lavendel und Rose
Bekenntnisse
Es ist an der Zeit
Dunkel
Blutmeer
Finde mich
Kinderreim
Die Sonne
Danksagung
Meine Werke auf einen Blick
Impressum neobooks
Impressum
© 2021 Susanne Sievert
Hornungweg 16
22179 Hamburg
Covergestaltung: Sabrina Gleichmann
Alle Rechte des Romans Ludwigs längste Nacht im Schatten liegen beim Autor.
Der Titel Ludwigs längste Nacht im Schatten ist über Buchmarkt.de geschützt.
Die Personen und Handlungen der Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig!
ISBN eBook:
1. Auflage
Widmung
Für Nadine.
Inspiration. Fels. Herzensmensch.
Meine Freundin fürs Leben.
Vorwort
Liebe Leser,
ich liebe das Schreiben und wünsche mir von Herzen, dass ihr in jeder Zeile erkennen werdet, wie viel mir das Tippen von Buchstaben bedeutet. Es ist meine Leidenschaft, euch mit meinen Geschichten zu begeistern und mitzureißen.
Diese Geschichte ist ein düsteres Märchen und nicht für Kinder geeignet. Es ist eine Erzählung für Erwachsene mit Botschaften, die jeder Leser für sich selbst herausfinden wird. Meine Gedanken und Gefühle fließen immer mit ein, aber ich betone, dass dieses Märchen frei erfunden ist und etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig wären.
Wie entstand diese Geschichte? Im März 2019 besuchte ich mit meiner Freundin die Leipziger Buchmesse und auch wenn die Messe inspirierend war, so lag es doch an meiner Freundin, die mich auf die Idee zu diesem Märchen brachte. Jeder, der meine Romane liest, wird erkennen, dass eine Spur Grausamkeit und Finsternis zwischen den Zeilen liegt. Diese Geschichte ist nicht anders, aber ebenso voller Liebe und …
Das müsst ihr selbst herausfinden und ich freue mich darauf, wenn ihr Ludwig ein Stück begleitet. Er hat eine schwere Aufgabe zu erfüllen und es wird ihn beruhigen, euch an seiner Seite zu wissen.
Ich wünsche euch aufregende Lesestunden und scheut euch nicht davor, mir ein Feedback zu geben. Wir Autoren leben von euren Meinungen.
Alles Liebe,
eure Susanne
Triggerwarnung
Die Atmosphäre in dieser Geschichte ist düster und für manche möglicherweise erdrückend. An Gewaltdarstellungen und Blut werdet ihr nicht vorbeikommen. Ich rate Menschen mit Depressionen, von Ludwigs Kurzgeschichte Abstand zu nehmen. Selbstmord und Alpträume werden ein Thema sein.
Ludwigs längste Nacht im Schatten
Es war einmal ein Dorf, das seit langer Zeit die Sonne nicht mehr gesehen hatte.
Es war ein stiller Ort ohne einen Gott oder einen König – ohne Freude und ohne Lachen.
Die Menschen fristeten ihr Dasein in ihren Häusern, blieben lieber unter sich und mieden die Straßen. Sie verbannten sich selbst, träge und trüb, des Regenwetters müde. Niemand fragte sich, wo die Sonne war und warum der Regen nicht aufhörte, und mit der Zeit hörte man selbst nicht mal mehr die Frage: Was ist die Sonne? Denn mit den Jahren verschwand das Gefühl von Glück und Wärme.
Man fragte sich mittlerweile schon: „War es jemals anders?“
Die Alten wurden älter und vergaßen. Die Starken wurden schwächer, die Klugen immer dümmer, und Kinder wuchsen heran, ohne neuen Nachwuchs zu zeugen.
Das Leben war hart und es wurde beschwerlicher, als die ersten Toten auftauchten. Die Menschen waren verwirrt und neben ihrem üblich stillen Trott wuchs die Angst heran.
Gab es nicht jemanden, der sie führte – sie antrieb und motivierte? Eine Person, die den Weg zeigte, den sie nach all der Zeit selbst nicht fanden?
Die Menschen sehnten sich nach einem Anführer, der ihnen die Last von den Schultern nahm und weil die Zahl der Toten stieg, wählten sie nicht nur eine Person. Es waren derer drei:
Der Entscheider, der seine Stimme niemals verlor und Beschlüsse fasste, weil kein anderer die Kraft dazu besaß.
Der Beschützer, mit offenen Armen und Ohren, der ihre Sorgen mit sich nahm und in sich verschloss.
Der Zähler, der sie alle fand und verschwinden ließ.
Die Wahl wurde einstimmig akzeptiert und die Menschen atmeten auf. Was sie nicht ahnten ... Ihre Stimmabgabe änderte nichts an der drohenden Gefahr.
Der Beschützer
„253!“, röhrte jemand über den großen und leeren Platz.
„Kann nicht sein“, antwortete eine andere Stimme, deutlich vornehmer und gedämpft. „Gestern waren es noch 267.“
„Meinst du etwa ich erlaube mir einen Spaß?“, fragte sein Gegenüber und schlug die neue Zahl an ein Holzbrett. „Soll ich dir etwa aufzählen, wo ich sie fand? Die dicke Mechthild lag im Flussbett, mit dem Kopf voran – ersoffen. Bin nur froh, dass sie nicht in unseren Brunnen gesprungen ist. Hab‘ mich eh schon abgekämpft mit der fetten Alten. Der Bäcker hat sich selbst in den Ofen gestopft. Eine Schande! Verrate mir mal, wie ich jetzt noch mein Brot genießen soll. Und die Tochter von Herrn Müller …“
„Schon gut! Lass es sein.“
War dem stinkenden Kerl, der die Zahlen anschlug, überhaupt bewusst, dass er über Menschen redete? Personen, die sich jeden Tag selbst das Leben nahmen?
Anfangs fand man sie vereinzelt und hielt es für ein Unglück. Unfälle geschahen immer mal wieder, das war nichts Besonderes, aber seit ein paar Wochen häuften sich die Vorfälle. Beim Anblick der Leichen lag es auf der Hand, dass sie sich selbst töteten.
Eines Tages, wenn das Sterben nicht aufhörte, würde er sich einen Strick um den Hals legen.
Ächzend stapfte der grobe Mann auf ihn zu, die Stiefel tief im Matsch versunken. Es regnete, ein tägliches Übel. Seit langer Zeit hatte niemand mehr festen Boden unter den Füßen gespürt. Bei jedem Schritt hörte der Mann ein widerlich schmatzendes Geräusch und zog den Mantel enger um sich.
Den Zahlenanschläger nannte man im Dorf schlicht „Zähler“, weil er ein Gespür dafür besaß, die Toten zuerst zu finden. Zusätzlich war er der einzige Mann, den man nie weinen sah. Ganz im Gegenteil. Er riss unangebrachte Witze über die Leichen, fast schon hämisch und gestört.
„Beschissener Tag“, krächzte der Zähler, hustete und spuckte grünen Schleim aus. Die Hose flatterte dünn um seine Beine, und das weiße Hemd hatte auch schon bessere Zeiten erlebt. Gelblich, wie Pisse und mit demselben säuerlichen Geruch, trat er ihm entgegen.
Puh, er machte seiner Aufgabe alle Ehre.
„So wie jeder andere auch“, sagte sein Gegenüber in einen eleganten und warmen, schwarzen Mantel gehüllt.
„Solltest nicht gerade du anderer Meinung sein?“ Der Zähler zeigte seine gelben, stumpfen Zähne und gackerte wie eine Henne. „Wo bleiben deine aufmunternden Sprüche? Komm‘, hau einen raus. Nur für mich. Ich hätte nichts gegen ein Kompliment, wenn ich es mir aussuchen darf. Sag‘ etwas Schmeichelhaftes zu meinen Haaren.“
Der Mann im Mantel schnaufte und drehte sein Gesicht in eine andere Richtung.
Ja, der Zähler hatte recht. Er war der Hampelmann, der für lustige Stimmung sorgte. Man nannte ihn den „Beschützer“. Lachhaft. Eine Aufgabe, die zum Scheitern verurteilt war. Er bekam schlagartig Appetit auf Kräuterschnaps.
„Meine Position ändert nichts. Die Leute sterben, auch wenn ich mich ihnen annehme“, antwortete er und sofort bereute er es.
„Vielleicht, weil du mit ihnen redest. Schon mal drüber nachgedacht?“, ächzte der Zähler gehässig, denn zum Lachen fehlte ihm die Freude.
Der Beschützer wurde wütend und ließ seinen Gesprächspartner wortlos stehen. Der Mistkerl hatte keine Ahnung! Anstatt zu spotten, sollte er lieber dankbar für seine Aufgabe sein. Redeten die Leichen etwa mit ihm? Heulten sie ihm etwas vor, gaben ihm die Schuld für alles, was um sie herum geschah? Nein, eben nicht. Er, der Beschützer, hatte mit dem Leben zu kämpfen. Diese Pflicht war eindeutig anspruchsvoller, geradezu unmöglich zu bewerkstelligen.
Je mehr er darüber nachdachte, desto größer wurde seine Wut auf den Zähler. Und seine Angst. Denn was war, wenn es stimmte? Wenn seine Aufgabe tatsächlich den Tod förderte?
Mit schnellen Schritten floh er in sein Heim, um verzweifelt und weinend in sein Kissen zu beißen.
Die Alte
Sein Heim war dämmrig und kalt, so wie die meisten Häuser. Es war unmöglich, bei all der Feuchtigkeit ein Feuer zu entzünden. Die Tage wurden immer früher dunkel und das Wetter änderte sich nicht. Es regnete jeden einzelnen verdammten Tag.
Das Brennholz wurde nur an die wichtigen Betriebe verteilt. Alle anderen fanden sich mit dicken Decken und Kissen ab, froren und jammerten – das Übliche eben.
Müde und abgekämpft erreichte er sein eigenes Heim. Nach dem Eintreten schloss er leise die Tür, darauf bedacht, seine Familie nicht zu wecken. Aber das Knarzen des Schaukelstuhls verriet ihm, dass seine Vorsicht völlig unnötig war. Die Alte war wach und saß auf ihrem gewohnten Platz. Die Stricknadeln klapperten metallisch aufeinander, und obwohl alles so war wie immer, gab es doch eine Veränderung. Etwas lag in der Luft. Er fand keine Worte dafür, aber dieses Gefühl bereitete ihm Unbehagen.
„Norma.“
Beim Anblick der alten Frau wurde seine Stimme weich. Ihr weißes Haar hing in Strähnen herab, die Haut grau und runzelig. Ihre Kleidung war zerschlissen, weil sie nichts von neuen Sachen hielt – alles an ihr war alt und irgendwie staubig. Nur die Augen ... Die waren wach, hell und mit Weisheit gefüllt.
„Wie geht es dir heute, alte Frau?“
Sie sah auf und das Klappern der Stricknadeln verstummte.
„Du frecher Bengel“, antwortete sie. „Hör auf mich so zu nennen. Alte Frau! Was fällt dir ein? Wo sind deine Manieren?“
Sie neckten sich gerne und in einer Welt von Kummer und Sorgen war ein Schlagabtausch dieser Art erfrischend normal.
„Wo ist Frieda?“, fragte er, nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es bis zum Rand mit Kräuterschnaps. Das war jetzt genau das Richtige, um ihn von innen heraus zu wärmen.
„In ihrem Zimmer“, antwortete Norma und strickte weiter. „Sie vermisst ihren Vater. Du weißt schon, der, der den ganz Tag unterwegs ist und fremde Schultern klopft.“
Der Beschützer seufzte und lehnte sich gegen den Schrank. Sein Blick folgte den Holzstufen nach oben, dorthin, wo Friedas Zimmer lag. Es waren nur ein paar Schritte, keine große Sache, aber er hatte schon so viel geredet. Eine weitere traurige Geschichte und er würde sich heute selbst begraben. Nein, seine Tochter würde warten.
Norma sah ihm seine Gedanken regelrecht an und sie schüttelte mit einem „Tztz“ den faltigen, alten Kopf.
„Schämen solltest du dich“, sagte sie und zeigte mit der Nadel auf ihn. „Ich habe dir eine andere Kinderstube beigebracht. Von mir hast du diese Gleichgültigkeit nicht geerbt.“
Zornig ballte er die Hände zu Fäusten. Zuerst der Zähler und jetzt Vorwürfe von Norma!
„Es ist das verdammte Dorf“, sagte er mit einer immer lauter werdenden Stimme. „Etwas stimmt hier nicht. Es ist als würde es …“
Über seinem Kopf polterten Schritte und wenig später lief jemand die Stufen hinunter. Der Beschützer schaute auf und erblickte seine Tochter Frieda.
14 Jahre alt, mit blonden langen Haaren, einer zierlichen Gestalt und einer Haut, so blass wie ein Gespenst. Ihre Augen waren blau, so wie Normas. Lächelnd lief sie auf ihn zu, umarmte ihn und sein Herz wurde leicht. Die Wärme seiner Tochter zog ihm jedes Mal wieder aus dem Matsch seiner dunkler werdenden Seele.
„Es ist, als würde das Dorf uns verschlingen, nicht wahr? Wolltest du das sagen, Vati?“
Mit ihren Worten verflog das Gefühl und er schob sie genervt von sich, um weiter Kräuterschnaps zu trinken.
„Davon will ich nichts hören“, antwortete er, obwohl es genau diese Gedanken waren. Das Dorf forderte einiges von den Menschen ab. Die Bewohner ackerten sich die Finger blutig und was war das Ende vom Lied? Das Land fraß sie Stück für Stück auf.
„Norma.“ Frieda griff nach einer Decke und setzte sich auf den Boden. „Erzähl mir die Geschichte. Nur noch ein einziges Mal. Bitte!“
Normas Mundwinkel verzogen sich leicht nach oben, sanken aber schnell wieder herab, als sie den Blick des Beschützers auffing.
„Ein anderes Mal vielleicht, Liebes.“
„Nein, ich will sie heute hören!“, forderte Frieda. „Es ist so langweilig hier. Ich hocke im Zimmer, starre die Wand an und beginne Schatten zu sehen.“
Die Alte zuckte zusammen, aber das bemerkte niemand.
„Heute nicht, Frieda.“ Wütend schlug der Beschützer auf die Kommode. „Es sind Märchen, die niemals wirklich so geschehen sind. Dir ist langweilig, ja? Dann geh‘ und lerne etwas Vernünftiges! Der Schneider benötigt händeringend Unterstützung. Wer wird jetzt Brot für uns backen? Im Wirtshaus wird an allen Ecken und Enden Hilfe benötigt und mein Kind, ja du Frieda, du trägst deinen Kopf in den Wolken und willst Geschichten hören, weil dir langweilig ist. Herrgott, langweilig! Womit muss ich mich eigentlich noch rumschlagen?“ Er redete sich in Rage und das endete für gewöhnlich in Tränen. „Die Menschen sterben. Sie beenden ihr Leben selbst. Durch eigene Hand, Frieda! Und du willst Geschichten hören? Soll das dein Beitrag zur Gemeinschaft sein? Andere Kinder gehen nach der Schule arbeiten und du?“
Kaum spuckte er die ekelhaften Worte aus, füllten sich Friedas Augen mit Tränen und am liebsten hätte er aufgestöhnt. So vorhersehbar! Seine Familie erwartete, dass er sich entschuldigte, aber warum? Er hatte recht und es tat ihm nicht leid.
„Ich glaube daran“, schluchzte sein Kind und hielt sich die Hände vor das Gesicht. „Nimm‘ mir nicht meinen Glauben, Vati, denn so wie es ist, kann ich nicht leben. Ich ertrage die Trostlosigkeit nicht mehr. Das Grau. Den Regen. Das Sterben. Der Schatten ist hier, ich habe ihn selbst gesehen. Und du wüsstest davon, wenn du mir nur einmal zuhören würdest. Nur ein einziges Mal. Für alle hast du ein offenes Ohr und für mich fehlt dir die Geduld!“
Die letzten Worte verschwammen in einem undeutlichen Geheul und Frieda rannte zurück ins Zimmer. Mit einem Knall schlug sie die Tür zu und ließ Norma und den Beschützer allein.
Mit ihren Anschuldigungen lag sie nicht gar nicht so falsch. Vielleicht lag es wirklich daran, dass sie seine Tochter war. Ihre Sorgen waren um so vieles schmerzhafter als das Gejammer der Bewohner. Draußen waren es nur Gesichter und Geschichten, aber hier drinnen schlug sein Herz und seit Friedas Geburt trug er es außerhalb seines Körpers.
Bevor sich der Beschützer in Gedanken und Selbstmitleid verlor, zerrte ein stetiges Klicken und Klacken an seinen Nerven.
„Norma?“
Die Alte hielt sich gewöhnlich aus den Streitigkeiten raus und so hatte er sie für einen Moment vergessen. Man sah ihr aber deutlich an, dass sein Gebrüll nicht spurlos an ihr vorüberzog. So viel Belastung war nicht gesund in ihrem Alter.
Die Stricknadeln klackten im rhythmischen Takt aufeinander. Dabei verlor sich Normas Blick in der Ferne und die Nadeln wanderten verträumt über ihre runzelige Haut.
„Norma?!“
Nervös stellte er sein Glas ab. Der Appetit auf Schnaps war ihm vergangen. In diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges, das merkte er genau. Erst sanft, dann immer heftiger strich Norma mit der Nadel über ihren Arm. Rote Striemen zeichneten ein furchtbares Bild auf ihrer Haut und entsetzt stoppte der Beschützer die seltsame Szene.
„Mutter!“
Sie hielt das Strickwerkzeug fest, entschlossen, es nicht herzugeben. Energisch riss er es aus ihren Händen.
„Es ist genug. Du bist müde. Komm, ruh‘ dich ein wenig aus, ja?“
Bei der Bezeichnung „Mutter“ kehrte Norma in die Wirklichkeit zurück, sah dem Mann in die Augen und schüttelte sich.
„Ach, Ludwig, mein Ludwig“, hauchte sie liebevoll.
Ein Schauer zog sich über seinen Rücken. Ludwig ... Seinen Namen hatte lange nicht mehr gehört. Er war der Beschützer, abgestempelt wie eine rostige Plakette.
„Mutter“, seufzte er und rückte ihre Decke zurecht. Vom Sofa holte er ein Kissen und stützte ihren Kopf. „Wie soll ich das alles nur bewerkstelligen? Sie nennen mich den Beschützer und sterben unter meinen Händen weg. Ich bin absolut ungeeignet.“
„Du bist unser Beschützer und ich glaube an dich, Ludwig. Du bist der Richtige. Wer sollte sonst diese Aufgabe übernehmen?“
Darauf hatte er keine Antwort. Jeder andere Mensch mit einer Stimme und zwei gesunden Ohren, nahm er an. Er war nichts Besonderes und hörte den Leuten zu. Er munterte auf, lenkte sie von düsteren Gedanken ab und verbrachte Zeit mit ihnen. Das war seine Aufgabe.
„Du könntest es übernehmen“, schlug er vor. Ein verzweifelter Versuch, seine Mutter zu necken und den gruseligen Vorfall zu überspielen.
„Du spinnst, mein Lieber.“ Norma zog die Decke über ihre knochigen Schultern. „Ich bin alt, das hast du selbst gesagt und außerdem will ich nicht. Reichst du den Leuten den kleinen Finger, schnappen sie sich die ganz Hand!“
Sie gähnte mit weit aufgerissenem Mund und bevor Ludwig die Gelegenheit zum Antworten bekam, schlief die Alte im Sitzen ein.
Der Schatten
Norma träumte in der Nacht von ihm.
Von dem Schatten.
Bei jedem Treffen zog er an ihrer Seele, um sie in sein Reich zu schaffen, aber sie sagte: „Nein, nein, heute nicht!“
Sie wehrte ihn ab, solange sie die Kraft dazu besaß.
Der Schatten schlich sich in ihre Gedanken, nistete sich in ihren Träumen ein, schmiegte sich an ihre Seele, zwickte und zwackte an ihr. Er war niederträchtig, aber auch trübsinnig. Manchmal, so vermutete Norma, rätselte der Schatten selbst, was er war. Eines war bei jedem Besuch unumstritten: Er begehrte ihre unsterbliche Seele.
„Na, mein Bester“, sagte sie. Selbst im Traum saß sie in ihrem Schaukelstuhl und wippte sacht vor und zurück. „Willst du mir wieder etwas zeigen?“
Der Schatten bewegte sich nicht und dennoch erkannte sie ein Nicken.
„Worauf wartest du dann? Alte Leute haben einen leichten Schlaf.“
Der Ablauf war immer derselbe. Es wurde finster, ein Traum ohne Farben und Formen, aber dafür mit düsteren Bildern in Schwarz und Weiß.
Für Norma ergab alles Sinn. Sie kannte die Erzählung, so wie jeder andere in dem Dorf. Irrsinnig, aber es war wahrhaftig geschehen. Frieda hatte die Alte so lange bedrängt, bis sie die Vergangenheit preisgab. Das war ein Fehler, denn seitdem lauerte der Schatten dem Mädchen auf.
Für Frieda klang es nach einer düsteren Fantasie, aber das würde nicht lange so bleiben.
Das Märchen fing nicht mit: „Es war einmal …“ an, sondern mit: „So etwas darf niemals geschehen …“
Der Schatten legte sich um Normas Schultern, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und nach und nach erfuhr Norma, was er zu erzählen hatte:
Höre zu, mein Kind, sei still und brav. Ich gebe dir etwas preis. Ein Märchen, eine Schauergeschichte, eine wahre Begebenheit. Pst, sei leise, denn ich darf sie dir nur ein einziges Mal erzählen.
Es war einmal eine glückliche Familie. Ein Mann, eine Frau und deren Tochter. Sie lebten in einem Dorf und besaßen einen Hof mit Kühen und Schweinen, eins der größten und wichtigsten Güter der Ortschaft. Der Vater war stolz auf das, was er geschaffen hatte, und es erfüllte ihn mit Freude, seiner Familie ein angenehmes Leben zu schenken.
Seine Tochter hingegen war unglücklich und einsam. Sie langweilte sich, jammerte und klagte. Ihr Vater hasste es, wenn sie sich ihren Tagträumen hingab. Er nannte es „Verschwendung“ und „vergeudete Zeit“. Sie sollte etwas Vernünftiges lernen und später den Hof übernehmen, um es genauso gut zu haben wie er. Sein Kind verdiente das Beste. So, wie jeder Vater es sich für seine Brut wünschte.
Doch seine Tochter lehnte solch ein Dasein ab. Sie wollte die Welt bereisen, bevor sie eine Familie gründete und sesshaft werden würde. Es gab so vieles zu entdecken, der Himmel war so weit und das Land endete nicht hier im Dorf. Im Gegensatz zu allen anderen Bewohnern erfüllte der Hof keinen ihrer innigsten Wünsche. Die Sehnsucht beherrschte ihr Herz – ihre Seele – und es kam, wie es kommen musste.
Ein Streit spaltete die Familie und jeder Tag wurde anstrengender und unangenehmer. Die Schreie hallten durch das Haus, gefolgt von Poltern, Schlägen und am Ende des Tages Schweigen und Ignoranz.
Für die Tochter des Hofherren war es ein unerträglicher Zustand und so entschied sie, alldem ein Ende zu setzen und fortzugehen. Sie packte das Nötigste und Liebste ein, öffnete das Fenster, bereit zum Sprung, wurde aber gestört. Ihr Vater betrat das Zimmer und erkannte sofort, was sie im Schilde führte. Die Wut auf seinem Gesicht sprengte alles je da Gewesene und vor Angst, hielt sie den Atem an. Anstatt zu springen, klammerte sie sich am Fensterrahmen fest. Das war ein Fehler. Sie blieb und er zerrte sie an den Haaren in den Stall zu den Schweinen und Kühen, kettete sie an und schwor seinem weinenden Kind, es niemals fortzulassen. Nicht solange er lebte.
Er versprach: Eines Tages würde sie verstehen, warum es keine andere Möglichkeit gab, und sie würde einsehen, dass es das Beste für sie war.
Seine Tochter weinte am Tag und in der Nacht. Genauso wie die Mutter, die zu feige war, etwas gegen den Schrecken zu unternehmen. Nach einiger Zeit gewöhnte sie sich an die Tränen und schob die Grausamkeiten in die hinterste Ecke ihrer Gedanken - lebte weiter vor sich hin. Was könnte sie auch gegen ihren Mann ausrichten, der sie mit allem versorgte, was sie benötigte?
Im Stall war es dunkel, feucht und kalt. Das Mädchen presste sich an die Wand, weil die Kühe nach ihr traten und mit jedem „Platsch“ bespritzten Kuhfladen ihre Haut und ihr Haar. Zähneklappernd rief sie nach ihrer Mama, nässte sich ein und kratzte an ihrer wunden Haut, bis diese blutete. Das lockte wiederum die Schweine an, die des Nachts mit ihren Schnauzen an dem Mädchen zerrten und knabberten, bis dieses aus dem Dämmerschlaf hochschreckte und so laut schrie, dass im Stall das reinste Chaos ausbrach.
Ihr Vater brachte zu unregelmäßigen Zeiten Wasser und Brot und versprach, wenn sie gehorchte, dann gäbe es eine Chance auf Freiheit.
Aber wovon sprach er genau? So zu leben, wie er es sich für SIE vorstellte? Das kam für das Mädchen nicht in Frage und so folgte ein weiterer Entschluss. Eine endgültige Entscheidung, die nötig war, um wahrhaftig frei zu sein.
Doch bevor sie diese Welt verließ, war es ungerecht nichts Entsprechendes zu hinterlassen. Etwas Besonderes und Bedeutsames. Eine Hinterlassenschaft, die ewig währte und an die sich die Menschen für immer erinnern werden.
In der Dunkelheit, umhüllt von Schatten und Kälte, nahm sich das Mädchen das Leben und gab der Zukunft ein finsteres Versprechen:
Niemand geht fort. Niemand kommt herein.
Wenn die Schatten länger werden, die Tage kälter und dunkler, dann kehre ich zurück und hole euch alle.
Einen nach dem anderen.
Pst, sei still, mein Kind, es ist Zeit zu träumen.