Kitabı oku: «Ludwigs längste Nacht im Schatten», sayfa 2
Niemand geht fort, niemand kommt herein
Das Haus des Müllers glich jedem anderen aus dem Dorf und doch erschien es dem Beschützer heute Abend in einem besonderen Licht. Es war dunkler, trostloser und er empfand einen Hauch von Endgültigkeit.
Die Tochter des Hauses war tot. Die kleine Hanne. Der Zähler hatte das Kind am Rande des Waldes gefunden und weigerte sich, ihm zu berichten, wie sie gestorben war. Hatte es Bedeutung? Nein, wichtig war es, mit den Hinterbliebenen zu sprechen, denn das war seine Aufgabe. Zuhören und den Leuten die schwere Last der Gedanken zu nehmen.
„Verdammt“, fluchte er. Er hasste diese Verantwortung und die letzten Schritte zur Tür wurden immer beschwerlicher. Er schleppte sich regelrecht die Stufen hinauf. Er hob seinen Arm, um zu klopfen, aber dieser war wie aus Blei.
„Reiß dich gefälligst zusammen“, flüsterte er sich selbst zu. „Es ist deine Aufgabe. Für alles andere bist du völlig ungeeignet. Los jetzt!“
Er seufzte, hob den Arm weiter, aber da öffnete sich bereits die Tür. Die Frau des Müllers schaute zu ihm auf. Eine zarte Dame, mit dünnen Armen und Beinen, einer langen Nase und eng zusammenstehenden Augen, die rot und aufgequollen, wie sie waren, nicht zum Rest des Gesichts passten.
Nach einem höflichen „Guten Abend“, sah er an ihr vorbei und überlegte, wie er das Gespräch am besten anfing, ohne direkt zum Teufel gejagt zu werden. Zu oft hatte er „Mein Beileid“, „Wie furchtbar“ und „Welcher Verlust“ gebrabbelt. Inzwischen hohle Floskeln, die er sich selbst nicht abnahm. Das Grauen reichte mittlerweile so tief, dass Worte nicht heilten.
„Wir gehen“, sagte Frau Müller und nahm ihn die Entscheidung ab.
„Wie …? Was …?“, stammelte der Beschützer und folgte ihr ins Haus.
Im Flur lagen gepackte Taschen, daneben stand Herrn Müller reisefertig und mit einem Krug Bier in der Hand. Davon hatte er am Abend offenbar reichlich genossen. Der kräftige Mann schwankte vor und zurück, verschüttete einen Schwall und rülpste herzhaft.
„Wir gehen“, wiederholte Frau Müller entschlossen. „Deine Überredungskunst wird dir nichts nützen, Beschützer. Schlag dir das aus dem Kopf. Sag‘ mir, wie könnten wir bleiben, jetzt, wo unsere Tochter tot ist?“
Frau Müller erwartete keine Antwort, das war ihm klar. Wenn die Familie fortging, würde der Entscheider Ludwig den Kopf abreißen. Darauf verzichtete er gerne. Die Gemeinschaft hatte es schwer genug, und ohne Herrn und Frau Müller, gab es niemanden, der den Betrieb aufrecht erhielt. Wer sonst war in der Lage, die Mühle bedienen? Nicht auszudenken, was geschehen würde!
„Gertrud, Benedikt, lasst uns reden. Ich bin hier, um euch zu helfen und ich bleibe, solange ihr meine Unterstützung benötigt. Die Flucht hat noch niemandem geholfen. Der Verlust ist groß, und ich denke …“
„Ach, halt doch die Klappe, Ludwig!“, herrschte Herr Müller dazwischen. Sein Gesicht färbte sich rot und der Beschützer erinnerte sich daran, dass Benedikts Faust so manchen Kiefer gebrochen hatte. Vorsicht war geboten.
„Unsere Tochter ist tot! Hat der Zähler dir erzählt, wie sie es getan hat? Wie sie sich selbst das Leben nahm? Nein, oder? Hat er nicht, weil selbst er eine Schmerzgrenze hat, der alte Lump. Ich sage es dir, Ludwig, und dann versuche mich noch einmal aufzuhalten.“ Ein weiterer Schwall Bier platschte auf den Boden. „Mit einer Sense. Mit meiner gottverdammten Sense! Hanne war so klein, die Sense viel zu schwer und trotzdem ...“ Die Wut verrauchte und ein Schluchzen schüttelte Benedikts Körper. Seine Frau eilte zu ihm und stützte ihn. Der Beschützer fühlte sich in dieser Situation überflüssiger denn je.
„Ich bin für euch da. Wie lange kennen wir uns?“, fragte Ludwig und spielte auf ihre Freundschaft an. Das war erbärmlich und überaus verwerflich, aber er ließ nichts unversucht.
„Zu lange, schätze ich.“
Benedikt Müller hatte sich wieder gefangen und kippte den letzten Schluck Bier runter, ohne dem Beschützer etwas anzubieten. Schade, Alkohol wäre genau das Richtige.
„Hör‘ mir zu“, sagte Herr Müller. „Unser Beschluss steht fest. Wir gehen und kommen nicht zurück. Wir wollen vergessen. Wenn du unser Freund bist, dann wirst du es verstehen und uns nicht aufhalten. Und du wirst auch nicht zum Entscheider gehen, ja? Warte bis wir im Wald verschwunden sind!“
Das war ein großer Gefallen und Ludwig wurde zwischen der Pflicht und der Freundschaft hin und her gerissen. Am Ende war er aber doch ein Mensch und er grübelte, wie er sich entscheiden würde, würde man ihm Frieda nehmen. Bei dem Gedanken wurde ihm kalt und heiß zugleich. Die Antwort verstand sich von selbst: Er würde rennen. So schnell seine Beine ihn trugen.
Der Beschützer seufzte, faltete die Hände vor seiner Brust und schüttelte den Kopf. Ihre Blicke trafen sich und neben Müdigkeit und Trauer lag ein weiterer Ausdruck auf ihren Gesichtern. Dankbarkeit.
„Ich möchte euch nur eines ans Herz legen. Denkt gründlich darüber nach“, sagte Ludwig. „Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ich es nicht täte.“
Der Beschützer trat auf seinen Freund zu und legte eine Hand auf seine Schulter. „Niemand geht fort. Niemand kommt herein. Ihr habt keine Ahnung, was euch da draußen erwartet. Das weiß keiner von uns.“
Er ließ die Worte auf Benedikt und Gertrud wirken.
Es gab eine wichtige Regel in der Gemeinschaft und die lautete: Niemand betritt den Wald, und niemand kommt ins Dorf. Jeder, der fortging, wurde aus der Gemeinde ausgeschlossen. Eine überflüssige Regel, denn es kehrte keine Seele jemals zurück.
Warum?
Weil das Ungewisse – das Böse - in den Wäldern hauste. Es kam nie offen zur Sprache, aber alle kannten die Geschichte.
„Ammenmärchen, pah!“, brüllte der Müller aufgebracht und mit geröteten Wangen. „Das sagst du doch nur, um uns zu ängstigen. Was für ein Freund bist du, Ludwig? Heh?! Sag‘ es mir! Sieh‘ dir nur meine Frau an. Schämen solltest du dich. Du hast wohl zu viel von Normas Geschichten gehört. Niemand geht fort. Niemand kommt herein. Was glaubst du, warum man den Leuten so einen Blödsinn erzählt? Damit sie bleiben und gefügig sind natürlich. Aber wir nicht. Wir nicht!“
Beschwichtigend hob Ludwig die Hände. Er glaubte an das angebliche Ammenmärchen, denn er hatte es erlebt. Das Böse existierte und spielte mit den Urängsten der Lebenden. Wie im Falle des ersten verschwundenen Mädchens. Der Entscheider wählte ein paar Männer aus, das Kind zu finden, und kein einziger kehrte zurück. Alles, was man in der Ferne hörte, waren Jammerlaute, die aus dem Dunkel wieder hallten. Entsetzliche Schreie, die drei Nächte lang die Stille zerrissen.
Verlust und Tod breiteten sich wie ein Lauffeuer aus.
An diesem Tag fing es an zu regnen und es hörte bis zum heutigen Tag nicht auf. Es wurde kälter und immer früher dunkler. Menschen verschwanden. Der Wald verschluckte alle armen Tölpel, die es auf die andere Seite versuchten und Panik brach aus. Dann trat der Entscheider auf den Plan und verkündete offiziell: „Niemand geht fort. Niemand kommt herein“. Und somit war die Angelegenheit geregelt. Die Ansage wurde von allen akzeptiert, denn sie hatte etwas Menschliches und nichts zu schaffen mit Albträumen, Gruselgestalten und Märchen, von denen man sich erzählte, sie wären genauso geschehen.
Nach einiger Zeit verdrängten die Bewohner die Geschehnisse. Sie waren sogar dankbar. Voller Dankbarkeit, dass dort oben jemand stand, auf einem Podest mit hängenden Backen und wohlgenährten Bauch, und allen verkündete: „So Kinder, Stubenarrest und das auf Lebenszeit!“
Und was war mit dem Sterben der Leute? Nachdem der Entscheider die Ausgangssperre verhängte, fingen die Selbstmorde an. Tja, für das Leid und die Sorgen war Ludwig zuständig.
„Weil ich euer Freund bin, erinnere ich euch daran“, sagte Ludwig. „Ich glaube nicht an einen Fluch, aber Geschichten haben ihren Ursprung. Alles, was ich euch auf dem Weg mitgeben möchte ist, dass ihr vorsichtig seid. Und ich habe eine Bitte: Kommt zurück, wenn es möglich ist. Ich werde einen Weg finden, dass ihr aufgenommen werdet.“
Der Müller ignorierte sein Flehen und antwortete: „Es kommt niemand zurück, weil die Glücklichen einen neuen Ort gefunden haben. Einen Ort mit Sonne, trockenem Boden, fernab von dem ganzen Scheiß hier. Im Wald warten keine Monster. Dort wartet die Zukunft.“
Zwecklos. Egal, was der Beschützer sagte, Benedikt würde dagegen argumentieren. Sie hatten einen Entschluss gefasst und das würde er respektieren. Ludwig hatte sein Wort gegeben.
Dem Entscheider würde er morgen die Nachricht verkünden und eine Lösung finden, wer die Mühle in Betrieb hielt. Davor graute ihm am meisten.
„Gute Reise“, sagte der Beschützer und fasste sich zum Abschied an die Stirn. Damit hatte die beiden nicht gerechnet, aber sie nickten einstimmig und Benedikt widmete sich seinem Bier.
„Komm Ludwig, ich bringe dich zur Tür“, sagte Gertrud und fasste ihm am Arm.
Zum Abschied umarmte sie ihn ein letztes Mal und flüsterte dicht an seinem Ohr: „Die Schatten werden dunkler. Du weißt, was es bedeutet, mein Freund. Geschichten werden nicht umsonst erzählt. Wir wollen es versuchen, Ludwig, bevor er uns auch holt. Achte auf deine Familie, auf Frieda und Norma. Und achte auf dich. Das Dorf braucht dich mehr denn je.“
Gertrud schloss die Tür und ließ ihn in der Abenddämmerung stehen.
Schuld
Das Gespräch mit der Familie verunsicherte Ludwig.
Er fragte sich still: „Wie viel Wahres war an Normas Geplapper dran und an dem Fluch, von dem sie seit Jahren erzählte?“
Norma erinnerte sich, wie es damals war. Sonnenschein, saftiges Gras und ein blauer Himmel. Das klang für ihn vielmehr nach einem Märchen.
Wie viel Wahres steckte in der grausamen Geschichte des Vaters, der seine Tochter einsperrte? Ja, er kannte die Erzählungen und die Drohung, dass das Böse zurückkehren würde. Eines Tages, wenn die Nächte länger wurden, die Schatten tiefer und das Wetter feuchter und kälter. Genau genommen, so, wie es jetzt war.
Ludwig schüttelte sich. Es war dunkel, ein Zustand, an den er sich schwer gewöhnte, und die Lampe in seiner Hand spendete wenig Licht.
Mit schnellen Schritten und mit Schlamm an und in den Stiefeln, stapfte er hinüber zu seinem Haus. Heute würde er niemandem mehr einen Besuch abstatten. Morgen war ein neuer Tag, an dem er sich für andere krümmte.
Er war allein auf der Straße – alle Leute saßen längst in ihren Häusern. Hier und dort blitzte ein Licht auf, Glühwürmchen schwirrten über seinem Kopf und auf einmal beschlich ihn das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Der Drang sich umzudrehen wurde stärker. Er spürte Blicke auf seinem Rücken, die es nicht gab und doch immer eindringlicher wurden. Er lief schneller.
Keuchend erreichte er die Eingangstür seines Hauses und schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie naiv und kindisch er doch war. Seine eigenen Gedanken jagten ihm einen Schrecken ein. Wie peinlich!
Er beruhigte sich und lachte leise vor sich hin. Da bemerkte er einen Zettel an seiner Tür.
„Versammlung – Mittwochabend. Teilnahme ist Pflicht.“
Na fabelhaft, das war morgen. Er verabscheute Zusammenkünfte. Wenn alle Bewohner auf einem Haufen saßen, fürchtete er stets eine aufkommende Massenpanik. Das würde dem Entscheider missfallen und wer bekam dann die Schuld zugewiesen? Der Beschützer.
Der Entscheider ...
Egoistisch, selbstverliebt, eigenwillig und aufgeblasen bis zum letzten Hemdknopf. Alles Besonderheiten, die nicht zu seiner Stellung passten. In Ludwigs Augen wäre ein Tag in der Klärgrube genau das Richtige für den Schnösel.
Aber das Dorf hatte ihn gewählt, so wie es Ludwig ausgesucht hatte. Fair und gerecht. Er hatte die Stimmzettel selbst gezählt. Lösungen zu finden stellte eine Herausforderung dar, gerade die Schweren und niemand hatte es gern, mit den Folgen zu leben und dafür auch noch die Verantwortung zu tragen.
Vermutlich waren es am Ende doch die Qualitäten des Entscheiders, die ihm diesen Posten verschafften. An erster Stelle stand bekanntlich er und strebte das Beste für sich selbst an.
Der Beschützer knüllte den Zettel zusammen, stopfte ihn in seine Tasche und schleppte sich ins Haus. Norma saß aufrecht schlafend in ihrem Schaukelstuhl und im fahlen Licht der Laterne wirkte sie leblos. Obwohl sich alles in ihm sträubte, ertastete Ludwig ihren Puls ... und da! Ja, da war ein Zucken. Gott sei Dank!
Behutsam legte er eine weitere Decke über seine Mutter, denn die Nächte wurden immer kälter.
Ohne sich die Stiefel auszuziehen, stolperte er die Stufen zu seinem Zimmer hinauf, das direkt neben Friedas lag. Entspannung, ja, das wäre jetzt genau das Richtige. Schlafen, ohne zu träumen, vergessen - bitte nur für eine Nacht.
„Vati?“
Brummend blieb er stehen. Friedas Tür war angelehnt und mit zwei Fingern schob er sie ein weiteres Stück auf, in der Hoffnung auf ausbleibende Diskussionen in der Nacht. Dazu hatte er keine Lust.
„Bist du allein, Vati?“
Ihre zarte Stimme berührte ihn, obwohl er lieber seine Ruhe haben wollte. Morgen, ja in der Früh würde er sich als Erstes um seine Tochter kümmern.
„Ja, Frieda. Warum fragst du?“
Er hörte ein Rascheln, dann nackte Füße, die über den Boden trippelten. Kurz darauf streckte sie ihren zerzausten Kopf aus der Tür. Warum stellte er auch Fragen? Alles, was er sich wünschte, war Schlaf.
„Da war jemand“, flüsterte sie und sah sich vorsichtig zu allen Seiten um.
„Ich bin alleine, Kind“, wiederholte er.
„Dieses Mädchen mal wieder“, dachte er und trotzdem war da diese kalte Hand im Nacken. Bestimmt hatte Norma ihr die den Fluch als Gute-Nacht-Geschichte aufgetischt. Dabei hatte er es untersagt!
„Er war hinter dir. Ich habe ihn genau gesehen. Hast du es wirklich nicht bemerkt?“ Sie zitterte und hatte Angst, das sah er sofort.
„Frieda, bei aller Liebe mein Kind, hör auf damit!“ So langsam wurde aus Ungeduld Wut, wobei er seine eigene Angst überspielte.
„Er war schwarz, so groß wie du und …“
„Genug!“
Bevor sein Gehirn verstand, was er vorhatte, schlug er seiner Tochter ins Gesicht. Beide stolperten einen Schritt rückwärts. Sie aus Angst, er aus Scham und ohne ein Wort rannten sie in ihre Zimmer.
Es gab nichts mehr zu sagen und derweil beide weinend einschliefen, wuchsen die Schatten in ihrem Haus heran.
Sei stark
Die Nacht war zu kurz und der Beschützer hatte sich ruhelos von der linken auf die rechte Seite gedreht.
Er erwachte, starrte ins Leere und schlug die Decke zurück. Ihm war heiß, seine Zunge lag pelzig im Mund und der Alptraum der vergangenen Nacht grinste ihm ins Gesicht. Eine garstige Art aufzuwachen. Das Schlimmste daran war: Ein neuer Tag brach an.
Ächzend setzte er sich an die Bettkante, kämmte mit seinen Händen durch sein braunes, kurzes Haar und wünschte sich etwas zum Trinken. Ein Getreidekaffe wäre genau das Richtige, um seine Gedanken auf eine gerade Spur zu bringen. Die Dorfbewohner halfen sich gegenseitig und mit Glück hatte ein Nachbar eine Kanne vorbei gebracht. So trostlos dieses Dorf auch war, die Leute respektierten den Beschützer. Vor allem aber schätzten sie Norma und Frieda.
O Frieda …
Er massierte seine Schläfen und erinnerte sich an den Alptraum, in dem er seine Tochter geschlagen hatte. O Gott. Welcher Vater erhob die Hand gegen sein eigenes Kind? Er liebte Frieda. Sie schenkte ihm Wärme und die Sonne, die er nie zu Gesicht bekam.
Aus dem unteren Geschoss hörte er das Klappern von Geschirr und sein Magen meldete sich pünktlich zur Frühstückszeit. Er gab sich einen letzten Ruck, wusch sich über einem Bottich mit kaltem Wasser und zog seine Kleidung von gestern Abend an.
Norma hatte ihm ein paar Wollsocken gestrickt, die ihn wärmten. Bei dem Wetter war es immer klamm und feucht und seine Füße waren zu jeder Tageszeit nass und schrumpelig.
An der Tür sprach er sich neuen Mut zu: Es wird ein guter, arbeitsreicher Tag. Du bist der Beschützer. Die Menschen verlassen sich auf dich.
Ja, jetzt war er bereit und trat hinaus in den Flur.
Friedas Tür stand offen und verströmte einen süßlichen Duft. Er schaute in das Zimmer und plötzlich erinnerte er sich. Die Ohrfeige war kein Traum! Er hatte sie geschlagen. Mitten ins Gesicht. Das klatschende Geräusch hallte in ihm nach.
Er sah auf seine Hand, zitterte und als er ihre Stimme aus dem Wohnzimmer hörte, verließ ihn der Mut. Wie sollte er seiner Familie gegenübertreten? Was würde Norma von ihm halten? Was hielt sein Kind von ihm?
Mit zitternden Beinen stellte er sich an den Treppenabsatz und lauschte dem Gespräch zwischen Norma und Frieda. Zuerst einmal würde er sich beruhigen und seinen üblichen Alltag nachgehen. Das Geschehene ignorieren. Später, wenn er sich gesammelt hatte - so war sein Vorhaben - dann würde er mit Frieda sprechen. Ja, das war sein Plan.
„Stell‘ deinem Vater die Kanne auf seinen Platz“, hörte er Norma sagen.
Gott sei Dank, jemand aus dem Dorf hatte an ihn gedacht. Da sie keine Feuerstelle besaßen, wurde in ihrem Haus wenig gekocht und Frieda tauschte am Morgen mit den Nachbarn. Sie war so ein gutes und vernünftiges Kind und er der schrecklichste Vater der Welt.
„Was ist Kind? Bist du heute Morgen auf den Mund gefallen? So still kenne ich dich gar nicht.“
Der Klumpen in Ludwigs Magen wurde größer.
„Die Nacht war so kalt“, antwortete Frieda. „Ich habe schlecht geschlafen und von dem Schatten geträumt. Er besucht mich jetzt immer öfter, weißt du?“
Der Schatten … Ludwig hoffte, Norma würde ihre Klappe halten, aber den Gefallen tat sie ihm nicht.
„Wehre ihn ab, solange du kannst. Er wird gehen, wenn du es ihm sagst.“
„Und was passiert, wenn ich es nicht mache?“
Norma murmelte etwas Unverständliches, das Ludwig vom Treppenabsatz aus nicht verstand. Frieda gab sich offenbar damit zufrieden.
„Vati hat mir mal erzählt, dass du die Sonne gesehen hast, stimmt das?“
Erleichtert atmete der Beschützer aus. Das Thema rund um den Schatten und den Fluch behagte ihm nicht. Ein Gespräch über die Vergangenheit gefiel ihm besser.
„Das ist ja schon ewig her.“ Norma lachte kurz und hart auf. „Ich erinnere mich kaum noch an die Sonne. Damals war ich ein Kind von vier oder fünf Jahren. Ich weiß nur noch, dass ich über eine Wiese lief, Blumen pflückte und abends schmutzig und mit einem Sonnenbrand nach Hause kam. Vielleicht war es auch nur ein Traum, wer weiß das schon … Meine Eltern kann ich nicht mehr um Antworten bitten und kein anderer ist im Dorf ist so alt und runzelig wie ich.“
„Du bist nicht alt, Omi.“
„O doch, steinalt.“
Beide lachten und der Beschützer stellte sich ihre Gesichter dabei vor.
„Einen Sonnenbrand?“, fragte Frieda. „Was soll das sein?“
„Nun ja, mein kleiner Schatz, stell‘ dir Sonne als einen großen, runden Feuerball am Himmel vor. Sie wärmt Menschen, Tiere und Pflanzen. Ohne die Sonne gibt es kein Leben. Sie macht glücklich und taucht die Welt in ein goldenes Licht. In der Mitte des Jahres strahlt sie so intensiv, dass man sich sogar die Haut verbrennen kann. Keine Sorge, Frieda, das passiert nur, wenn man nicht aufpasst. Hach ja, wie gerne hätte ich wieder einen Sonnenbrand.“
„Dann ist die Sonne verschwunden?“, fragte Frieda.
„Aber nein. Sie ist noch dort oben, verdeckt von den grauen Wolken. Sie leuchtet jeden Tag vom Himmel herab und tauscht in der Nacht ihren Platz mit dem Mond.“
„Dem Mond?“
„Herrje, was bringt man euch eigentlich in der Schule bei? Wen wundert es, dass die nächste Generation verblödet? Du kennst alle Bibelsprüche, aber nicht den Himmel. Tz tz. Wir haben viel nachzuholen, aber das machen wir ein anderes Mal. Na komm, Kindchen, geh‘ und wecke deinen Vater. Der denkt wohl, ihm stehen Sonderrechte zu.“
Beide lachten und bevor Frieda zu ihm lief, knallte er mit seiner Tür und polterte die Stufen hinunter.
„Guten Morgen“, sagte er und vermied es, seiner Tochter in die Augen zu schauen. „Ist der Tee für mich?“
„Greif‘ zu und dann ab an die Arbeit“, meckerte Norma. „Den ganzen Morgen klopft es an der Tür. Ich komme gar nicht zur Ruhe und mit den Menschen zu sprechen gehört zu deinen Aufgaben. Seit wann geht der Berg zum Propheten? Ich fürchte, du bist die letzten Tage nachlässig gewesen. Sorge dafür, dass das ständige Klopfen aufhört, verstanden? Alte Leute brauchen ihre Ruhe am Morgen.“
Er schlürfte den lauwarmen Tee aus dem Becher und bemühte sich, nicht mit den Augen zu rollen. Wenn sie das sah, würde sie noch wütender werden.
„Verstanden, Kommandant. Übrigens, heute Abend findet eine Versammlung im Gemeindehaus statt. Anwesenheit ist Pflicht. Sorge bitte dafür, dass ihr beiden pünktlich vor Ort seid. Ich kann nicht sagen, wie lange ich unterwegs sein werde. Der Entscheider - dieser Blödmann - mag keine Verspätungen.“
„Ludwig, beherrsche dich! Wenn ihm das zu Ohren kommt, haben wir alle was von dem Ärger.“
Er warf sich seinen schweren, schwarzen Mantel über und seufzte innerlich. Hinter seiner Haustür hörte er Stimmen. Norma hatte Recht. Die Arbeit rief, und die Leute besaßen keinen Anstand, bei sich zu Hause warten.
Bevor er verschwand, drehte er sich noch einmal um, um mit seiner Tochter zu sprechen – ihr zumindest einen erfreulichen Tag zu wünschen, aber Frieda war nicht mehr im Wohnzimmer. Er erblickte Norma – wie immer in ihrem Schaukelstuhl, mit einem Stück Brot in der Hand. Sie achtete nicht auf ihn und war in ihren eigenen Gedanken versunken.
Er schüttelte den Kopf und trat hinaus.
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