Kitabı oku: «Highcliffe Moon - Seelenflüsterer», sayfa 7
»Vielleicht verstehst du es, wenn du in eine ähnliche Situation kommst. Den Menschen, den man liebt, möchte man eben immer um sich haben«, sagte sie fast entschuldigend.
Ich fragte mich, ob ich auch für einen Jungen mein Zuhause und meine Freunde aufgeben würde.
Abwesend polierte sie nun mit einem Finger die Nieten auf ihrem Gürtel und sagte leise, als hätte sie meine Gedanken erraten: »Zu Hause ist da, wo er ist.« Dann hob sie den Kopf und sah mich beschwörend an, als wäre sie davon überzeugt, dass ich diese Erfahrung auch eines Tages machen würde. »Wie gesagt, die Würfel sind noch nicht gefallen. Vielleicht überstehen wir die zwei Jahre und ich hoffe immer noch, dass Tobey dann zurückkommt.«
Ich nickte nur und entschied, das Thema erst einmal ganz weit hinten in meinem Kopf zu parken. Man soll sich über ungelegte Eier keinen Kopf machen, fiel mir Dads hilfreiche Devise ein.
Charlie erhob sich. »Ich schlage vor, wir lassen unseren Krempel hier einfach so liegen und ziehen gleich weiter, okay? Wir haben durch den blöden Stau schon genug Zeit verloren.«
»Find ich auch«, erwiderte ich und sprang aus dem tiefen, bequemen Sessel auf.
Die Luft war wunderbar. Ich ließ das Seitenfenster herunter, bevor ich begann, den mitgebrachten Kuchen auszupacken und Charlie ein Stück herüberzureichen, woraufhin ich einen nicht allzu ernst gemeinten strafenden Blick erntete. »Ich probier nur mal. Den Rest isst du, Spargel. Du kannst es vertragen.« Sie biss ein winziges Stück ab, stöhnte »Lecker« und legte das angebissene Stück auf dem Papier in die vordere Ablage, wo sie es fortan unruhig beäugte. Keine zwei Kreuzungen weiter holte sie das Kuchenstück mit einem gemurmelten »Scheiß drauf« wieder heran und verzehrte alles bis auf den letzten Krümel. Entspannt lehnte sie sich auf dem Fahrersitz weit zurück und versprach feierlich, wie gefühlt jeden zweiten Tag: »Ab morgen mache ich Diät.«
»Klar«, erwiderte ich wie immer und wir beide wussten, dass es nicht dazu kommen würde.
In einer kleinen Seitenstraße vor einem alten Kontorhaus fanden wir eine Parklücke und starteten von hier unseren Bummel über den Borough Market, wo die Händler bereits begannen, ihre Waren zusammenzupacken. Dann folgte ein mehrstündiger Marathon durch diverse trendige Vintage Boutiquen. Als wir in dem Gewirr der kleinen Straßen und Gassen endlich unser Auto wiedergefunden hatten, dämmerte es schon leicht, da sich der Himmel komplett zugezogen hatte. Charlie stellte ihre Tasche auf die Motorhaube und begann nach dem Autoschlüssel zu graben. »Wo bist du blödes Ding? Mist! Mist! Mist!«
Es war erstaunlich, wie sie es jedes Mal wieder fertigbrachte, den Autoschlüssel innerhalb der überschaubaren Begrenzung einer Handtasche scheinbar unwiederbringlich zu versenken. Ich schaute ihr amüsiert dabei zu und kaute auf meinem Daumennagel herum, als ich aus dem Augenwinkel plötzlich eine Bewegung sah. Reflexartig drehte ich mich herum und mein Blick fiel sofort auf ein nur sehr vage zu sehendes, undefinierbares Lichtgebilde, mehrere Schritte von Charlies Wagen entfernt. Es sah aus wie die sehr schwache Reflektion eines glänzenden Gegenstandes. Millionen kleiner pastellfarbener Lichtpunkte ergaben eine diffuse Form ohne exakte Konturen, die kurz über dem Kopfsteinpflaster zu schweben schien. Ich wollte sehen, ob es sich mit meinem Blickwinkel verändern würde, und bewegte mich darauf zu, als es unvermittelt leicht hin und her zu schwingen begann. Es war schwierig, die Größe des Gebildes auszumachen, da ich die Entfernung nicht einschätzen konnte, aber es sah so aus, als hätte es sich jetzt ein Stück entfernt.
Na klar, sehr witzig. Ich hätte auch gleich darauf kommen können. Da saß sicher irgendwo einer mit einem Laserpointer oder so am Fenster und lachte sich scheckig. Gerade wollte ich mich wieder umdrehen, um dem Verursacher keine Gelegenheit zu geben, sich auf meine Knochen zu amüsieren, als die Erscheinung hinter der nächsten Hausecke verschwand, als würde sie sich selbstständig bewegen.
Charlie wühlte immer noch, unflätige Bemerkungen ausstoßend, in ihrer Tasche. »Das gibt’s doch nicht. Der Scheißschlüssel muss doch hier irgendwo sein.«
Ich lief zu der Häuserecke und reckte meinen Kopf vor. Da war es, in der Mitte der Gasse, und schien auf mich zu warten. Was war das für ein Ding? Ich suchte mit intensivem Blick alle Fenster in der Umgebung ab, von denen diese Projektion möglich gewesen wäre. Aber ich entdeckte nichts. Meine Theorie bröckelte.
Der Lichtfleck bewegte sich nun ein wenig weiter und tanzte vibrierend über die Asphaltfragmente der engen Straße, um dann am schmiedeeisernen Gitter am Eingang eines sandfarbenen Hauses mit schwarzen Fensterrahmen zu verharren. Vorsichtig ging ich hinterher, doch es verschwand wiederum hinter der nächsten Hausecke. Blitzschnell rannte ich ihm nach. Das Ding verharrte in einiger Entfernung an einer Steinmauer und ich glaubte jetzt sogar eine leicht fluoreszierende Silhouette auszumachen. Atemlos vom Laufen und vor Aufregung stoppte ich und fixierte es wie ein Jäger seine Beute. Ich strich meine Haare aus dem Gesicht und spähte wieder verstohlen in alle Richtungen und zu den Fenstern der Häuser hoch, aber nichts rührte sich. Wenn da doch irgendein Freak, der sich nun vermutlich vor Lachen bog, etwas auf die Straße projizierte, war er sehr gut getarnt. Unweigerlich musste ich an Katzen denken, die in aussichtlosem Jagdfieber den kleinen roten Punkten, die von Laserpointern erzeugt werden, hinterherrennen. Aber wie kriegt man einen Strahl um eine Hausecke? Unmöglich vom Fenster aus. Und auch auf der Straße war ich ganz allein. Das unergründliche Phänomen huschte weiter die kleine Gasse hinunter und ich versuchte dranzubleiben, aber hinter der nächsten Ecke war es verschwunden. Verloren blieb ich auf einer kleinen Kreuzung stehen und drehte mich wie ein Brummkreisel um meine eigene Achse. Ich kniff meine Augen zusammen und blickte angestrengt, jeden Winkel absuchend, in vier kleine Gassen. Doch es blieb verschwunden. Als ich mich genervt zum Gehen wenden wollte, merkte ich, dass ich nicht ganz sicher war, aus welcher der kleinen Straßen ich gekommen war. Sie sahen alle ganz ähnlich aus. »Verdammt«, schimpfte ich laut.
Ich hörte ein gedämpftes, hohles Lachen, das irgendwo aus einem Hauseingang zu kommen schien. Erst jetzt bemerkte ich, dass dies eine ziemlich finstere Gegend war. Ein mulmiges Gefühl riet mir, schnellstens zurückzukehren. Ich drehte mich um und lief in die schwach beleuchtete Gasse, aus der ich glaubte, gekommen zu sein. Ein Hund bellte und ich hörte, wie eine Dose gekickt wurde. Zu spät bemerkte ich, dass ich genau auf einen leicht schwankenden Mann zulief, der das Geräusch verursachte. Wieder trat er gegen die Dose und sie landete fast vor meinen Füßen.
»Na, Kleine, wo soll’s denn hingehen? Brauchst du Gesellschaft?«
Mein Kopf begann zu glühen. Ich war allein, ich wusste nicht genau, wo ich war, und der Typ sah nicht besonders freundlich aus. Als er fast vor mir stand und mit lüsternem Gesichtsausdruck meinen Arm packen wollte, erinnerte ich mich an den oft in Filmen gesehenen Tritt in die Kronjuwelen eines Mannes und nahm all meinen Mut zusammen, diese Form der Abwehr beherzt auszuführen.
Plötzlich erklang dicht neben mir ein dumpfes, grollendes Knurren. Ich erschrak und zuckte zurück, als etwas mein rechtes Bein streifte. Drohend glitt ein großer, graubrauner Hund heran und schob sich an mir vorbei, den Mann fest fixierend. Konzentriert setzte er eine Pfote vor die andere, den Kopf leicht an die Schultern herangezogen, wie zum Sprung bereit. Das Knurren verstärkte sich. Es war eine Promenadenmischung mit strubbeligem Fell. Und der Hund verstand es, seine blitzenden Zähne in wirklich furchteinflößender Weise zu fletschen.
Der Mann zeigte sich sehr beeindruckt und wirkte schlagartig nüchterner. Er war von mir zurückgewichen, ging rückwärts, ohne den Hund aus den Augen zu lassen, und schnauzte mich jetzt mit angsterfüllten Augen wütend an: »Ist das dein Köter? So was gehört an die Leine. Am besten verpasst du ihm noch einen Maulkorb. Blödes Biest!« Als er sich ein paar Schritte entfernt hatte, drehte er sich um und rannte, sich immer wieder umblickend, davon. Dabei stieß er irgendwelche Flüche aus.
Ich atmete ein paarmal erleichtert durch. Der Hund folgte dem Mann nicht. Seine Lefzen zuckten nur einige Male, als wollte er seinem Sieg noch einmal Nachdruck verleihen, dann wandte er sich zufrieden um, schaute mich kurz an und verschwand im Schatten eines Hauseinganges.
Das war skurril. Ganz klar, der Hund hatte mich verteidigt. Mein Körper begann leicht zu zittern, als mir bewusst wurde, wie unangenehm diese Begegnung hätte verlaufen können. Ich sah mich um, aber der vierbeinige Retter blieb verschwunden. »Danke, Hund«, murmelte ich erleichtert und rannte in eine der kleinen Straßen zurück, die mir jetzt bekannt vorkam.
An der nächsten Ecke war ich unsicher, ob ich richtig abgebogen war, doch wie an einer Schnur gezogen landete ich wieder in der kleinen Sackgasse, wo Charlie mir aufgeregt entgegensah. »Mensch, wo warst du? Ich rede und rede und als ich mich umdrehe, bist du überhaupt nicht da. Ich habe mir schon die wildesten Gedanken gemacht«, stöhnte sie laut auf und bekräftigte ihren Unmut mit einer Geste ihrer beiden Hände, als müsste sie eine Last abwiegen.
»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«
»Was denn, ne schwarze Katze?« Sie schien etwas sauer zu sein. »Du kannst doch nicht einfach abhauen. Ich hab einen Mordsschrecken bekommen, als ich merkte, dass ich mit der Luft quatsche. Du warst auf einmal spurlos verschwunden. Sag nächstens wenigstens Bescheid, wenn du wieder Sherlock Holmes spielst.«
»Tut mir leid, ich hab nicht nachgedacht. Ich wollte dich nicht erschrecken«, meinte ich einsichtig, »aber da war irgendetwas, etwas Unheimliches.«
»Was meinst du?« Sie kam mit skeptischem Blick auf mich zu.
»Es war irgendwie … ein Licht … dreidimensional. Wie ein Objekt oder … eine Gestalt, aber aus flirrender Luft bestehend. Ich weiß auch nicht, wie ich es anders beschreiben soll.«
»Ein Ufo?« Sie grinste spöttisch.
»Quatsch.« Ich war aber doch geneigt, selbst das in Erwägung zu ziehen.
»Das hast du dir doch nur eingebildet, so etwas gibt es nicht.« Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Nein, Charlie, ich bin dem Ding um mehrere Ecken gefolgt.«
Sie runzelte die Stirn. »Du hast doch kein Fieber, oder?«
Jetzt platzte mir der Kragen. »Wieso denkt ihr eigentlich alle immer, dass ich spinne?«, rief ich aufbrausend. »Was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Du könntest mir wirklich mal glauben.«
Charlie wich mit erhobenen Händen einen Schritt zurück. »Schon gut, war ja nicht so gemeint«, versuchte sie mich zu beschwichtigen. »Wenn du es sagst. Vielleicht war es ja ein Mini-Ufo oder so.«
Ich konnte ihrem Blick ansehen, dass sie mich für übergeschnappt hielt, und es kränkte mich. War denn niemand außer mir bereit, wenigstens die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es irgendwelche unerklärlichen Phänomene geben konnte? Vielleicht Ben. Er war zumindest näher an der Materie. Ich beschloss, die Sache nicht mehr zu vertiefen. Da Charlie sich so sehr sperrte, fand ich es müßig, weiter mit ihr darüber zu diskutieren.
»Okay, wahrscheinlich hat mich jemand mit so einer Art Laser-Projektion verarscht und sich irgendwo halb totgelacht«, sagte ich und versuchte, es nicht allzu beleidigt klingen zu lassen.
»Genau«, meinte Charlie und schien erleichtert, sich mit dem Thema nicht weiter auseinandersetzen zu müssen. »Komm, steig ein, wir fahren jetzt nach Shoreditch rüber und gehen was essen.«
Ich erwähnte das Ereignis das ganze Wochenende nicht mehr, obwohl es mich noch eine Weile beschäftigte.
Aliens und Poltergeister
Am Montagmorgen parkten die gigantischen Regenwolken immer noch über Highcliffe und dämpften meine Stimmung. Es schüttete wie aus Kübeln und der Tag wurde einfach nicht hell. Ben hatte mir eine wehleidige SMS geschickt, dass er mit Erkältung im Bett liege, und Charlie wollte am Nachmittag zurück nach Cambridge, um mit ihrer studentischen Arbeitsgruppe tätig zu werden. Das hieß in der Regel: am Tage Vorbereitung auf das kommende Semester und abends Party.
Lustlos trollte ich mich zur Schule. Als ich dort ankam, war der Teil meiner Klamotten, den die Regenjacke nicht abgedeckt hatte, völlig durchgeweicht und mir grauste bei dem Gedanken, den ganzen Tag in nassen Jeans zu verbringen. Nachdem ich mit dem Händetrockner im Waschraum mühselig versucht hatte, meiner Hose etwas von ihrer Feuchtigkeit zu nehmen, was kaum gelang, schlüpfte ich verspätet und demotiviert durch die Tür zum Geschichtskurs, wo Dean, unser klischeehaft bebrillter Streber, wie immer freiwillig dabei war, den Raum zu verdunkeln. Eilig stolperte ich über die zahlreichen auf dem Fußboden deponierten Rucksäcke, während ich immer weniger erkennen konnte, und erreichte mit dem letzten Hauch von Licht unversehrt meinen Platz. Im nächsten Augenblick startete der Doc seinen Film, der politische Redner des zwanzigsten Jahrhunderts zeigte.
Ohne dass ich es beeinflussen konnte, schob sich wieder das Bild meines schönen Fremden in den Vordergrund. Und wie immer schmerzte es, über ihn nachzudenken, auch wenn sich das Tosen in meiner Brust mittlerweile in ein dumpfes Pochen verwandelt hatte. Die Tagträume beherrschten auch meine Freistunde. Außer zwei eng mit Formen und Blumen vollgekritzelte Heftseiten, brachte ich nicht sehr viel zustande. Wenigstens im Englischkurs hatte ich ein kleines Erfolgserlebnis, da ich beide Antworten wusste, als ich aufgerufen wurde.
Der nervige Dauerregen war das demotivierende Gesprächsthema in der Cafeteria, als ich mich mit einem heißen Tee und klammen Waden zu Desiree und Paul und einigen ihrer Freunde, die ich wenig kannte, an den Tisch setzte. Ich erkundigte mich nach Keira und erfuhr, dass sie sich wegen Magenproblemen hatte entschuldigen lassen. Irgendwie fühlte ich mich allmählich mit allen Erkrankten solidarisch und eine zunehmende Schlaffheit befiel meinen Körper. Ich war heilfroh, als ich endlich das Schulgelände verlassen konnte. Den Rest des Tages verkroch ich mich in meinem Zimmer und bildete mir ein, eine Erkältung zu bekommen. Ich steigerte mich da so sehr hinein, dass ich Mom sogar dazu bewegen konnte, mir Tee und Essen ans Bett zu bringen.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich ausgeruht und kerngesund, obwohl das Wetter nicht besser geworden war und unter den Schülern eine spürbare Depri-Stimmung herrschte. Auch Keira war wieder da, wenn auch etwas matt und mit leichten Augenschatten. In der Mittagspause hing ich mit ihr in den Kreuzgängen ab. Da man nicht nach draußen ausweichen konnte, waren die Cafeteria und die Aufenthaltsräume hoffnungslos überfüllt und selbst in den Fluren herrschte Gedränge. Wir hatten uns gerade noch einen Platz auf der breiten Fensterbank unter einem der großen gotischen Fenster, die nach Süden zeigten, gesichert und Keira blickte versonnen auf die riesige Rasenfläche, auf der sich mittlerweile kleine Seen in den Unebenheiten gebildet hatten.
Ich zog ein mitgebrachtes Thunfischsandwich aus meinem Rucksack und hielt ihr eine Hälfte hin. »Möchtest du?«
»Oh ja, gern. Ich kann keinen Zwieback mehr sehen.«
Wir mampften schweigend die Brote, während wir drei Jungen beobachteten, die sich gerade zum Affen machten, um Tina Hagen, unsere Schulbarbie, zu beeindrucken. Sie war eines der hübschesten Mädchen der Schule mit endlos langen Beinen und langer, hellblonder Mähne. Offensichtlich genoss sie die Aufmerksamkeit der beiden, obwohl sie mit ihrem erhabenen Verhalten natürlich gleichermaßen verdeutlichte, dass keiner von beiden den Hauch einer Chance bei ihr hatte. Doch das schien sie nur noch mehr anzustacheln. Sie stellten sich ihr abwechselnd in den Weg, schoben sich gegenseitig beiseite, rangen spielerisch um das Privileg, einen Augenkontakt mit Tina herzustellen. Sie erinnerten mich an Straßentauben in der Balzzeit. Es war erbärmlich, wie sich die drei in Szene setzten, nur um sich bei der affektierten Tina Körbe abzuholen. »Peinlich«, murmelte Keira. Sie dachte offenbar das Gleiche wie ich.
Wenn Nic nicht in der Nähe war, verbrachte ich ganz gern Zeit mit ihr. Sie wurde dann wieder zu einem passablen Individuum. Auch durch die gemeinsamen Theoriestunden für die Fahrprüfung hatten wir uns etwas enger befreundet. Sie war meist ruhig und ernst, konnte aber auch witzig sein. Sobald Nic auftauchte, war sie wie ausgewechselt, als würde sie ihre Individualität aufgeben. Es war, als klatschten die entgegengesetzten Pole zweier Magneten aufeinander, die kaum noch voneinander zu trennen waren. So überraschte es mich, als sie jetzt plötzlich sagte: »Weißt du, Val, es ist eigentlich gar nicht schlecht, Single zu sein.« Dabei betrachtete sie das Sandwich, als hätte sie diese Weisheit dort gerade abgelesen.
»Ääähmm, wie kommst du jetzt darauf?« Ich musterte sie wachsam. »Habt ihr Stress?«
»Nein, nein«, beeilte sie sich, zu versichern.
»Wieso meinst du das dann?«
Sie sah mich aus ihren grünen Augen ernst an. »Manchmal beneide ich dich einfach darum, weil du dir nervige Diskussionen ersparst und machen kannst, was du willst.« Ich musste sehr verständnislos geguckt haben, denn sie fuhr ohne Aufforderung fort. »Zum Beispiel vorhin wieder. Ich habe mit Micah Hiller rumgeflachst. Der Typ ist echt witzig.«
Ich stellte mir den langen schlaksigen Micah mit dem zarten Mädchengesicht vor. Bis jetzt hatte ich noch nie über ihn nachgedacht.
»Wenn wir Kurse zusammen haben, schiebt er mir öfter witzige Karikaturzeichnungen rüber. Er ist echt begabt, weißt du? Wir kichern dann über seine Bildchen. Aber auch wenn ich ihn echt süß finde, er ist nur ein guter Kumpel. Aber Nic hasst es, wenn ich mit anderen Jungs rumalbere, und konfrontiert mich immer mit seiner nervigen Eifersucht. Und dann folgen lange Diskussionen, in denen ich ihm immer und immer wieder erklären muss, dass das nichts zu bedeuten hat. Und das nervt. Ich fühle mich einfach zu jung, um mich jetzt schon ständig mit diesem Beziehungsscheiß auseinanderzusetzen. Ich will einfach auch noch Spaß haben. Ist das verkehrt?«
Bevor ich antworten konnte, lehnte sie sich vor und herrschte ein Mädchen an, das sich hinter meinem Rücken offenbar ziemlich nah an uns herangepirscht und die Ohren in Satelliten verwandelt hatte. »Naa, hast du auch alles genau mitgekriegt?«, fauchte Keira sie an. Das Mädchen wandte sich errötend ab und suchte sich im Nachbarfenster einen neuen Platz.
Ich musste über Keiras Forschheit schmunzeln. Sie hatte mehr Persönlichkeit, als ich dachte. Ihre Haare wippten frech, als sie mit großer Genugtuung über die Flucht des eingeschüchterten Mädchens mit dem Kopf nickte. Dann wandte sie sich wieder mir zu, mit ihrem Blick signalisierend, dass ich ihr noch eine Antwort schuldig war.
»Nein, das ist nicht verkehrt«, bestätigte ich ihr. »Das hört sich ja an wie Kontrollzwang. Ich wusste gar nicht, dass Nic so ist.«
»Doch, leider. Manchmal wenigstens«, schwächte sie es ab.
Nachdenklich runzelte ich die Stirn. Sie mochte meine Gedanken geahnt haben, denn sogleich nahm sie ihn wieder in Schutz, um keinen falschen Eindruck von ihm zu vermitteln: »Aber sonst ist er wirklich genau das, was ich mir gewünscht habe.« Sie prüfte mit ihrem Blick, ob sie Erfolg damit hatte.
Ich bemühte mich um einen entspannten Gesichtsausdruck, da ich nicht wollte, dass sie ihre freimütigen Geständnisse bereute. Sie schien zufrieden.
»Ich würde schon gern mit ihm zusammenbleiben. Meine Eltern wären auch begeistert«, fügte sie, die Augenbrauen demonstrativ hochziehend, hinzu. »Aber manchmal denke ich, dass wir uns zu früh gefunden haben, und es sagen sowieso alle, dass solche Beziehungen schon das College nicht überstehen.«
»Das kannst du nicht wissen. Und glaub mir, alle, die euch kennen, denken, dass ihr die Ersten sein werdet, die heiraten.«
Keira lachte. »Ach, echt?«
»Ja klar!«
»Wow.«
»Ihr passt super zusammen, Keira, mach dir keinen Kopf. Es zeigt wahrscheinlich nur, wie sehr er dich liebt.«
Sie lächelte geschmeichelt. »Meinst du wirklich?«
Ganz sicher war ich nicht, denn ich hatte keine Erfahrung, wie viel Eifersucht gesund war. Aber die Tatsache, dass er mit ihr darüber sprechen wollte, erschien mir besser als ein totales Desinteresse an ihrem Verhalten.
»Auf jeden Fall. Guck dir doch andere Paare dieser Schule an, die sind oft so oberflächlich miteinander. Bei euch sieht man, dass es was Besonderes ist. Ihr könnt doch gar nicht ohneeinander, ihr seid doch wie eineiige Zwillinge. Obwohl das manchmal nervt«, fügte ich ehrlicherweise hinzu.
Keira lächelte immer noch und wirkte entspannt. Überraschenderweise nahm sie mir meine Offenheit nicht übel. »Danke, Val.«
»Wofür?«, fragte ich sie blinzelnd.
»Fürs Zuhören.« Dankbar sah sie mich an. »Du bist anders als die meisten hier.« Sie schaffte es, mich verlegen zu machen.
Still aßen wir den Rest unseres Sandwiches. Keira schaute nachdenklich auf die immer größer werdenden Pfützen auf dem gesamten Gelände. Ich folgte ihrem Blick. »Es hört heute wohl gar nicht mehr auf«, jammerte sie und betrachtete betrübt eine unter Einfluss der feuchten Witterung zum Korkenzieher mutierte Haarsträhne, die sie zwischen den Fingerspitzen hin und her drehte. Dann riss uns die Schulglocke aus unseren Gedanken und wir griffen unsere Rucksäcke. »Also, bis dann«, verabschiedete Keira sich freundlich und ging beschwingt in Richtung Westflügel, nicht ohne dem Mädchen von vorhin noch einen abschätzenden Blick zuzuwerfen. Die wühlte jedoch übereifrig in ihrer Schultasche, um nicht aufblicken zu müssen.
In Physik saß ich gewöhnlich neben Ben. Gespannt betrat ich den Raum. Er war schon da und hantierte mit zwei Magneten herum, zwischen die er ein Buch eingeklemmt hatte. Es nur an dem oberen Magneten haltend, schwang er das Lehrbuch immer wilder hin und her. Ich schob mich auf den Sitz neben ihm und ließ den Rucksack neben mich auf den Boden fallen. »Hey«, begrüßte ich ihn. »Alles wieder okay?«
»Denke schon«, antwortete er und das Buch plumpste mit einem lauten Knall auf die hölzerne Platte des Arbeitstisches. Er grinste entschuldigend, als ich zusammenzuckte. Derartige Geräusche machten mich in letzter Zeit nervös.
»Was machst du da?« Ich hielt ein bisschen mehr Abstand als sonst, für den Fall, dass er doch noch ansteckend war. Ich fand es entsetzlich, Schnupfen zu haben.
»Ich praktiziere die hohe Kunst der Wissenschaft.« Er presste die Lippen zu einem breiten Grinsen zusammen und hob die Brauen.
»Aha.« Stirnrunzelnd beobachtete ich, wie er nun einen der Magneten auf ein dünneres Buch setzte und den anderen als direkten Gegenpol unter die Tischplatte führte. Dann schob er seinen Arm hin und her und das Buch rutschte wie von Geisterhand bewegt in kreisenden Bewegungen über die glatte Tischplatte. »Witzig, he?«
»Hm.«
Er ließ sich von meiner mäßigen Begeisterung nicht entmutigen und rührte weiter konzentriert mit seinem Arm unter dem Tisch herum. »Ich hab dich vorhin mit Keira gesehen.«
»Ach ja?«
»Ja, aber ich wollte nicht stören. Ihr wart so vertieft in euer Gespräch. Darf man erfahren, worum es ging?«, fragte er neugierig.
»Frauenthemen«, antwortete ich.
Er winkte müde ab.
»Aber es ging auch um magnetische Pole«, warf ich ein, bemüht, dem in seinen Augen belanglosen Gespräch mehr Konsistenz zu verleihen.
»Echt?«
Ich lachte. »Ja, aber im übertragenen Sinne.«
Ben verlor sofort wieder das Interesse und zog vorsichtig das Buch über die Tischkannte, bis der untere Magnet zum Vorschein kam und dagegenploppte. Dann nahm er beide ab und führte sie zusammen, wobei es laut klackte, als die Pole aufeinanderschlugen. Euphorisch sah er mich an, als hätte er höchstpersönlich gerade den Magnetismus entdeckt. »Hier, nimm.« Er legte mir die beiden Magneten, die nun fest aneinanderklebten, in die Hand.
»Was soll ich damit?«
»Versuch, sie zu trennen.« Er grinste herausfordernd.
Ich nahm jeweils einen zwischen Daumen und Zeigefinger und begann zu ziehen. »Uhh«, stöhnte ich. Sie bewegten sich kein Stück. Ich probierte es noch mal, bis mein Blut in den Schläfen pochte. Ben kicherte belustigt. »Das gibt’s doch nicht. Mann, sind die stark.« Ich gab auf und legte sie auf den Tisch.
»Du gibst schon auf?«
»Ja.« Es war mir auch zu doof.
Er kicherte immer noch. »Guck«, sagte er und vergewisserte sich meiner Aufmerksamkeit. Jetzt kam die Auflösung. Nun konnte er mit seinem Wissen glänzen. Genervt schaute ich zu, wie er die Magneten mit nicht allzu viel Kraftaufwand aneinander vorbeischob und endlich löste. »Tada«, machte er triumphierend und hielt mir die beiden Teile unter die Nase.
»Toll«, sagte ich mit einem abfälligen Grinsen, ärgerte mich aber schon, dass ich nicht selbst darauf gekommen war. Ich hatte keinerlei Interesse daran, dass meine Schmach noch weiter ausgewalzt wurde, und so wechselte ich eilig das Thema: »Was steht heute eigentlich an? Ich habe irgendwie überhaupt keinen Plan.«
»Prismen, glaub ich.« Er ließ die Magneten wieder laut aufeinanderklatschen und steckte sie in die Tasche seiner dunkelgrünen Windjacke, die hinter ihm über der Lehne hing.
»Oh nein. Nicht gut. Hilfst du mir ein bisschen, falls ich drankomme?«, fragte ich besorgt.
»Na, wann hätte ich das denn mal nicht gemacht?«, kommentierte er meine Bitte gespielt betont von oben herab.
»Danke«, sagte ich ehrlich.
Ich zog mein Physikbuch aus der Tasche und legte es vor mich auf den Tisch. Ohne es zu öffnen, strich ich mit beiden Händen darüber. Ich würde ihn fragen, selbst wenn ich wieder die Verrückte war. »Sag mal, wie entstehen Reflektionen? Doch nur abgeleitet von einem Objekt, oder können die auch durch die Luft entstehen?«
»In der Sahara schon, aber hier bei uns mit derartigen Temperaturen ist eher nicht damit zu rechnen«, witzelte er altklug. »Wieso fragst du?«
»Ich habe in London etwas gesehen, das ich nicht einordnen konnte.«
»Ein geschmackverirrtes Glitzeroutfit von Charlie?« Er hielt sich den Bauch vor Lachen.
»Kannst du nicht mal ernst sein?« Ich war sauer und knuffte ihn ordentlich auf den Oberarm und er tat, als hätte ich ihn damit fast vom Stuhl geschubst. Ärgerlich presste ich meine Lippen zusammen.
»Du siehst furchteinflößend aus«, unkte er, immer noch in vorgetäuschter fallender Haltung mit abwehrend erhobenen Händen.
»Ben!«
»Schon gut. Also, was hast du gesehen?« Er bemühte sich aufgesetzt energisch um Ernsthaftigkeit und hüstelte gekünstelt.
Ich betrachtete eine kurze Weile misstrauisch sein Gesicht und als ich keine Zuckungen um seinen Mund entdeckte, die als ein Indiz für einen erneuten albernen Ausbruch zu werten waren, beschloss ich, ihm die Sache zu berichten. »Es war irgendein Lichtgebilde, etwas Flirrendes in der Luft. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich hab keine Ahnung, woher es kam.«
»So wie der Lichtpunkt auf deinen Fotos?«
»Was?«
»Na, auf den Willamette-Fotos«, erinnerte er mich.
»Oh, stimmt, die hatte ich völlig vergessen.« Daran hatte ich wirklich nicht mehr gedacht und versuchte mich zu erinnern, was genau dort zu sehen gewesen war.
»Hm, interessant, dass du noch mal darauf zurückkommst. Ich hatte die nämlich später noch mal genau unter die Lupe genommen, im wahrsten Sinne des Wortes«, freute er sich über seinen spontan entstandenen Wortwitz. »Es ist irgendwie mehr als ein Lichtpunkt oder eine Reflektion. Wenn man es stark vergrößert, erkennt man eine Form, eine Silhouette, eigentlich wie von einem Menschen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du hast da jemanden rausretuschiert.« Dabei grinste er breit.
Ich hatte atemlos zugehört. Das ging in eine spannende Richtung. Wasser auf meine Mühlen. »Ein Geist?«, fragte ich ehrlich gespannt.
Nun lachte er laut los. »Fragst du mich das im Ernst?«
Beleidigt zog ich eine Grimasse. »Und warum nicht?«, beharrte ich weiter.
»Also wirklich, Valerie. Komm nicht wieder mit deinen Spukgeschichten.«
»Dann erklär es mir«, maulte ich beleidigt.
»Kann ich nicht.«
»Hach«, machte ich triumphierend.
»Das bedeutet doch nicht, dass es keine vernünftige Erklärung gibt. Es ist vielleicht ein Lichteinfall im Objektiv.«
»Mit einer menschlichen Kontur?«
Er zögerte mit der Antwort. »Zufall!«
»Aber sicher bist du nicht«, beharrte ich.
»Val, wenn es so etwas wie Geister gäbe, hätte man auch einen wissenschaftlichen Beweis.«
»Und die ganzen Zeitungsmeldungen?«
»Wahnvorstellungen.«
»Bei mehreren Leuten gleichzeitig?«
»Massenhysterie.«
Wir schleuderten uns die Worte um die Ohren wie in einem Gefecht. Ich merkte, dass ich bei ihm so nicht weiterkam.
»Ich weiß, dass du immer noch davon träumst, einem Geist zu begegnen, das hast du seit deiner Kindheit nicht abgelegt. Aber mach dir nicht allzu große Hoffnungen. Eher begegnest du einem Alien.«
Es zuckte durch meinen Körper und ich stemmte die Arme auf meinen Sitz, als ich ihn mit aufgerissenen Augen erwartungsvoll ansah. Das war auch eine Möglichkeit. Hoffnung keimte in mir auf, dass Ben einer derartigen Spur vielleicht bereitwilliger nachgehen würde. Das war ja schon eher sein Thema.
Aber er sah mich nur mitleidig an und stöhnte. »Oh bitte.«
Seine herablassende Art ärgerte mich. Doch er lenkte sofort ein, als er es erkannte. »Aber wenn du mehr rausfindest, lass es mich wissen und überzeug mich vom Gegenteil.«
Er war also nicht bereit, mein Komplize in dieser Angelegenheit zu werden. Na schön. Ich werde auch selbst dahinterkommen, sollte etwas Ähnliches wieder passieren, dachte ich trotzig. »Darauf kannst du wetten«, raunte ich ihm pampig zu.
Professor Newman betrat würdevoll den Raum und begrüßte uns mit den Worten: »Herrschaften, ich hoffe, Sie sind gut vorbereitet. Zu den hinreichend behandelten Themen Interferenz, Doppelspalt und optisches Gitter schreiben wir heute einen nicht angekündigten Test zur Überprüfung Ihrer Leistungen.«
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.