Kitabı oku: «Und die Tage lächeln wieder»

Yazı tipi:

Susanne Zeitz

ist 1960 in Schwäbisch Hall geboren.

Sie ist in Stuttgart aufgewachsen und lebt seit 1997 mit ihrem Mann und ihrer Familie in Konstanz am Bodensee.

Ausbildung zur Kunst, Mal- und Gestaltungstherapeutin und Burnout- und Stresspräventionstrainerin.

Sie malt und fotografiert, schreibt Romane, Gedichte und märchenhafte Erzählungen für Erwachsene.

Susanne Zeitz

UND DIE TAGE

LÄCHELN WIEDER

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelbild © Susanne Zeitz

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Kapitel 1

Das Flugzeug hat seine Flughöhe erreicht.

Ich befreie mich von meinem Sicherheitsgurt, stelle die Sitzlehne ein wenig in Schräglage und richte mich, soweit das in dieser engen Stuhlreihe möglich ist, auf meinem Platz bequem ein. Das Angebot der Stewardess, etwas zu essen, lehne ich ab, doch die Tasse Kaffee nehme ich gerne.

Einen kleinen Muntermacher für die lange Nacht, die vor mir liegt, kann ich gebrauchen, denn ich möchte wach bleiben, um noch einmal über die Ereignisse nachzudenken, die hinter mir liegen. Ereignisse, die meine bis dahin heile Welt in Unordnung gebracht haben, die mich plötzlich Dinge hinterfragen lassen, die für mich bisher als unantastbar und wahr galten.

Es erscheint mir immer noch wie ein Traum. Ein Traum, aus dem ich gleich erwache, und alles wieder so ist, wie es immer war. Aber kann ich überhaupt jemals wieder in dieses alte Leben zurückkehren? Werde ich bei meiner Rückkehr dieselbe sein?

Mich fröstelt. Ich hülle mich fester in meine Strickjacke, schlinge meinen Wollschal enger um den Hals und trinke vorsichtig einen Schluck von dem dunklen Gebräu aus der weißen Plastiktasse. Lauwarm und bitter rinnt es meine Kehle hinunter, fast eine Beleidigung für die Geschmacksnerven, aber es tut trotzdem gut.

Für einen Moment gelingt es mir, meine Aufmerksamkeit von mir weg auf meine Umgebung zu lenken.

Stimmengemurmel, leises Lachen, das klappernde Geräusch des Servierwagens und die helle, sympathische Stimme der Stewardess mischen sich mit dem sonoren Brummen der Flugzeugmotoren.

Mein Sitznachbar bemüht sich tapfer um sein Essen. Es scheint eine Art Hackbraten in dunkler Sauce zu sein. Als er meinen Blick bemerkt, zieht er eine Grimasse.

„Es schmeckt, wie es aussieht. Doch es macht wenigstens satt“, meint er und lächelt unzählige kleine Falten in sein Gesicht, die sich um seine Bartstoppeln legen.

Ich lächle zurück, drehe mich aber gleich wieder weg und schaue aus dem kleinen Fenster. Ich will jetzt keinen Smalltalk, möchte nichts aus einem fremden Leben erfahren und keine neue Bekanntschaft machen. Clemens drängt sich in meine Gedanken. Ich vertreibe ihn daraus. Es tut zu weh.

Weit unter mir funkeln die Lichter einzelner Häuser und Städte wie Miniaturgebilde, klein und bedeutungslos.

Stimmt es wirklich, dass über den Wolken alles leicht und grenzenlos erscheint?

Ich liebe den Augenblick des Startens, wenn das Flugzeug mit großer Geschwindigkeit über die Rollbahn rast, um sich dann leicht, fast wie von selbst, in die Luft zu erheben. Ich genieße diesen Augenblick, denn in ihm fühle ich die Freiheit, alles hinter mir oder unter mir zurücklassen zu können. Aber dieser Moment sollte länger dauern. Viel zu schnell macht er jedes Mal dem gleichmäßigen, für mich eher langweiligen Dahingleiten Platz und damit dem Zurückkehren der Gedanken um Zurückgelassenes.

Ohne dass ich es will, zieht mich die Erinnerung zu den Ereignissen der vergangenen drei Monate.

Kapitel 2

Es begann an einem Oktobertag, der sich wie aus dem Bilderbuch präsentierte. Blauer Himmel, leise Nebelschwaden, die sich über den schon bunt gefärbten Kronen der Laubbäume auflösten und einer wärmenden Sonne Platz machten.

Ich war früh aufgestanden, um den freien Tag in seiner gesamten Länge nutzen zu können. Seelisch und körperlich fühlte ich mich im Gleichgewicht, war mit mir und meinem Leben rundherum zufrieden.

Ich wollte gerade meine Wohnung verlassen, um zu meiner alltäglichen Laufrunde im nahen Wald aufzubrechen, als das Telefon klingelte. Ich ging ins Wohnzimmer zurück.

„Alexandra, gut, dass du da bist“, tönte mir Konrads tiefe, samtige Stimme entgegen.

„Konrad, was gibt‘s denn so früh? Ich bin auf dem Weg in den Wald.“

„Du musst unbedingt heute noch bei mir im Buchladen vorbeikommen. Es ist dringend!“

„Um was geht es denn? Reicht es nicht am Montag? Ich möchte heute einfach in Ruhe den Tag zuhause verbringen“, murrte ich in den Hörer.

„Nein. Ich muss dir etwas zeigen. Komm bitte vorbei.“

Seine Stimme vibrierte und es schwang etwas mit, das ich irgendwie nicht richtig einordnen konnte. Es musste schon etwas Außergewöhnliches passiert sein, wenn mein lieber, alter Freund so aufgeregt war.

„Ich bin so gegen elf Uhr bei dir“, versprach ich ihm.

Seine Erleichterung war durch den Hörer zu spüren.

Ich legte das Telefon auf den Wohnzimmertisch, zog meine Laufschuhe an und verließ die Wohnung.

Das Haus, in dem ich seit zwölf Jahren wohne, liegt direkt am Waldrand. Schon das war einer der Gründe, warum ich mich damals für diese Wohnung entschied, denn ich liebe meine morgendlichen Laufrunden in der freien Natur. Außerdem genieße ich es, am Stadtrand zu wohnen. Eine kleine Gemeinschaft von Häusern mit einem gemütlichen Café, einem Naturkostladen, einem Bäcker und einem mittelgroßen Supermarkt.

Das brauche ich als Gegenstück zu meiner Arbeit in der großen Anwaltskanzlei meines Vaters, wo ich als seine Assistentin und Mädchen für alles die Termine und Abläufe manage.

Ich liebe meine Arbeit und das Gefühl der Unentbehrlichkeit, das mir mein Vater, mein Verlobter Clemens und die anderen Anwälte vermitteln, aber ich genieße auch das Eingeschlafene dieses kleinen Ortes, wie Clemens immer wieder stichelt.

Clemens liebt die Lebendigkeit des Lebens. Es muss ständig etwas los sein, unternommen werden. Im Beruf, sowie in seiner Freizeit brauche er den ultimativen Kick, wie er es auf seine humorvolle Art ausdrückt.

Seine Penthaus Wohnung liegt daher mitten in der Stadt. Er hat einen fantastischen Blick auf den nahen Stadtgarten und einen kurzen Weg in die Kanzlei.

Erst gestern hatten wir wieder unser übliches Streitgespräch.

„Schatz, ich verstehe nicht, warum du nicht endlich zu mir ziehst. Ich habe sechs große Zimmer, von denen du dir ein eigenes einrichten könntest. Du hättest einen kürzeren Weg zur Arbeit und wir könnten täglich zusammen sein“, meinte er und kniff ärgerlich die Lippen zusammen, als ich mich wie immer nicht festlegen wollte und die Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt verschob.

„Ich weiß nicht, warum wir nicht endlich heiraten, schließlich sind wir schon so lange zusammen“, stellte er ärgerlich in den Raum. Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. Obwohl wir verlobt sind, kann ich mir eine Ehe mit ihm zurzeit noch nicht vorstellen.

Kapitel 3

Ich überquerte die Straße und bog auf den Laufpfad ein. Es war noch früh, so dass ich den Wald fast für mich allein hatte. Eine Joggerin, die sich bereits auf dem Heimweg befand, schenkte mir ein flüchtiges Lächeln aus einem verschwitzten, geröteten Gesicht und ein größerer Hund mit leichtem, federndem Gang lief an mir vorbei, ohne mich jedoch im Geringsten zu beachten. Von Herrchen oder Frauchen keine Spur.

Feuchtigkeit lag in der Luft und es roch nach modrigem Laub und nasser Erde. Die Sonnenstrahlen bahnten sich bereits ihren Weg durch die rot und gelb gefärbten Baumwipfel und beleuchteten meinen Weg.

Eine Amsel auf Futtersuche saß am Wegrand und schleuderte unwirsch die Blätter zur Seite. Wahrscheinlich vermutete sie darunter besondere Leckerbissen. Ein paar Bäume weiter hatten sich Krähen eingefunden, die laut um die Wette krächzten.

Ich kam in ein lockeres Laufen und genoss es, den Waldboden unter meinen Schuhen zu spüren. Weich und nachgebend.

Ich atmete tief die frische Luft ein und hing meinen Gedanken nach. Das Telefongespräch kam mir wieder in den Sinn. Komisch, so aufgeregt und innerlich berührt hatte ich Konrad selten, eigentlich noch nie erlebt.

Konrad ist mein Patenonkel und ein Jugendfreund meiner Mutter. Ich kann mich noch gut an seine Besuche erinnern. Sobald er mit uns im Wohnzimmer saß, griff er jedes Mal betont langsam in seine große Umhängetasche und holte ein Buch heraus, aus dem er Mutter und mir vorlas. Meistens waren es Märchen oder andere spannende Kindergeschichten. Wir liebten diese Stunde mit ihm. An die Anwesenheit meines Vaters kann ich mich allerdings nicht erinnern. War er zuhause, wenn Konrad vorbeikam, zog er sich meistens in sein Arbeitszimmer zurück. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann kann ich mich nicht daran erinnern, die beiden Männer gemeinsam erlebt zu haben.

Nach dem tragischen Tod meiner Mutter ließ sich Konrad nicht mehr in unserer Villa blicken. Warum eigentlich? Auf meine Frage, warum Konrad uns nicht mehr besuchte, zuckte mein Vater lediglich mit den Schultern und meinte, das ginge mich nichts an.

Auch von Konrad erfuhr ich nichts Näheres. Mein Vater war für ihn mit einem Mal ein Tabuthema. Wenn wir uns trafen, sprachen wir nicht über ihn.

Konrad war mein Freund und ich konnte mit allen großen und kleinen Kindersorgen und Nöten zu ihm kommen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Er ist für mich wie der Vater, den ich nie hatte, liebevoll, ewig um mein Wohl besorgt und an allem interessiert, was in meinem Leben so passiert.

Er war es auch, der mir die Welt der Bücher erschlossen hat. Als Kind schenkte er mir bunte Bilderbücher, später Märchenbücher, spannende Jugendbücher, heute sind es Bestseller aus aller Welt.

Zwischen uns besteht seit all den Jahren ein kleines, intimes Ritual. Nach jedem gelesenen Buch treffen wir uns im Hinterzimmer seines Buchladens, trinken aus bauchigen, himmelblauen Steinguttassen Tee, essen Ingwerkekse und tauschen uns über das gelesene Buch aus.

Einen Brauch, den ich mir aus meinem Leben nicht mehr wegdenken kann und will.

Clemens wollte mich am Anfang unserer Beziehung begleiten, doch so sehr ich ihn auch liebe, diese Treffen gehören einzig Konrad und mir.

Clemens ist seitdem eifersüchtig auf Konrad und wird in seiner ablehnenden Haltung von meinem Vater unterstützt. Es tut mir weh, dass sich ausgerechnet die beiden Menschen, die ich am meisten liebe, nicht verstehen. Obwohl sich Konrad nicht negativ über Clemens äußert, spüre ich, dass er ihn nicht mag. In den wenigen Momenten, in denen sie sich begegnen, geht er höflich mit ihm um, doch ich spüre seine Reserviertheit und sein Misstrauen.

Kapitel 4

Ich schreckte aus meinen Gedanken, denn ich wäre beinahe über einen Ast gefallen, der quer über dem Weg lag. Wahrscheinlich hatte ihn der Sturm der vergangenen Nacht abgerissen und hierher geschleudert. Ich musste mich besser auf meinen Lauf konzentrieren. Was auch immer mit Konrad los war, ich würde es später erfahren.

Nach einer halben Stunde betrat ich wieder meine Wohnung. Rasch ging ich unter die Dusche, dann schlüpfte ich in meine Lieblingsjeans, zog einen roten Baumwollpulli über und wickelte einen blaugemusterten Schal um den Hals. Ein bisschen getönten Puder, Rouge und Wimperntusche. Fertig.

Ich betrachtete mich im großen Flurspiegel. Eine zierliche Person mit halblanger, schwarzer Ponyfrisur blickte mir zufrieden aus braunen Augen entgegen. Ich setzte meine goldene Brille auf und schenkte meinem Spiegelbild ein mildes Lächeln. Ich war zufrieden mit der Frau, die mir zurücklächelte. Dass ich im Januar meinen fünfunddreißigsten Geburtstag feiern würde, sah man mir nicht an.

Mit Schwung drehte ich mich vom Spiegel weg und ging in die Küche, um mir ein kleines Frühstück zu machen. Ich stellte eine Schale voller Müsli und einen Becher mit grünem Tee auf meinen Esstisch, zündete eine Kerze an und setzte mich auf die Eckbank.

Jedes Mal, wenn ich hier sitze, fühle ich mich meiner Mutter sehr nahe. Schon als Kind liebte ich es, mich in der Küche aufzuhalten. Es war so heimelig, meiner Mutter beim Kochen zuzuschauen, oder mit ihr am Tisch zu sitzen und zu warten, bis das herrlich duftende Brot so weit war, aus dem Ofen genommen zu werden.

Sie trank meistens Kaffee und für mich gab es heißen Kakao mit einem Marmeladenbrötchen. Sie erkundigte sich nach meinem Schulalltag, ließ mich von meinen Erlebnissen berichten und nahm sich meiner großen und kleinen Sorgen an. Als einziges Kind meiner Eltern, genoss ich ihre gesamte Aufmerksamkeit. Sie war Mutter, aber auch ältere Schwester und Freundin für mich.

Die schönsten und innigsten Stunden jedoch waren für mich unsere gemeinsamen Nachmittage, die wir in ihrem Schreibzimmer verbrachten. Dort erzählte sie mir die spannendsten Geschichten und Märchen, die sie sich ausgedacht hatte. Gemeinsam spannen wir ihre Geschichten weiter, überlegten uns, wie wir die böse Hexe bestrafen könnten, was die dumme Gans erleben müsste, damit sie klüger würde und halfen dem kleinen Jungen Pips, seine echte Mama wiederzufinden. Hatten wir unsere Märchen beendet, eilte meine Mutter an ihren Schreibtisch und schrieb die Geschichten nieder, dazu malte sie kleine, lustige Aquarellbilder.

Sie war eine gefragte Kinderbuchautorin und ich platzte beinahe jedes Mal vor Stolz, wenn ihr neuestes Buch in den Regalen der Buchläden ausgestellt wurde, denn ein bisschen waren es ja auch meine Geschichten, die mit einem Mal in stolzen, schwarzen Lettern auf weißen Seiten zu lesen waren. Gewidmet waren sie mir. Für meine geliebte Tochter Lexa stand jeweils auf der ersten Seite.

Ich erinnere mich noch, als sich mein Vater einmal darüber beschwerte, dass ihm keines der Bücher gewidmet sei. Sein Mund lächelte, aber seine Augen blickten kühl.

An ihr Gesicht, ihren Geruch und andere Eigenheiten kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Mit jedem Jahr löst sich ihr Bild immer mehr im Nebel der Vergangenheit auf. Die wenigen Fotos, die ich anfangs immer wieder betrachtete, halfen mir nicht, sie lebendig zu erhalten. Doch in ihren Märchenbüchern ist sie mir bis heute nahe. Sobald ich eines der Bücher aufschlage, kann ich ihre Stimme wieder hören. Leise, mit einem kleinen Lachen darin.

Als ich acht Jahre alt war, verschwand sie plötzlich aus meinem Leben. Abgestürzt irgendwo in den Anden. Eine steile Felswand in einem undurchdringlichen Gebiet. Ihr Leichnam wurde nie gefunden.

Noch heute spüre ich das Entsetzen und die Ohnmacht, die von mir Besitz ergriffen, als mein Vater von dieser unglückseligen Reise allein zurückkam.

Ein trauriger, gebrochener Witwer, den ich mit meiner kindlichen Trauer und meiner immer größer werdenden Einsamkeit nicht belästigen durfte. Meine Mutter wurde nicht mehr erwähnt und über das Unglück nicht gesprochen. Fragen waren nicht erlaubt.

Ich weiß bis heute nicht, was damals eigentlich geschehen ist.

Kurz darauf zog Nadine bei uns ein. Eine Freundin meines Vaters, die eher die Rolle einer älteren Schwester hätte einnehmen können, als die einer Ersatzmutter, zudem konnte sie mit einem kleinen, trauernden Mädchen, wie ich es war, nichts anfangen. Sie genoss es, die große Dame an der Seite meines Vaters zu spielen. Sehr lange dauerte ihre Anwesenheit allerdings nicht.

Sie war der Beginn einer Reihe immer jünger werdender Tanten. Für mich endete zu diesem Zeitpunkt meine Kindheit und wäre mein Onkel Konrad nicht für mich da gewesen, hätte ich eine einsame, freudlose Zeit erlebt.

So aber führte mich mein Weg nach der Schule immer zu ihm in die Buchhandlung, wo ich mich in die Kinderecke zurückzog, in den neuesten Büchern schmökerte, um mich mit meinen Buchhelden in zahllose Abenteuer zu stürzen. Am liebsten aber blätterte ich in den Märchenbüchern meiner Mutter. In ihnen war sie mir nahe.

Den Tanten war mein Wegbleiben sehr recht, doch meinem Vater waren meine Besuche bei Konrad ein Dorn im Auge. So dauerte es nicht lange, dass er mich in ein Internat abschob.

Ein trauriges Kapitel in meinem Leben.

Kapitel 5

Ich nahm einen großen Schluck Tee aus meiner gelben Tasse. Ein Blick auf die Uhr. Ich musste mich beeilen, wenn ich pünktlich bei Konrad sein wollte.

Mit der Straßenbahn brauchte ich fast vierzig Minuten bis in die Innenstadt. Ich eilte die Hauptgeschäftsstraße entlang, drängelte mich zwischen den vielen Einkaufenden hindurch, denn ich wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause zurück.

Da die Sonne nun den Morgennebel endgültig durchbrochen hatte, waren alle Außentische der Cafés und Restaurants besetzt. Der übliche Samstagstrubel in einer Großstadt.

Ich bog in eine ruhigere Seitengasse ein. Das Haus meines Onkels liegt ein wenig nach hinten versetzt. Zwei Stockwerke, oben seine Wohnung und im Erdgeschoss sein Buchladen.

Eine alte, blau gestrichene Holztür zwischen zwei großen, ansprechend dekorierten Schaufenstern, die ich prüfend betrachtete.

„Du hast sie dieses Mal wieder sehr schön eingerichtet. Die Leute fühlen sich angesprochen, viele haben sich lobend darüber geäußert, vor allem die Kinder“, ertönte Konrads Stimme, während er die Tür öffnete.

Wir blieben einen Moment vor den Schaufenstern stehen. Sie waren mir tatsächlich gut gelungen. Bücher im Herbst war das Motto und entsprechend hatte ich die Fenster mit bunten Stoffblättern, kleinen Igeln und Eichhörnchen, die meine Freundin Claudia in ihrer Töpferei angefertigt hatte, dekoriert. Ich nickte meinem Onkel zufrieden zu.

Vor ihm betrat ich den Laden und wie immer spürte ich, wie der Alltagsstress von mir abfiel.

Ich liebe diesen Buchladen, in dem die Geheimnisse vieler Romanhelden und Heldinnen, viele fremde Leben, Schicksale und Geschehnisse in den Regalen auf ihre ganz speziellen Käufer warten.

Der Laden ist nicht übermäßig groß, doch übersichtlich eingerichtet. An den Wänden entlang auf den Regalen die gut sortierten Bücher. Klassiker, Poesie, Romane, Krimis. Eine Ecke ist liebevoll für die Kinder eingerichtet. Kleine Tische und Stühle laden die Kleinen ein, sich in die Welt der bunten, bebilderten Bücher zu begeben.

Viele Werke stammen von unbekannten Autoren aus der Umgebung. Konrad hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Schriftsteller zu fördern.

So ist sein Buchladen etwas Besonderes. Jeden Donnerstagabend finden Lesungen statt. Ein kleiner, intimer Kreis, der sich zwischen den Büchern um den Schriftsteller formiert und gespannt zuhört.

Ich liebe diese Abende, die mich als Zuhörende in geheimnisvolle und fremde Welten und Schicksale entführen.

Wärme, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit. Schade nur, dass ich diese Vorliebe mit Clemens nicht teilen kann. Er macht sich nichts aus Büchern. Stillsitzen und sich volllabern zu lassen, wie er es ausdrückt, ist nicht sein Ding.

Konrad gehört zu der alten, ich möchte fast behaupten, aussterbenden Gattung der Buchhändler, der zu spüren scheint, welches Buch zu welchem Käufer passt.

Ich habe immer wieder erlebt, wie Kunden nach einiger Zeit wiederkamen und sich bei ihm bedankten. Er hätte ihnen genau das richtige Buch verkauft, genau dieses hätte ihnen geholfen oder gutgetan.

Von jeder Buchmesse bringt er wahre Schätze mit. Romane aus aller Welt. Das Geschäft läuft sehr gut, er hat seine Stammkunden, die in all den Jahren zu guten Freunden geworden sind.

Wer würde sich denn um meine Kunden kümmern, wenn ich nicht mehr da wäre, meint er jedes Mal, wenn er auf die Rente angesprochen wird. Ich kann mir Konrad ohne seinen Laden auch nicht vorstellen. Er ersetzt ihm die Familie, die er nicht hat und er ist sein Leben.

„Konrad, was gibt es so Wichtiges, dass du mich ausgerechnet am Samstag hierher beorderst?“, fragte ich ihn nun.

„Ich habe ein Buch für dich. Das musst du unbedingt lesen!“

„Ach Konrad, hätte das denn nicht bis Montag Zeit gehabt? Wegen einem Buch!“ Ich schüttelte ein bisschen unwillig den Kopf. „Ich habe den Roman, den du mir letzte Woche mitgegeben hast, noch nicht einmal angefangen.“

Konrad brummelte etwas in seinen grauen Bart, ließ mich am Regal der Krimis stehen und eilte nach hinten in sein kleines Büro. Ein mittlerweile leicht gebeugter und übergewichtiger Mann mit dunkelbrauner Cordhose, braunkariertem Hemd und beigefarbenem Sakko.

Als er nach ein paar Minuten wiederkam, hielt er ein dickes, in Leinen gebundenes Buch in der Hand und reichte es mir.

„Bitte lies es und fang heute noch damit an. Es ist wichtig! Versprich es mir!“ Er sprach mit Bestimmtheit, doch es lag ein fast flehender, bittender Ausdruck in seinen Augen. Erstaunt blickte ich ihn an.

„Was ist denn so Besonderes an dem Buch? Willst du es mir nicht sagen?“

Bevor er antworten konnte, öffnete sich, unter lautem Bimmeln der kleinen Messingglöckchen, die Ladentür und eine Kundin steuerte direkt auf ihn zu.

„Konrad, ich brauche Ihre Hilfe. Ein besonderes Buch für den fünfzigsten Geburtstag meiner Freundin.“

Mein Onkel warf mir einen langen Blick zu, dann wendete er sich der Kundin zu.

„Ich habe eine schöne Ausgabe mit Herbstgedichten hereinbekommen. Die zeige ich Ihnen.“ Mit diesen Worten führte er die Kundin in den vorderen Teil des Ladens.

Er ist glücklich in seinem Beruf. Bin ich das eigentlich auch? Komisch, dass gerade jetzt diese Frage auftauchte. Ich bin zufrieden und mache meine Arbeit gerne, beruhigte ich mich selbst, denn mein Herz fing an, unruhig zu schlagen.

Um mich abzulenken, schaute ich mir nun das Buch näher an. Fest eingeschweißt in einer Plastikhülle, wog es schwer in meiner Hand. Sicher so um die vierhundert Seiten, schätzte ich.

Der Titel „Das verleugnete Leben“ sprach mich nicht sehr an. Das Cover, in Blau gehalten, zeigte in der Ferne eine Frauengestalt von hinten. Hätte ich es nicht besser gewusst, dann hätte ich es als einen Kitschroman abgetan. Ich drehte es auf die Rückseite und las die Zusammenfassung. Ein autobiographischer Roman einer Isabella Vargas. Noch nie gehört den Namen. Was sollte denn daran so wichtig sein, dass ich extra heute hierherkommen musste, fragte ich mich ein wenig unwillig und blickte auf meine Uhr. Der Tag begann sich mir langsam in seiner eigenen Dynamik zu entziehen.

Unwillig legte ich das Buch neben mich auf einen Tisch mit Kinderbüchern. Ich hatte keine Lust, die Geschichte dieser peruanischen Frau zu lesen. Überhaupt wollte ich von Peru nichts wissen. Dieses Land war schuld am Tod meiner Mutter und an der Kühle und Distanziertheit meines Vaters.

Die Türglöckchen bimmelten. Kurz darauf kam Konrad zu mir. Mit schnellem Blick sah er das Buch auf dem Tisch liegen, nahm es und hielt es mir regelrecht vor die Nase.

„Bitte lies es!“ Er betonte nun Wort für Wort. Ich blickte ihn an und erschrak, denn mit einem Mal lag solch ein großer Schmerz auf seinem Gesicht, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte.

„Ja, wenn dir so viel daran liegt. Aber möchtest du mir nicht bei einer Tasse Tee erzählen, was dich gerade bei diesem Buch so sehr berührt?“, fragte ich und strich ihm sanft über den Arm. Er schüttelte den Kopf.

Die Türglöckchen bimmelten erneut. „Lies es und lass es auf dich wirken. Es ist dein Buch. Es wurde für dich geschrieben.“ Mit diesen Worten eilte er wieder in den vorderen Bereich des Ladens. Ich hörte seine sanfte Stimme, die den Kunden nach seinen Wünschen fragte.

Mein Herz klopfte unruhig. Was hatte dieser Roman mit mir zu tun? Warum war das mein Buch? Wieso sollte eine peruanische Frau ein Buch für mich schreiben? Er sprach in Rätseln und das machte mir das Buch nicht gerade sympathischer.

Doch ich ging in sein Büro, nahm ein kleines Messer und ritzte vorsichtig die Plastikhülle an einer Seite ein, riss sie auf und befreite das Buch daraus.

Ein Buch beginnt erst dann zu leben, wenn man anfängt, darin zu lesen, sich dafür zu interessieren, sich mit den Figuren verbündet oder sich gar mit ihnen identifiziert. Zuvor aber muss die Plastikhülle entfernt werden. Bis dahin sind die Figuren eingesperrt, so hatte es Konrad mir als Kind erklärt und so ist es für mich heute noch.

Und so geschah es auch dieses Mal wieder. Ich spürte das Buch in meiner Hand lebendig werden und mit mir in Verbindung treten. Es weckte meine Neugierde.

Ich steckte es in meinen Rucksack und verließ das Büro, durchquerte den Laden und ging zur Tür. Konrad, der sich immer noch in einem Beratungsgespräch befand, winkte mir kurz zu.

„Bitte ruf mich an. Unbedingt!“ Er schenkte mir noch ein kurzes Lächeln und wandte sich wieder seinem Kunden zu.