Kitabı oku: «Adresse unbekannt», sayfa 2
Soleils Haus
Astrid begann ihre Freunde anzurufen, um herauszufinden, ob uns jemand für ein paar Nächte aufnehmen würde.
Eines der Dinge, die mich mein S.H.I.T. im Laufe der Jahre gelehrt hat, ist, dass meine Mom ein echtes Talent hat, Freunde zu finden, und ein noch größeres, sie zu verlieren. Ich war also nicht superüberrascht, als Ingrid Nein sagte. Oder als Karen auflegte.
Astrid dachte einen Moment lang nach. Dann sagte sie: »Ich versuch’s bei Soleil.«
Soleil war eine von Astrids Schülerinnen im Malereikurs bei Emily Carr, und ebenfalls Mutter. Sie hatten sich schnell angefreundet. Vor zwei Jahren dann hatten sie sich furchtbar gestritten.
Ich hörte alles von meinem Zimmer aus. Es fing mit einer Feier an, denn Soleil hatte wieder ein Bild verkauft, dieses Mal zum Rekordpreis. Aber nachdem sie die zweite Flasche Wein leergetrunken hatten, fing Astrid an, über die Mittelmäßigkeit der Masse zu reden und dass sie nicht verstehen konnte, wie solch langweiliger, nichtssagender Kram wie der von Soleil sich verkaufte, während ihre überragenden abstrakten Bilder es nicht taten. Soleil verließ in Tränen aufgelöst das Haus und die beiden redeten kein Wort mehr miteinander.
Bis jetzt.
»Sie meint, wir können eine Weile bei ihr bleiben«, sagte Astrid, als sie aufgelegt hatte.
Sie sah ebenso überrascht aus wie ich.
Wir packten alles in den Minibus und fuhren zu Soleils neuem Zuhause nahe der Main Street und King Edward Street. Sie wartete in der Einfahrt eines großen, modernen Hauses auf uns. Astrid pfiff leise. »Da ist wohl jemand aufgestiegen.«
Soleil lächelte, als sie mich sah. Sie ist groß und hat breite Schultern und ein freundliches Gesicht. »Felix, du bist so groß geworden.« Dann umarmte sie halbherzig meine Mom. »Astrid. Wie geht es dir? Was ist passiert?«
»Kurzfristiger Rauswurf durch einen Drecksack von Vermieter aufgrund von Renovierungsarbeiten.« Fast konnte ich nicht anders, als sie dafür zu bewundern, wie leicht ihr die Lügen über die Lippen kamen.
Soleil half uns, alles in einen hellen, geräumigen Keller zu tragen. An einer Wand hing ein Gemälde mit gelben Rosen.
»Daran erinnere ich mich«, sagte Astrid. »Das hast du bei Emily Carr gemalt.«
»Und du hast gesagt, es sei ›in Bezug auf die Technik in Ordnung, aber emotional tot‹. Du fandest, ich würde mein Potenzial nicht ausschöpfen.«
Astrids Schweigen erfüllte das Zimmer.
Soleils Gesicht wurde leuchtend rot. »Meine Rosenbilder sind meine Bestseller. Ich komme mit den Bestellungen fast nicht nach.«
Mein S.H.I.T. sagte mir, dass wir uns auf gefährlichem Terrain bewegten. »Magst du mal meine Rennmaus streicheln –«, fragte ich, aber Astrid fing an zu reden, bevor Soleil antworten konnte.
»Ich freu mich für dich, Soleil, wirklich.« Erleichtert atmete ich auf. Bis sie hinzufügte: »Deine Arbeiten sind perfekt für Bürofoyers und Besprechungsräume.«
O Mann.
Soleil verschränkte die Arme fest vor der Brust. »Arpads Eltern kommen Ende der Woche. Bis dahin könnt ihr aber gern hierbleiben.«
»Das hast du bisher nicht erwähnt«, sagte Astrid.
»Ich erwähne es jetzt«, sagte Soleil, den Blick unverwandt auf die gelben Rosen gerichtet.
Soleil und ihre Familie hatten am Abend schon etwas vor, also liefen Astrid und ich rüber zu Helens Grill und bestellten das Frühstücksangebot zum Abendessen. Ich hatte Angst. Wenn man kein Zuhause hat, kann man schon mal Angst kriegen.
Die Kellnerin brachte unsere Teller. »Wieso schmeckt Frühstück immer abends besser?«, fragte Astrid.
»Ein wissenschaftliches Mysterium.«
Wir aßen schweigend. Dann sagte Astrid: »Ich habe eine witzige Idee.«
Den Mund voller Rührei guckte ich sie an.
»Wir wohnen im Bus. Nur ein paar Wochen, bis ich uns was anderes finde. Denk darüber nach, Felix. Das wird der ultimative Sommerurlaub. Freiheit, Abenteuer … Unterwegs von Jack Kerouac war mein Lieblingsbuch, als ich neunzehn war. Das wird der Hammer.«
Ich dachte nach. Ich war noch nie über Victoria hinausgekommen; wir hatten mit der Klasse die Parlamentsgebäude der Provinzhauptstadt besucht, als ich zehn war. Marsha hatte mich im Bus an den Haaren gezogen, auf der Hinfahrt und der Rückfahrt. »Können wir wegfahren? Durch British Columbia? Oder vielleicht bis zu den Rockies?«
»Na klar.«
»Können wir uns das leisten?«
»Für einen Monat, ja. Ich habe ein bisschen Erspartes.«
»Wenn du Erspartes hast, wieso konnten wir dann die Miete nicht bezahlen?«
Astrid schob sich einen Streifen gebratenen Speck in den Mund. »Der Vermieter hat uns ausgenommen. Wie oft habe ich ihn gefragt, ob er Sachen in Ordnung bringen könnte, die nie repariert wurden … Er schuldet uns ein paar Monate mietfreies Wohnen für den ganzen Mist, den wir aushalten mussten.«
»Oh.«
»Also, was sagst du? Ultimativer Sommerurlaub?«
Ich war nicht überzeugt. Aber ich wollte kein Spielverderber sein. »Schätze schon. Klar.« Wir klatschten ab und besiegelten so die Vereinbarung.
Und damit komme ich zu Anfang August.
Zu dem Tag, an dem wir in einen Bus einzogen.

AUGUST

Der Volkswagen Westfalia ist kein Kleinbus für Muttis, die ihre Kinder zum Fußball fahren, und auch kein Lieferwagen oder Minivan. Er ist eine Klasse für sich. Unserer – und ich werde ihn erst mal weiter so nennen – ist ein Camper, circa 1977, gelb lackiert. Er hat ein ausfahrbares Dach für zusätzlichen Schlafraum und eine eingebaute Markise, sodass man im Sommer hervorragend draußen sitzen kann. Es gibt einen Gaskocher für zwei Töpfe, der sich aus einem Propangasbehälter speist, eine Spüle mit einer Pumpe, die zu einem riesigen Plastikbehälter mit Wasser führt, damit man kochen und Geschirr spülen kann, und einen Minikühlschrank. Wir haben einen Tisch, den man zum Essen und Spielen niedriger stellen kann. Der Rücksitz lässt sich ausziehen und wird dadurch ein großes Bett. Wenn das Dach ausgefahren ist, hat man ›im Obergeschoss‹ ein zweites Bett. An allen Ecken und Enden gibt es kleine Fächer, in denen man etwas aufbewahren kann. Jeder Quadratzentimeter wird bestmöglich ausgenutzt.
Kurzum: Der Westfalia ist ein Meisterwerk.
Aber ich bin ziemlich sicher, dass er nur für zeitweiliges Wohnen gemacht ist, für Urlaube und so was. Und zunächst war das auch alles, was Astrid und ich im Kopf hatten.
»Wir müssen leicht packen«, sagte sie nach der ersten von zwei schlaflosen Nächten in Soleils Keller.
Wir fingen an, unsere Besitztümer durchzugehen, entschieden, was wir mitnehmen und was wir zurücklassen wollten. Das war eine harte Nuss, denn obwohl der Westfalia jeden Quadratzentimeter ausnutzt, hat man von vornherein schon nicht allzu viele Quadratzentimeter zur Verfügung.
Also stellten Astrid und ich uns zwei wesentliche Fragen: Benutze ich das jeden Tag? Lautete die Antwort Ja, wanderte es in den Bus. Sachen wie:
Teller, Schüsseln, Besteck, Gläser und Tassen – jeweils zwei.
Ein Topf, eine Bratpfanne und noch ein paar Kochutensilien.
Spülmittel, Spüllappen.
Shampoo, Deo, Zahnbürsten, Zahnpasta.
Erste-Hilfe-Set.
Taschenlampe, Stirnlampen.
Zwei Garnituren Bettwäsche, Kissen, Schlafsäcke und Handtücher.
Kleidung für eine Woche.
Sobald wir die wichtigsten Sachen hatten, stellten wir die zweite Frage: Habe ich das Gefühl, ohne dies nicht leben zu können? Für Astrid waren das ein kleiner Stapel Bücher, unser Trivial-Pursuit-Spiel und ihre Zeichenstifte, Farben, Staffelei und Skizzenbücher. Für mich waren das Horatio, ein paar Vis-à-Vis-Bücher, meine eselsohrige Ausgabe von Geschichten aus dem Mumintal und Mel.
Beim Anblick meines tomtes verzog Astrid das Gesicht. »Muss das echt mitkommen?«
Meine Mom hat Mel noch nie gemocht; sie sagt, sie findet seinen Blick beunruhigend.
»Ja«, antwortete ich. Wenn der Westfalia unser vorübergehendes Zuhause sein sollte, dann brauchten wir jeden Schutz, den wir kriegen konnten.
Als Nächstes borgten wir uns ein paar Putzutensilien von Soleil und schrubbten den Bus ordentlich. Abelard hatte ein paar Dinge dagelassen, einschließlich eines Werkzeugkastens, einer Marken-Regenjacke, eines Heizlüfters und eines Plastikbeutels voller Marihuana. Astrid behielt den Werkzeugkasten und den Heizlüfter und gab mir die Regenjacke. Ich weiß nicht, was mit der Tüte Marihuana passiert ist, und das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Nach unserer zweiten Nacht in Soleils Keller beluden wir den Westfalia. Soleils Zwillinge kamen raus, um zuzugucken, bevor ihr Dad, Arpad, sie zu ihrem Mechatronik-Kurs fuhr.
Als wir fertig waren, suchten wir Soleil in der Garage, die zu ihrem Atelier umgebaut worden war. Sie arbeitete an einem weiteren Rosenbild, dieses Mal in Pink.
»Also, wir machen uns dann mal auf zu unserem Roadtrip«, sagte Astrid.
»Was ist mit dem Rest eurer Sachen?«
»Wenn es für dich in Ordnung ist, lassen wir sie hier. Nur bis Ende des Monats.«
Astrid legte ihre Hand auf meinen Kopf, und das war mein Einsatz, Soleil gewinnend anzulächeln.
Soleil zog die Augenbrauen zusammen. »Gut. Aber nur bis dahin.«
»Danke, dass wir hierbleiben durften«, sagte ich, denn es hatte den Anschein, als würde meine Mom es nicht tun.
Soleil legte ihren Pinsel weg und umarmte mich. »Es war schön, dich wiederzusehen, Felix. Pass auf dich auf.«
Sie schaute Astrid nicht an. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich wieder ihrem Gemälde zu.

Astrid hatte recht gehabt. Den ganzen August lang im Bus zu wohnen, war der Hammer, sobald ich die erste Enttäuschung überwunden hatte, dass wir nicht weit würden fahren können. Das wurde Astrid klar, als wir zum ersten Mal tanken mussten. Es kostete, wie sie sagte, ein Vermögen. »Tut mir leid, Böna.« Das ist ein anderer Kosename für mich, auf Schwedisch bedeutet er ›Bohne‹. »Aber denk an all die schönen Orte, die wir in und um Vancouver besuchen können! Grouse Mountain, Stanley Park, Wreck Beach …«
»Nicht Wreck Beach!« Wreck Beach ist bekannt dafür, dass Kleidung ›kein Muss‹ ist. Astrid nahm mich immer mit dorthin, als ich klein war. Mit fünf war das noch in Ordnung, aber nun, da ich zwölfeinhalb war, für kein Geld der Welt.
»Na gut. Zimperliese. Ich sag ja bloß, es gibt viele schöne Orte.« Und das stimmte. Wir wohnten im Stanley Park. Wir gönnten uns eine Fahrt den Highway 99 hinauf und bezahlten am Alice Lake fürs Campen. Wir wohnten im Lighthouse Park. Niemand störte uns. Es war wirklich wie ein langer Sommerurlaub in unserer eigenen Stadt. Wir verbrachten die Tage mit Schwimmen, Wandern und Lesen. Selten waren wir weit von einer Bibliothek entfernt. Ich las Bücher wie Eine kurze Geschichte des Fortschritts und Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser und Klassiker wie Große Erwartungen. Astrid stellte ihre Staffelei draußen auf und malte. Die Nächte waren warm und wir hakten das Moskitonetz an der Rückseite des Busses ein, um Luft, aber keine Mücken reinzulassen. Durch die Dachluke konnte ich von meiner Schlafkoje in die Sterne gucken.
Obwohl der einzige Abschluss, den Astrid je gemacht hat, vom Ontario College of Art and Design stammt, ist sie hochgebildet; bevor sie am OCAD landete, war sie fünf Jahre lang auf der Universität und wechselte drei Mal ihr Hauptfach. Wie sie es ausdrückt, weiß sie »ein bisschen über vieles«. Sie hat mir beigebracht, wie man die Sternzeichen am Himmel findet. Sie hat mir Geschichten aus der römischen, griechischen und nordischen Mythologie erzählt. Ich erfuhr von Odin und Thor und Venus und Neptun und Zeus und Apollo.
Kein Abelard. Kein wütender Vermieter. Keine Schule. Keine Marsha.
Es war wunderbar.
Darf ich sagen, dass es sogar ein bisschen magisch war?
Weil es so magisch war, verschoben wir immer wieder die Gedanken an die Zukunft. Astrid schickte ihren Lebenslauf an viele Firmen, um einen neuen Bürojob zu finden, und sie kontaktierte Emily Carr, aber niemand stellte gerade Arbeitskräfte ein. Sie schien sich keine Sorgen zu machen; wir hatten Ersparnisse, genug, um uns eine Weile über Wasser zu halten. Wir schauten uns ein paar Wohnungen an, aber die meisten Vermieter wollten eine aktuelle Lohnabrechnung sehen.
Ein Vermieter warf Astrid anzügliche Blicke zu und sagte, sie bräuchte keine Lohnabrechnung oder Referenzen. Aber die Kellerwohnung war ebenso unheimlich wie er.
»Ich ziehe den Bus vor«, sagte sie.
»Ich auch«, stimmte ich zu.
Aber als der August sich dem Ende zuneigte und die Tage kürzer wurden, mussten wir Entscheidungen treffen.
»Felix«, sagte sie eines Abends, als wir draußen unser Trivial Pursuit aufbauten, »vielleicht müssen wir es noch ein bisschen im Bus aushalten, nur noch einen Monat. Bis ich einen Job habe.«
»Ist okay.« Und wirklich, zu dem Zeitpunkt war es das auch.
»Weißt du, was toll daran ist?«
»Was?«
»Für die siebte Klasse kannst du dich an jeder öffentlichen Schule anmelden, die du willst.« Das waren gute Neuigkeiten. Meine letzten beiden Schulen waren nicht furchtbar gewesen, aber auch nicht super. Ich hatte mich fortwährend unterschwellig einsam gefühlt.
»Wie wär’s mit Blenheim? Die haben ein Französisch-Intensivprogramm, das in der siebten Klasse beginnt. Ich wollte schon immer Französisch lernen.« Ich fügte nicht hinzu, dass das zum Teil auch mit meinem Dad zusammenhing. »Und es ist in Kitsilano.« Meine liebsten Erinnerungen an die Schule stammten aus unserer Zeit in Kits.
Astrids Augen leuchteten auf. »Das wäre perfekt für dich. Et nous pouvons parler français ensemble.« Astrid konnte auch Französisch; ein weiteres Fach, das sie an der Universität studiert hatte.
Doch dann erinnerte ich mich an etwas, das mein alter Freund Dylan mir gesagt hatte. »Blenheim ist die einzige Schule auf der West Side, die ein Französisch-Intensivprogramm anbietet«, sagte ich.
»Und?«
»Und es ist größtenteils eine englischsprachige Schule. Sie haben nur zwei Räume für die Französischklassen. Das heißt, Platz für ungefähr sechzig Kinder. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Dylans Schwester ist reingekommen, aber sie hat sich schon Monate vorher beworben.«
Astrid dachte einen Augenblick nach. »Nicht verzagen. Wir gehen da morgen hin. Und, Felix?« Sie sah mir in die Augen. »Lass mich das Reden übernehmen.«

Astrids Ratgeber für Lügen aller Art
Ich schätze, an dieser Stelle sollte ich erst mal erklären, ja, meine Mutter lügt gelegentlich. Dabei muss man jedoch anmerken, dass es verschiedene Grade von Lügen gibt, und Regeln für jede. Ein bisschen wie bei Scientology und deren Operating Thetan sind ihre Begründungen nicht immer ganz so plausibel. Aber für mich teile ich sie wie folgt ein:
Die Unsichtbare Lüge
Das ist die gewöhnliche weiße Lüge, die wir jeden Tag mehrfach verwenden, ohne darüber nachzudenken. Sagen wir zum Beispiel, man hat gerade eine tödliche Krankheit diagnostiziert bekommen, und der Kellner/Busfahrer fragt: »Wie geht es Ihnen?« Und man sagt: »Gut.« Weil es gemeinhin einvernehmlich ist, dass sie die Wahrheit nicht wissen wollen. Sie sind nur höflich. Und einem Fremden will man das sowieso nicht erzählen. Beide Parteien wollen bloß den Tag überstehen.
Die Gib-dem-Frieden-eine-Chance-Lüge
Wir alle gebrauchen diese Art von Lüge, um die Gefühle anderer zu schonen. Ein Beispiel: Vor ein paar Jahren fragte Astrids Kellnerfreundin Gina: »Wirkt mein Hintern in dieser Hose dick?«
Nun. Gina ist eine körperlich umfangreiche Frau mit dem entsprechenden Po. Also ja, ihr Hintern wirkte in dieser Hose dick. Doch Astrid zögerte keine Sekunde. Sie antwortete mit einem einfühlsamen »Nein«. Als ich sie später danach fragte, sagte sie: »Überleg doch mal, Felix: Was würde es bringen, wenn ich Ja sage? Sie macht sich ohnehin schon Sorgen wegen ihres Gewichts. Ich muss auf ihre Selbstwertprobleme nicht noch einen draufsetzen.«
»Aber du bist ihre Freundin. Sollten Freunde einander nicht die Wahrheit sagen?«
»Manchmal wollen Menschen keine Ehrlichkeit; sie wollen Behaglichkeit. Außerdem sah ihr Hintern in dieser Hose nicht größer aus als in jeder anderen. Und sie hat einen absolut ansehnlichen Hintern, einen sehr proportionalen Hintern. Streng genommen habe ich also nicht gelogen.«
Die Beschönigungslüge
Astrid würde argumentieren, dass Beschönigen nicht Lügen ist, sondern einfach ein bisschen Aroma gibt, wie wenn man einem Gericht mehr Gewürze beimischt. Zum Beispiel ergänzt sie ihren Lebenslauf um Dinge, die nicht ganz, sagen wir mal, akkurat sind, je nachdem, um welchen Job sie sich gerade bemüht. Als sie sich für ihren ersten Kellnerjob bewarb, schrieb sie, sie habe ›umfangreiche Erfahrung in der Dienstleistungsbranche‹.
»Seit wann?«, fragte ich, als ich das las.
»Seit du auf der Welt bist. Seitdem habe ich dich von vorne bis hinten bedient.«
Die Tut-keinem-weh-Lüge
Das sind schamlose Lügen, die darauf abzielen, dem Lügner in irgendeiner Form zu helfen. Aber – und das ist ausschlaggebend – sie tun keinem weh.
Und zum Abschluss ist da noch:
Die Jemand-könnte-ein-Auge-verlieren-Lüge
Das ist die schlimmste Art von Lügen, die das Potenzial hat, dem Lügner, dem Belogenen oder beiden wehzutun.
Astrid wendet sie nicht oft an, und wenn doch, dann nicht mit Absicht, denke ich. Zum Beispiel glaube ich nicht, dass sie vorhatte zu lügen, als sie zu ihrer Freundin Ingrid sagte, sie würde ihr die fünfhundert Dollar zurückzahlen, die diese ihr geliehen hatte. Oder als sie dasselbe zu ihrer Freundin Karen sagte. Ich nehme an, sie war überzeugt, dass sie ihnen das Geld zurückzahlen würde. Aber das tat sie nicht. Sie hat auch Ingrids teuren Make-up-Kasten nicht zurückgegeben. Ihre Freundinnen waren verletzt und fühlten sich benutzt und schlossen sie letzten Endes aus ihrem Leben aus. Was furchtbar schade war, denn Ingrids Tochter Violet war meine liebste Babysitterin. Und mit Ingrid verschwand auch Violet aus unserem Leben.
Wenn ich darüber nachdenke, hat meine Mom mit dieser Art von Lüge eine Menge Leute vor den Kopf gestoßen. Einschließlich Daniel, den Mann, der zufällig mein Vater ist.
Sei’s drum. Ich musste erst mal diese Kategorien klarstellen, bevor ich mit der Geschichte fortfahren kann. Denn Astrid steht kurz davor, eine Tut-keinem-weh-Lüge und eine Jemand-könnte-ein Auge-verlieren-Lüge zu erzählen, und das alles am selben Tag.

SEPTEMBER

Hi, ich bin Astrid Knutsson, und das ist mein Sohn Felix.« Wir standen im Sekretariat der Blenheim Public School. Astrid hatte ihre hübscheste Bluse im Landhausstil angezogen und Lippenstift aufgelegt. »Wir haben im Frühling die Anmeldeformulare für das Französisch-Intensivprogramm geschickt und waren den ganzen Sommer über außer Landes.«
Der Sekretär saß hinter dem Tresen am Computer und spielte Solitär. Er beendete das Spiel und öffnete einen Ordner. »Können Sie bitte den Nachnamen buchstabieren?«
»K-N-U-T-S-S-O-N. Ich war überrascht, dass keine Formulare da waren, als wir gestern Abend zurückkamen, deshalb dachten wir, wir kommen einfach vorbei.« Sie lächelte. Sie hat ein strahlendes Lächeln.
Der Sekretär runzelte die Stirn. »Wir haben keine Bestätigung, dass sein Anmeldeformular eingegangen ist.«
»Oh, aber es muss da sein. Es war vermutlich eines der ersten, die Sie erhalten haben, wenn Ihnen das hilft.«
Nun stand er auf und ging zu einem Aktenschrank. Er sah einen Ordner durch, einmal, zweimal. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Es ist nicht hier.«
»Das verstehe ich nicht. Es muss da sein. Wir haben uns absichtlich früh beworben. Felix träumt seit zwei Jahren davon.«
»Seit zwei Jahren«, wiederholte ich und ließ meine Stimme zittern, was, wie ich fand, dem Ganzen eine hübsche Note gab.
Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Mrs Knutsson …«
»Ms«, korrigierte sie. »Alleinerziehend. Wie ist Ihr Name?«
»Obasi.«
»Obasi, das muss ein Irrtum sein. Vielleicht hat es jemand verlegt?«
Obasi reagierte gereizt auf diese Andeutung. »Die einzige Person hier bin ich.«
»Nun, dann kann es nicht sein«, sagte Astrid rasch.
»Es sei denn …«, sagte Obasi. »Eine Aushilfe ist Ende März eingesprungen, als ich krank war.«
»Genau da haben wir es geschickt!« Im Ernst, Astrid ist echt schlagfertig. Sie drehte sich zu mir um. »O Gott, Felix, es tut mir so leid.«
»Aber – das war alles, was ich wollte. Seit Jahren.« Ich schaffte es sogar, ein bisschen feuchte Augen zu bekommen, richtig gut. »Je veux lernerer le français«, fügte ich hinzu, um den Effekt zu verstärken.
Astrid drückte mich an sich. Ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Das ist alles meine Schuld. Ich hätte eine Kopie von den Unterlagen machen müssen. Ich hätte überprüfen müssen, ob sie angekommen sind.«
»Aber, aber«, sagte der Sekretär. »Geben Sie sich nicht die Schuld.«
»Haben Sie Kinder, Obasi?«
»Noch nicht. Aber mein Mann und ich versuchen ein Kind zu adoptieren.«
»Das ist ganz wunderbar. Sie werden die Verantwortung der Elternschaft teilen können. Ich möchte nicht lügen, es ist schwer, alles allein machen zu müssen. Und nun habe ich es wirklich vermasselt.«
»Sie haben nichts falsch gemacht. Es war vermutlich die verdammte Aushilfe.«
Astrid hatte ihn am Haken. Jetzt musste sie ihn nur noch einholen. »Gibt es denn gar nichts, was wir tun können?«
Obasi schaute sich um und senkte die Stimme. »Ich darf das eigentlich nicht, aber … erst heute Morgen ist ein Platz frei geworden. Normalerweise sollte ich in diesem Fall auf die Warteliste zurückgreifen … Aber in Anbetracht der Tatsache, dass Sie schon vor Urzeiten das Formular eingeschickt haben …«
»Das würden Sie wirklich tun?«, fragte Astrid.
Obasi nickte. Ich entzog mich Astrids Umarmung. »Danke!«, sagte ich. »Danke, danke, Sie haben mich zum glücklichsten Jungen der Welt gemacht! Gott segne uns alle miteinander!«
Ich bin nicht sicher, warum ich Tiny Tim aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte zitierte, aber Astrid war es ganz eindeutig zu viel, denn sie stieß mich mit dem Ellbogen in die Rippen.
Obasi schob ein paar Unterlagen über den Tresen. »Füllen Sie das aus.«
Astrid schenkte ihm ein weiteres strahlendes Lächeln. »Obasi, Sie haben soeben Ihre gute Tat des Jahres begangen. Vielen, vielen Dank.«
Er lächelte zurück. »Das bleibt unser kleines Geheimnis.«
»Oh, auf jeden Fall.«
Ich saß neben Astrid, während sie die Formulare ausfüllte. Mir fiel auf, dass sie unter Eltern oder Vormund einzig und allein ihre Daten eintrug.
Beim Feld Adresse hielt sie inne. Sie warf einen Blick zu Obasi, der in eine neue Runde Solitär vertieft war. Dann zeigte sie auf das Blatt. Ich las, was da stand: Die Adresse muss sich im Einzugsgebiet West Side befinden. Bitte stellen Sie einen Beleg Ihrer Anschrift in Form eines behördlich ausgestellten Identitätsnachweises oder einer Telefon- oder Nebenkostenabrechnung zur Verfügung.
Das war ein Stolperstein. Bislang hatte sie unsere Post zu einem Postfach im Osten von Vancouver weiterleiten lassen, nicht im Einzugsgebiet.
Astrid stand auf. »Obasi, ich habe ganz offenbar meinen Morgenkaffee noch nicht getrunken. Ich habe einige relevante Unterlagen zu Hause vergessen. Hier sind alle anderen Formulare. Ich bitte Sie, vergeben Sie den Platz nicht. Wir kommen gleich morgen früh mit dem Rest.«
Er runzelte die Stirn. »Bis zehn Uhr morgen Vormittag kann ich ihn frei halten, aber länger nicht.«
»Kein Problem.« Sie ließ ihr Lächeln ein letztes Mal erstrahlen. Später im Bus saß sie auf dem Fahrersitz und schwieg. Ich wusste, dass ich still sein musste, sie versuchte auszuknobeln, was sie als Nächstes tun sollte.
Nach ein paar Minuten drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. »Keine Sorge. Ich hab’s.«
Wir warteten bis sechs Uhr abends. »Ich muss sichergehen, dass er von der Arbeit zu Hause ist«, sagte Astrid. Sie führte nicht weiter aus, wer ›er‹ war.
Um Punkt 18.01 Uhr fuhren wir eine Einfahrt in Kitsilano hoch. Vor dem Haus standen Fahrräder und ein Trampolin. »Hey«, sagte ich. »Das ist Caitlins Haus.« Ich war mit ihr zur Schule gegangen, damals, zu Zeiten unserer Eigentumswohnung. »Wieso sind wir –«
Astrid hielt bloß eine Hand hoch und sprang aus dem Wagen. »Warte hier.«
Ich beobachtete, wie sie zur Haustür lief und klopfte. Caitlins Vater, Mr Poplowski, öffnete.
Ich könnte schwören, er war perplex, als er meine Mom sah. Er schloss die Tür hinter sich und trat unter das Vordach, als wollte er nicht, dass jemand aus seiner Familie sie sah.
Sie redeten eine Weile. Er wirkte aufgebracht. Dann ging er wieder hinein. Astrid drehte sich um und streckte den Daumen hoch. Im Gegensatz zu Mr Poplowski wirkte sie vollkommen entspannt.
Ein paar Minuten später ging die Tür wieder auf. Mr Poplowski gab meiner Mom ein paar Papiere. Dann schlug er die Tür hinter sich zu.
Astrid hüpfte praktisch zum Bus zurück. »So. Das wäre erledigt.«
»Was hast du gemacht?«
»Wir brauchen eine Adresse. Er hat mir eine verschafft.«
»Wir geben der Schule Caitlins Adresse?«
Sie lachte. »Nein, nein. Ihr Vater lässt uns die Adresse seiner Anwaltskanzlei auf dem Broadway benutzen. Büros im Erdgeschoss, in den oberen Etagen Wohnungen, aber die Schule wird den Unterschied nicht bemerken. Wir können unsere gesamte Post dorthin weiterleiten lassen.«
»Und das ist für ihn in Ordnung?«
Sie fuhr los. »Er hat keine andere Wahl.«
»Aber warum …«
»Felix. Es reicht mit den Fragen.«
Ich hielt die Klappe. Aber ich dachte an das letzte Mal, als ich Mr Poplowski gesehen hatte.
Es war im Winter gewesen. Damals wohnten wir in unserer Eigentumswohnung. Auf dem Weg zur Schule ging es mir noch gut, aber später am Vormittag musste ich mich plötzlich übergeben. Die Schulkrankenschwester sagte, ich würde die Grippe kriegen. Sie rief meine Mom ein paarmal bei der Arbeit an, aber es ging niemand ran, also sagte sie, ich solle mich auf die Pritsche in ihrem Büro legen. Irgendwann wurde mir langweilig. Als die Schwester auf die Toilette ging, schlich ich mich hinaus. Ich wollte einfach nach Hause laufen und mich dort hinlegen, denn wenigstens hatten wir einen Fernseher.
Ich schloss die Wohnungstür auf. Meine Mom war da – mit Mr Poplowski. Er zog gerade seine Schuhe an. »Hey, Felix, alter Kumpel! Was machst du denn schon zu Hause?« Er klang übertrieben enthusiastisch.
»Caitlins Vater ist Anwalt«, sagte meine Mom. »Er hat mir mit dem Vertrag für die Eigentumswohnung geholfen.«
Mir war schwindelig, und außerdem war ich erst acht oder neun, also stellte ich keine Fragen. Aber mein S.H.I.T. fand es sonderbar, dass meine Mom einen geschäftlichen Termin im Bademantel wahrnahm.
Ich will gar nicht allzu viel darüber nachdenken. Aber ich schätze, Caitlins Dad war es lieber, an einer kleinen Lüge beteiligt zu sein als eine große Lüge ans Tageslicht kommen zu lassen.
Auf dem schnellsten Weg fuhren wir zur Bibliothek in Kits. Astrid nahm eines der Blätter, die Caitlins Dad ihr gegeben hatte: eine Stromrechnung seiner Anwaltskanzlei. Sie fuhr einen Bibliothekscomputer hoch und fand eine Schriftart, die der auf der Stromrechnung glich. Sie tippte ihren Namen, Astrid Knutsson, und druckte ihn aus. Dann schnitt sie ihn vorsichtig aus und klebte ihn auf Mr Poplowskis Namen. Sie kopierte die Rechnung und zeigte mir das Ergebnis.
Sah gut aus. Echt.
Am nächsten Morgen um exakt 9.01 Uhr betraten wir das Sekretariat. »Ah, perfekt«, sagte Obasi. »Da sind Sie ja.« Astrid reichte ihm die Rechnung und er begutachtete sie. »Normalerweise nehmen wir keine Kopien an. Wir haben am liebsten das Original.«
»Die Originale sind momentan bei meinem Steuerberater.«
»Ist in Ordnung. Bringen Sie einfach bei Gelegenheit eine vorbei.« Obasi lächelte mich an und streckte den Arm aus. Wir schüttelten uns die Hand. »Herzlichen Glückwunsch, Felix. Wir sehen uns nächste Woche.«
Ich war glücklich – regelrecht aufgedreht –, als wir wieder in den Bus stiegen. Der August war toll gewesen, aber ich freute mich darauf, wieder unter Gleichaltrigen zu sein, vielleicht sogar einen oder zwei Freunde zu finden.
Astrid startete den Wagen nicht. »Damit wir uns richtig verstehen, Felix. Es ist am besten, wenn du deinen neuen Klassenkameraden nichts davon erzählst.«
»Wie du mich in den Kurs gekriegt hast?«
»Nein. Na schön, ja. Das auch. Aber ebenso über unsere derzeitige Wohnsituation.« Sie deutete auf den Bus. »Du und ich, wir beide wissen, dass es ohne jeden Zweifel vorübergehend ist. Aber andere Leute … verstehen das vielleicht nicht. Wir wollen niemandem Anlass geben, das MKFE anzurufen.«
Ein Kälteschauer durchzuckte mein Herz.
MKFE. Ministerium für Kinder- und Familienentwicklung.
An die waren wir schon mal geraten, im April. Astrid und Abelard hatten in der Nacht zuvor eine ihrer spektakulären Auseinandersetzungen gehabt. Am nächsten Morgen stand ein Sozialarbeiter mit einem Haufen Fragen vor der Tür. Vermutlich hatte unser Vermieter dort angerufen, weil er über uns wohnte. Vielleicht hatte er sich Sorgen gemacht, dass ich körperlich misshandelt wurde. Ich nicht. Abelard hat sich an mir nie vergriffen. Wie dem auch sei. Aus dieser Erfahrung und den Geschichten, die meine Mom mir erzählt hatte, wusste ich, dass man lieber nicht auf dem Radar des MKFE auftauchen sollte. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einer Million Jahre. Also sagte ich:
»Okay.«