Kitabı oku: «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer», sayfa 4
Die Lebensfremdheit der Kirche
Herr Kriesi, zwar war und ist die Wirkung der Tradition, die sich auf Augustinus und Thomas von Aquin beruft, noch immer mächtig, doch kaum ein Pfarrer in der Schweiz wird noch mit dem «ewigen Feuer» argumentieren.
Kaum ein Pfarrer innerhalb der Schweizer evangelischen Landeskirchen, ja. Aber innerhalb der evangelikalen Religionsgemeinschaften, da wirkt diese Tradition durchaus noch mit Macht. Wie oft passierte es mir während meiner Vorträge zur Freitodhilfe, dass da einer aufstand, die Bibel hochhielt und ins Publikum rief: «In meiner Bibel steht geschrieben: Meine Zeit steht in Gottes Händen!» Und selbst wenn vom «ewigen Feuer» in den Predigten der Landeskirche nicht länger die Rede ist: Unterschätzen Sie nicht, wie tief sich die kirchliche Verdammung des Suizids im Volksglauben eingenistet hat. Das haben wir ja etwa an Andelka gesehen. Tagtäglich habe ich es während meiner Arbeit als Pfarrer und später dann auch als Freitodbegleiter erlebt, wie sehr die Menschen weiterhin von diesen Vorstellungen umgetrieben werden. Egal welche Herkunft, egal welche Schulbildung. Egal ob Akademiker oder Handwerker. Viele leiden, weil in späteren Jahren der oft verschüttete Kindheitsglaube wieder hochkommt und damit die panische Angst, dass Gott sie verdamme. Erst gestern telefonierte ich mit einem Freund, fast so alt wie ich, er war bis zu seiner Emeritierung Professor für Psychiatrie. Er erzählte mir, wie tief beunruhigt und verängstigt er sei, wenn er an das Jüngste Gericht denke.
Mord und Genozid, Blutrache und Krieg, Todesstrafe und Menschenopfer. Gewaltsam gestorben wird in der Bibel reichlich. Mit wenigen Ausnahmen sind es keine Selbsttötungen. Das Alte Testament berichtet von König Saul, der sich ins Schwert stürzt, von Samson, der einen Tempel über sich zusammenbrechen lässt, oder von Abimelech, der einem seiner Soldaten befiehlt, ihn zu töten. Verurteilt wird dies nicht, auch nirgends verboten. Alle Selbsttötungen sind die Folge von Ehrverletzung oder Demütigung. Und nicht einer unheilbaren Krankheit oder eines unerträglichen körperlicher Leidens.
Diese spielten damals auch lange keine so große Rolle wie inzwischen in unseren Gesellschaften. In der Bibel waren in dieser Hinsicht die Verhältnisse kaum anders als noch bei uns vor zwei Generationen. Das durchschnittliche Alter, das man über Jahrtausende erreichte, betrug ungefähr 45 Lebensjahre. Seit dem letzten Jahrhundert steigt die Lebenserwartung. Noch Anfang der 1930er-Jahre erlebten 96 von 100 Menschen den siebzigsten Geburtstag nicht. Inzwischen werden wir durchschnittlich über achtzig Jahre alt. Dank dem Wohlstand, den geordneten politischen Verhältnissen und der hochentwickelten Medizin wird uns somit etwas geschenkt, was sich frühere Generationen nur erträumen konnten. Die paradoxe Kehrseite ist, dass dieses lange Leben zu ethisch-moralischen Problemen führt, von denen unsere Vorfahren keine Ahnung haben konnten. Die unerträgliche Situation, in die viele todkranke Menschen geraten sind, ist ja erst entstanden, weil die Medizin das Sterben immer weiter hinauszögern kann. Daher ist es so lebensfremd, so pathologisch auch, wenn die Kirche noch heute das Dogma von Thomas von Aquin vertritt, das er vor bald tausend Jahren, im Hochmittelalter, entwickelt hat. Die Lebenswelt damals hat doch nichts mit der heutigen Zeit zu tun! Wie kann man sich da noch auf den allmächtigen Gott, den Herrn berufen, der in seinem «unerforschlichen Willen» die Todesstunde eines Menschen bestimmt, um ihn zu sich in die «ewige Heimat» zu rufen?
Sie meinen, da wir den Tod mit unseren wissenschaftlichen Errungenschaften immer weiter hinauszögern können, haben wir auch die Verantwortung für den Verlauf unseres Lebens bis zum Ende mehr und mehr in die eigenen Hände genommen – die Kirche jedoch weigert sich weiterhin, uns auch für den Zeitpunkt des Todes ein Mitspracherecht zuzugestehen?
Wie oft höre ich von kirchlichen Kritikern: «Gott selbst hat uns das Leben geschenkt. Gott allein ist der Herr über Leben und Tod, und deswegen hat der Mensch kein Recht, selber über sein Ende zu entscheiden.» Diese theologisch-dogmatische Formel dient den Kirchen in allen Fragen der Sterbehilfe als Fundament und Richtschnur und zugleich als Begründung der Ablehnung. Von Bischofskonferenzen, Pfarrkonventen, Kirchenleitungen, in kirchlichen Publikationen jeglicher Couleur – und nicht zu vergessen, von der römischen Kurie – lesen und hören wir diese theologisch-stereotype Formel in endloser Wiederholung. Sie müssen dafür nur das soeben erschienene Schreiben der Glaubenskongregation des Vatikans lesen. Es trägt den Titel: «Schreiben über die Sorge an Personen in kritischen Phasen und in der Endphase des Lebens».24
In Ländern mit mehrheitlich katholischer Bevölkerung und einer gehorsamen Priesterschaft wird dieser Text eine enorme Wirkung entfalten. Aber nicht nur im Blick auf den assistierten Suizid, sondern auch auf andere Formen der Sterbehilfe. Ich denke an Heime und Kliniken, die von der katholischen Kirche geführt werden. Die autoritär verordnete Verweigerung der Sterbesakramente im Falle eines assistierten Suizids trifft nicht wenige katholisch erzogene Menschen mitten ins Herz. Das mag auch für solche gelten, die sich von der Kirche gelöst haben. Auch katholisch-gläubig gebliebene Angehörige werden sich mit Energie gegen einen assistierten Suizid zur Wehr setzen, wenn sie wissen, dass der Priester die Sterbesakramente nicht erteilen und der Gläubige die Krankensalbung nicht empfangen darf. Lesen Sie nur diesen Abschnitt hier aus dem vatikanischen Schreiben. Es geht um diejenigen, die ausdrücklich eine Sterbehilfeorganisation um assistierten Suizid gebeten haben. Diese sollen nur dann die Sakramente erhalten, wenn sie ihre Entscheidung ändern, somit zum «Büßer» werden, wie es heißt:
«In Bezug auf das Sakrament der Buße und Versöhnung muss der Beichtvater sich vergewissern, dass es Reue gibt, die für die Gültigkeit der Lossprechung notwendig ist, und die als ein ‹Schmerz der Seele und ein Abscheu über die begangene Sünde, mit dem Vorsatz, fernerhin nicht mehr zu sündigen› charakterisiert wird.»
Auch ohne die explizite Drohung mit dem ewigen Feuer wird hier am dogmatischen Fundament der römisch-katholischen Kirche weitergemauert und somit eine brutale Härte gegenüber leidenden Menschen an den Tag gelegt.
Von der gesamten Schweizer Wohnbevölkerung waren 2018 knapp 40 Prozent Mitglied der römisch-katholischen und knapp 25 Prozent der evangelisch-reformierten Kirche.
Unterschätzen Sie auch daher nicht, wie einflussreich die Haltung der katholischen Kirche zur Freitodhilfe weiterhin ist. Ein Beispiel vom vergangenen Jahr: Im Wallis wurde diskutiert, ob in öffentlichen Altersheimen, die vom Staat mitfinanziert werden, der assistierte Suizid zugelassen werden darf. Der Pfarrer Paul Martone nahm in einer Pressekonferenz in Sitten dazu Stellung. Die katholische Kirche respektiere den begleiteten Suizid, könne ihn jedoch nicht gutheißen. Das ist eine recht jesuitisch-raffinierte Aussage. Im Hinblick auf die hohe Akzeptanz der Suizidhilfe in der Schweizer Bevölkerung und zugleich unter Berücksichtigung der kirchlichen Obrigkeit stellt Pfarrer Paul Martone beide Parteien ein bisschen, wenn auch nicht ganz, zufrieden. Der Walliser Bischof Jean-Marie Lovey war da eindeutiger und sagte, dass der Wunsch nach Beihilfe zum Suizid weit davon entfernt sei, Ausdruck der Selbstbestimmung des Menschen zu sein: «Die Beihilfe zum Suizid ist ein schwerer Angriff auf das Leben des Menschen, das die christliche Botschaft von seiner Empfängnis bis zum natürlichen Tod schützen will.»25
Bei den Protestanten klingt es vergleichsweise moderat, Sie würden wohl sagen jesuitisch: In einer Vernehmlassungsantwort des Kirchenrats des Kantons Zürich von 2010 heißt es etwa, dass er die Beihilfe zum Suizid im Grundsatz für «äußerst problematisch» halte, dass er aber «Suizid und die Beihilfe dazu, die aus innerer Not geschehen», nicht verurteile.26
Doch in dem Dokument steht auch die Forderung, «bei den Leidenden auszuharren» und «Geborgenheitsräume zu schaffen, die ihr Leiden lindern». Aus Sicht des Zürcher Kirchenrats geschieht das offenbar zu wenig, und daher sieht er hier ein Versagen der Gesellschaft. Nach meiner Meinung verkennt er unsere hervorragenden Pflegeeinrichtungen, die genau das bieten, was sich der Kirchenrat als Geborgenheitsraum vorstellt. Er übersieht auch den vorbildlichen Einsatz der Angehörigen, die Leidende pflegen. Aber er verkennt noch viel mehr: Das Leiden kann trotz bester Fürsorge eine solche Dramatik annehmen, dass manchen Menschen allein mit Geborgenheitsräumen nicht geholfen ist. Ich werte diese Stellungnahme der Kirche daher als eine Verharmlosung des Leidens.
Exit hat inzwischen über 135 000 Mitglieder. Dies lässt vermuten, dass darunter auch eine stattliche Anzahl Mitglieder der Landeskirchen zu finden sein müssen. Doch selbst wenn dies als Liberalisierungsschritt gelesen werden kann, selbst wenn die Säkularisierung immer weiter voranschreitet, stecken in unseren Köpfen und Herzen weiterhin religiöse Überlieferungen, die rational überwunden scheinen, in den Gefühlen aber tief verankert sind.
Einst begleitete ich eine fast hundertjährige Dame in den Tod, deutsch-lutherisch aufgewachsen und in diesem Sinne gläubig geblieben.
Sie fragte mich: «Herr Pfarrer, ist Gott einverstanden?»
Ich antworte: «Ja.» Und legte ihr die Hand auf den Kopf.
Sie fragte nochmals: «Herr Pfarrer, ist Gott einverstanden?»
Ich antwortete wieder: «Ja, Gott ist einverstanden.»
Nachdem sie ein weiteres Mal gefragt und ich wieder dasselbe geantwortet hatte, sagte sie: «Jetzt glaube ich es. Gott ist einverstanden.» Und sie trank das Sterbemittel.
Werner Kriesi erzählt
Martha. Auf lebenslange Pflege angewiesen
Wie beinahe jeden Morgen fahre ich mit dem Velo die vierzig Minuten zu Exit nach Zürich. Kaum bin ich angekommen, klingelt das Telefon. Eine Frau sagt: «Ich rufe Sie nicht freiwillig an, ich werde dazu gezwungen – von meiner Tochter; sie lässt mir keine Ruhe mehr; sie beschimpft mich, weil ich von Exit nichts wissen will.»
Unsicher, mit stockenden Worten erzählt sie, dass ihre Tochter seit vier Jahren gelähmt im Bett liege, von ihr und der Spitex rund um die Uhr gepflegt. Sie selbst sei jetzt 68 Jahre alt. Solange sie könne, werde sie für ihre Tochter sorgen. Aber sie sterben lassen – mit Exit? Nein, das könne sie nicht! Doch seit etwa drei Jahren lasse die Tochter diese verrückte Idee nicht mehr los.
Die Tochter, Martha, war vor inzwischen sechs Jahren ungewollt schwanger geworden, der Freund drängte auf Abbruch. Als sie sich weigerte, verließ er sie. Bevor das Kind – ein Mädchen – geboren wurde, zog Martha zu ihrer Mutter, die ihr versprochen hatte, es mit ihr zusammen großzuziehen. So lebten sie zu dritt – Marthas Vater war schon vor Jahren durch einen Verkehrsunfall gestorben –, und Martha behielt ihre Stelle als kaufmännische Angestellte.
Eines Morgens liegt Martha seltsam verkrümmt im Bett; bewegungslos, stumm. Sie reagiert auf nichts. Die Mutter alarmiert in Panik den Hausarzt, dieser ruft, kaum ist er eingetroffen, die Ambulanz. Vier Monate bleibt Martha bewusstlos im Krankenhaus und wird künstlich ernährt. Als sie aufwacht, sind Beine und Arme ohne Gefühl. Martha ist gelähmt, sie kann weder Urin noch Stuhlgang kontrollieren. Sie kommt nach Hause, für ihre Pflege ist alles eingerichtet, und ihre Mutter tut, was sie kann, um sie zusammen mit der Spitex so gut wie nur irgend möglich zu umsorgen.
Doch Martha kann sich mit ihrer Lage nicht abfinden. «Keine Stunde länger halte ich dieses Hundeleben aus», schleudert sie ihrer Mutter an den Kopf. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr denselben Satz.
Einige Tage nach dem Anruf erhalte ich von Marthas Hausarzt die schriftliche Diagnose, verfasst von der Neurologischen Klinik eines Universitätsspitals. Martha leidet an einer Herpesenzephalitis, eine durch Herpesviren verursachte Hirnentzündung. Als Folgen werden aufgezählt: schwergradige Einschränkung der Mobilität, neurologisch bedingte Harn- und Stuhlinkontinenz, Geschmacksmissempfindungen, Unverträglichkeit vieler Speisen, allgemeine Sensibilitätsstörungen am ganzen Körper, Stimmungsschwankungen bei Affektlabilität, reaktive Depressionen mit Suizidalität, Koprolalie. Letzteres ist eine krankhafte Neigung zum Aussprechen obszöner, unanständiger Wörter, als Auswirkung einer limbisch generierten Anfallsentladung. Die Folgen all dieser Symptome: dauernde und vollständige Abhängigkeit von pflegerischer Hilfe. Abgesehen von kürzeren Phasen im Rollstuhl, 24 Stunden Bettlägerigkeit. Die kurz gefasste medizinische Prognose: «Nach vierjährigem Verlauf sind funktionell signifikante Besserungen nicht zu erwarten.» Was für eine Perspektive für eine junge, kaum dreißigjährige Mutter mit einem inzwischen fünf Jahre alten Kind!
Ich besuche Martha. Nach kurzer, schroffer Begrüßung kommt sie umgehend zur Sache: «Sie können es kurz machen. Mein Entschluss ist nicht zu diskutieren. Jeder Hund wäre längst eingeschläfert worden. Aber leider bin ich keiner. Einige meiner religiösen Freunde wollen, dass Menschen Jahre und Jahrzehnte dahinvegetieren, bis sie in ihrem Bett verfaulen und elend verrecken.» Die Mutter, die am Kopfende des Bettes sitzt, beginnt zu weinen. «Nun hören Sie selber, wie verbittert meine Tochter spricht, und so geht das jeden Tag.» Die Mutter entfernt sich schweigend aus der Stube, einen Augenblick später lässt die Tochter den Kopf tiefer ins Kissen sinken und beginnt zu schluchzen. Ich ziehe mich vom Bett zurück, setze mich ans Fenster und warte. So vergeht fast eine halbe Stunde, bis mich die Frau mit leiser Stimme zurück an ihr Bett ruft.
«Verzeihen Sie meinen Ausbruch», beginnt sie, «aber ich kann meine Wut nicht beherrschen. Sie kommt über mich und reißt mich fort, und ich weiß, wie ich alle rings um mich mit scheußlichen Worten beleidige. In solchen Augenblicken höre ich mich wie aus weiter Ferne. Ich kenne mich selber nicht mehr, das war vor meiner Krankheit nicht so. Wenn ich an früher zurückdenke, so bin ich ein ganz anderer Mensch geworden. Alle erlebten mich als liebes, nettes und hilfreiches Mädchen, zu Hause, in der Schule und später bei der Arbeit. Ich gab in der Freikirche, die meine Eltern besuchten, viele Jahre Sonntagsschule und erzählte Kindern die biblischen Geschichten.»
Plötzlich stockt sie, unterbricht ihre Erzählung, und zugleich veränderte sich ihre weiche Stimme. Sichtlich erregt fährt sie fort: «Sie sind doch Pfarrer, oder etwa nicht! Sagen Sie mir, erklären Sie mir, aber gefälligst ohne blöde pfäffische Sprüche, warum straft mich Gott mit dieser dreckigen Krankheit? In eurer verlogenen Bibel steht doch: Gott bestraft die Bösen für ihr Tun, aber die Guten, die Gottes Willen tun, die werden mit einem gesunden und glücklichen Leben belohnt. Die Frommen seien wie der Baum an Wasserbächen, der wohl gedeiht und blüht, heißt es doch in einem Psalm. Ich war immer ein anständiger Mensch; ich habe willentlich niemandem ein Haar gekrümmt; ich habe nie herumgehurt; ich habe mein Kind ausgetragen und nicht abgetrieben und das moralische Geschnorr der Freikirchler auf mich genommen. Ich tat als Berufsfrau und Mutter immer tadellos meine Pflicht, habe auf Luxus und Freizeit verzichtet, um ganz für mein Kind da zu sein. Wo ist nun dieser gütige Gott, von dem ich früher selber gefaselt habe? Es war ein naiver Sonntagsschulglaube, der nichts wert ist, sobald das Leben zuschlägt, wie jetzt bei mir.» Die Mutter öffnet die Tür, bleibt auf der Schwelle stehen. Sie hat Angst, dass ich, dass der Herr Pfarrer geht, wenn ihre Tochter ihn so anschreit.
Martha schaut mich voller Misstrauen an: «Wieso haben Sie Ihr Psalmenbuch noch nicht aus der Tasche gezogen? Kürzlich war so ein Sektenprediger bei mir. Plötzlich stand er an meinem Bett. Ich tat, als ob er nicht da wäre, schaute an die Wand. Trotzdem las er mir etwas vor, das etwa so tönte: Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch tragen. Mich packte die Wut, ich sagte ihm alle Schande und jagte ihn aus der Stube. Dieser fromme Mistkerl! Spaziert gesund und munter in der Welt umher, genießt das Leben, kennt keine Schmerzen, geht mit seiner Frau ins Bett, kann sein Leben gestalten, wie es ihm beliebt, und scheut sich nicht, ein armes Schwein wie mich mit solchen Sprüchen trösten zu wollen. Der soll doch nur eine Woche lang in meinem Bett liegen, sich jeden Tag zweimal die Scheiße wegwaschen lassen von fremden Leuten. Dann würde mich wundernehmen, ob er immer noch solche Sprüche macht. Nichts und niemand kann mir helfen. Einzig der Tod ist meine Hilfe. Ich ersehne ihn jeden Tag. Noch dreißig, vierzig Jahre so liegen! Ein Grauen packt mich bei diesem Gedanken. Was ich lebe, ist die Hölle auf Erden, und da wäre eine jenseitige Hölle ein Butterbrot.»
Ich sitze erschüttert neben ihr. Antworten kann ich nicht. Nur zuhören. Verzweifelt schreit sie: «Ich beneide die Krebskranken, deren Elend hat ein Ende. Meines nicht. Manchmal würde ich die Ärzte am liebsten töten, die mich im Spital am Sterben gehindert haben. Nun, sie haben mich gerettet. Gerettet für dieses Dreckleben. Zur Strafe sollte jeder dieser Weißkittel mich ein Jahr lang rund um die Uhr pflegen. Beim Windeln wechseln den Gestank aushalten. Jeden Tag, ein ganzes Jahr lang, ohne einmal aus meinem Zimmer zu dürfen. Bis sie kotzen und durchdrehen. So müsste das sein!»
Martha sinkt erschöpft ins Kissen, wie zuvor, und dreht laut weinend den Kopf zur Wand. So liegt sie da, und ich spüre, da gibt es nichts mehr zu sagen. Ich sitze während ihrer zunehmend erregten Erzählung schweigend am Bett. Ihr Elend, ihre Verzweiflung nimmt mich mit.
Eine Woche später treffe ich Martha zusammen mit ihrem Hausarzt zu einem weiteren Gespräch. Sie erlebt, wie ernst wir ihren Sterbewunsch nehmen, bleibt ruhig, hört zu. Wieder spricht sie lange, doch diesmal ohne Wut und Hass. «Man kann lange sagen, der Mensch sei ein Gewohnheitstier und mit der Zeit lerne er, sich mit allem abzufinden. Ich kann es nicht. Das weiß ich immer klarer. Wenn ich wüsste, diese Schmach hätte eines Tages ein Ende, ja dann wollte ich durchhalten, wenn es sein muss, noch einmal einige Jahre. Aber es gibt kein Ende. Mein Hirn bleibt geschädigt. Jeden Tag, zweimal, läutet jemand von der Spitex. Wer es auch immer ist, Frau oder Mann, sympathisch oder weniger sympathisch, ich muss mich vor diesen Leuten entblößen, liege nackt da, lasse mich reinigen, pudern und salben und die Windeln wieder anziehen. Ich bewundere diese Leute und hasse sie zugleich, hasse jede Berührung, schreie sie manchmal an, dabei müsste ich dankbar sein, dass sie mich pflegen. Und das sechzig Mal in einem einzigen Monat. Nur der Tod erlöst mich von diesem Leben, das ich nicht mehr aushalten kann.»
Ich begleite den Hausarzt in seine Praxis. Er erklärt sich bereit, das Rezept für das Sterbemittel auszustellen, und bestätigt mir, dass seine Patientin seit drei Jahren inständig um Sterbehilfe bettelt. Er hätte in vielen Gesprächen vergeblich versucht, ihr dabei zu helfen, zu ihrer Krankheit eine andere Einstellung zu finden. Er sei zwar kirchlich nicht praktizierend. Doch überzeugt von der christlichen Nächstenliebe, käme er sich unbarmherzig vor, wenn er sich weigern würde, seine Patientin bei ihrem Sterbewunsch zu unterstützen.
Nach vier Monaten Wartezeit bestehen weder bei mir noch beim Hausarzt Zweifel an der Wohlerwogenheit von Marthas Sterbewunsch. Als ich in Begleitung einer Mitarbeiterin in die Wohnung komme und an ihr Bett trete, beginnt sie heftig zu weinen. Als sie sich gefasst hat, begrüßt sie uns und bedankt sich, dass wir gekommen sind.
«Ich habe mich den ganzen Morgen gesorgt, ob ihr überhaupt kommt, ich habe gebetet, dass euch auf dem Weg nichts passiert. Ich zählte jede Stunde, und das Schlimmste, was mir passieren könnte, wäre noch länger warten zu müssen, bis ich sterben kann.»
Die Mutter tritt an das Bett ihrer Tochter, umschlingt sie, streichelt ihre Arme, küsst sie und geht wortlos in ein anderes Zimmer.
Ich reiche Martha das Sterbemittel, sie trinkt und sagt. «Angst habe ich keine. Mal sehen, ob es ein Drüben gibt, wie sie mir in der Sonntagsschule sagten. Es ist nicht wichtig. Endlich kann ich weg aus dieser Gruft.»27
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