Kitabı oku: «Nord-Süd»
Geburt unter anderen Umständen
Seine Mutter, eine dunkelhaarige Frau, war hochschwanger. Seine Eltern guckten Kuhlenkampff im Fernsehen, das konnte dauern, der überzog immer. Als sie merkte, dass es bald so weit sein würde, nahm sie ihren Mann und wollte ins Krankenhaus fahren. Auf der Straße bekamen sie kein Taxi. Neue Strategie, seine Mutter versteckte sich im Dunkeln eines Hauseingangs und sein Vater winkte eine Droschke heran. Sie hatten den Fahrer überrumpelt. In der Schwesternstation wurde seine Geburt als kompliziert diagnostiziert. Da es inzwischen Sonntag war, wollte kein Arzt zum Dienst kommen. Nach einigen Anrufen der aufgeregten Schwester bekam diese zur Antwort: „Kann das Kind nicht am Montag geboren werden?“
Es dauerte Stunden und es stand nicht gut um ihn. Er wollte sich nicht umdrehen und seine Nabelschnur war einige Male um seinen Kopf gewickelt. Aber er wurde in die Welt geholt, leicht lila und geschwächt. Hämpelchen war geboren.
Nord-Süd
westberliner Geschichten
von Herrn Hämpel
Über den Autor:
Der Autor wurde in Berlin geboren, lernte Kaufmann und
studierte Germanistik, heute arbeitet er als Lehrer in der
Schweiz und Berlin.
NORD - SÜD
von Herr Hämpel
Für meine Frau, meinen besten Freund, meinen Bruder und meine Eltern.
8. korrigierte Auflage, 2021
© 17.06.2021 alle Rechte vorbehalten.
Sven Kluge
Winterthurerstrasse
Zürich
ISBN: 978-3-754117-27-9
Verlag: Neopubli, Berlin, E-Book, 4,99 €
Alle Personen in diesem Buch existieren und daher sind deren Namen meist geändert und Charaktere leicht verfälscht, um die Identität zu schützen. Ereignisse sind nicht erfunden, sondern passiert, einiges hat der Autor dazu gedichtet, vieles könnte oder ist so geschehen.
Vorwort
Ich sollte einen Artikel für eine Zeitschrift schreiben, da erfand ich einen Text mit dem Titel „Meine Pädagogik und ich...“ Ein Freund sagte, hast du gut geschrieben. Da ich gerne Geschichten erzähle, haben mir ein paar Leute gesagt, schreib mal ein Buch oder das solltest du aufschreiben. Jetzt ist es soweit. Neulich sagte dann eine Freundin, ich würd`s lesen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 4
Kindheit
Kap. 1 Geburt unter anderen
Umständen 6
Kap. 2 Verschickt 7
Kap. 3 Vor der Schule 9
Kap. 4 Grundschule 10
Kap. 5 Bei Opa 12
Kap. 6 Kleingarten 13
Kap. 7 Allein zu Haus 15
Kap. 8 Todesbahn 17
Kap. 9 Kriegspiele 19
Kap. 10 Pfadfinder 19
Kap. 11 Unbekannte Gefilde 25
Kap. 12 Die Rückkehr 28
Kap. 13 Häuserkampf 29
Kap. 14 Der Streik 30
Kap. 15 Anderer Sektor 30
Kap. 16 Les Alpes 31
Kap. 17 Kleinkariert 33
Kap. 18 Oberlicht 36
Kap. 19 Uffm Karussell 37
Kap. 20 Im Osten 39
Kap. 21 Die Fahrt 41
Kap. 22 Distrikt 43
Kap. 23 Schlafoogen 44
Kap. 24 Die Bombe 45
Kap. 25 Schnelles Vergnügen 47
Kap. 26 Knackärsche 48
Kap. 27 Messe 49
Kap. 28 Dauerhaft 49
Kap. 29 Markt 50
Kap. 30 Stift sein 52
Kap. 31 Einkauf 54
Kap. 32 Irre 56
Kap. 33 Der Abend 57
Kap. 34 Das Rennen 59
Kap. 35 Beenden 59
Kap. 36 Unbegrenzte
Möglichkeiten 61
Kap. 37 erwischt 66
Kap. 38 Rübermachen 68
Kap. 39 Arbeit vorbereiten 68
Kap. 40 Chef sein 74
Kap. 41 Beim Militär 77
Kap. 42 Rakete 79
Kap. 43 Fabrik 82
Kap. 44 Der Tod 83
Kap. 45 Zauberer 84
Mitte des Lebens
Kap. 46 Im Institut 85
Kap. 47 Liebe in Venedig 88
Kap. 48 Prager Winter 91
Kap. 49 Die Hütte 93
Kap. 50 Russen schießen,
Araber stechen 96
Kap. 51 Im Bunker 97
Kap. 52 Ungewöhnliche Fracht 98
Kap. 53 Die Studie 100
Kap. 54 Sonderschule 101
Kap. 55 Unter Arabern 100
Kap. 56 Kleks 106
Kap. 57 Indianerspiele 108
Kap. 58 Die Rettung 111
Kap. 59 Hinter dicken Mauern 115
Kap. 60 Freischwimmer 117
Kap. 61 Die Russen 119
Kap. 62 Auf der Jagd 120
Kap. 63 Der Fund 122
Kap. 64 Auf der falschen Seite 123
Kap. 65 Arena 125
Kap. 66 Kreativ sein 123
Erwachsen werden
Kap. 67 Franzosen 129
Kap. 68 Machtspiele 130
Der Rest des Lebens
Kap. 69 In der Schweiz 131
Danksagung 132, Worte zum Schluss 133
Glossar 134
Kindheit
Geburt unter anderen Umständen
Seine Mutter, eine dunkelhaarige Frau, war hochschwanger. Seine Eltern guckten Kuhlenkampff im Fernsehen, das konnte dauern, der überzog immer. Als sie merkte, dass es bald so weit sein würde, nahm sie ihren Mann und wollte ins Krankenhaus fahren. Auf der Straße bekamen sie kein Taxi. Neue Strategie, seine Mutter versteckte sich im Dunkeln eines Hauseingangs und sein Vater winkte eine Droschke heran. Sie hatten den Fahrer überrumpelt. In der Schwesternstation wurde seine Geburt als kompliziert diagnostiziert. Da es inzwischen Sonntag war, wollte kein Arzt zum Dienst kommen. Nach einigen Anrufen der aufgeregten Schwester bekam diese zur Antwort: „Kann das Kind nicht am Montag geboren werden?“
Es dauerte Stunden und es stand nicht gut um ihn. Er wollte sich nicht umdrehen und seine Nabelschnur war einige Male um seinen Kopf gewickelt. Aber er wurde in die Welt geholt, leicht lila und geschwächt. Hämpelchen war geboren.
Verschickt
Der kleine Junge, ein Hänfling, grad fünf Jahre alt, verbrachte seine Kindheit in einer Kreuzberger Mietskaserne. Das alte Westberlin grau, muffig und voller Smog.
Er wurde verschickt. Der kleine Mann sollte an die frische Luft, nach Westdeutschland. Die Wahl fiel auf Plön. Ein Schullandheim am See. Dort angekommen, wähnte er sich in den Fängen von Jesusjüngern. Die kleinen Jungen und Mädchen saßen auf dem nackten kalten Fußboden einer alten Villa, und ein bärtiger Mann mit langem ungepflegten Haar schüttete verwirrt verschiedene Flüssigkeiten ineinander. Diese verfärbten sich.
Tagsüber sprangen sie über Gräben auf sonnigen Feldern, die zur Entwässerung angelegt wurden. Sein Zimmergenosse war übermütig und fiel hinein, der musste all seine Klamotten selbst waschen.
Hämpel dachte, die Anleiter hatten keinen Spaß und die Kinder nervten nur. Schon morgens sah er, wie einige seiner Kumpane weinend die Treppe runtergejagt wurden, riesige Berge von Bettwäsche tragend, um sie unten in der Waschküche einzuweichen. Sie hatten in der Nacht eingepullert. Gut, dass ihm das nicht passiert war.
Dann wurden sie in den Stall geführt. Es gab die ersten Osterlämmer. Später am Vormittag dürften alle eine Postkarte für die Familie bemalen. Schon der nächste Tag wurde schrecklich, er hatte Geburtstag, seine Eltern hatten ihm nicht geschrieben. Normales Frühstück, er war kurz davor, zu weinen. Das Wasser sickerte schon in die Klüsen. Der
Morgen lief dann ab wie immer, es gab lauen roten Tee, altes Kommissbrot und muffigen fettigen Belag, die Marmelade war flüssig. Der Essenlift kam hoch.
Da stand eine Geburtstagstorte. Von seinen Eltern. Mit Kerzen sogar. Er war erleichtert. Es gab Spiele: Eine Polonaise, Reise nach Jerusalem und Topfschlagen, der beste Tag der Verschickung, wie Geburtstagshämpel es empfand.
Die Zeit verging bleiern, er wachte auf. Hämpel hatte Fieber und seine Backe war dick und schmerzte. Als er sich umsah, waren alle seine Zimmergenossen schon aufgestanden. Später kam eine Betreuerin zu ihm und sagte, er hätte Mumps und bliebe er ein paar Tage alleine, es ist ansteckend. Jetzt schwoll die andere Backe an, von draußen. Es drangen Chöre und Gelächter an sein kleines rötliches Ohr: „Ziegenpeter, Ziegenpeter!“
Die zwei Wochen neigten sich dem Ende zu, seine Eltern holten ihn ab. Sie liefen um den Plöner See. Er rannte auf die Wiese, da gab es nur die Farben rot und schwarz. Es roch nach Käfern. Hämpel kannte diesen Geruch aus der Hecke seiner Großeltern, es waren Mariechenkäfer, Abermillionen. Sein Vater holte ein leeres Einmachglas aus dem Auto, einem grasgrünen R4. Hämpelchen zog es durch die Luft und füllte das Glas randvoll. Zum Zeigen. Für die Schulkameraden. Nach der langen Fahrt über die Transitstrecke roch`s in dem Gefäß, die Käferchen waren tot.
Vor der Schule
Der kleine Hämpel war ein Junge, der sich zweimal durch die Vorschule quälte, die anderen Kinder beachtete er nicht. Der Schüchterne hatte bei der Schuleingangsuntersuchung ein Strichmännchen mit vier Fingern gemalt. Hämpel hielt das für kreativ. Dafür wurde er ein Jahr später eingeschult. Seine Vorschullehrerin hieß Frau von Meyer-Boskop. Eine strenge Dame mit grauem Dutt. Groß und immer laut. Der kleine Hämpel sollte sitzen und lernen: Pünktlichkeit, Disziplin, Aufmerksamkeit, Gehorsam und ordentlich ausmalen. Das war ihm zu viel. Er versteckte sich lieber unter dem Tisch. Lesen konnte Hämpelchen schon, das hatte er mit seiner Mutter gelernt. Mit Buntstiften umgehen, das hatte er im Kindergarten. Die anderen Dinge waren ihm nicht so wichtig. Hämpel war froh, dass er das hinter sich hatte, jetzt würde etwas Neues beginnen: das Lernen. Im August wurde er endlich eingeschult, Hämpelmann freute sich schon.
Grundschule
Ein warmer Sommertag im August. Der abgebrochene Häm- pel stand in kurzer blauer Hose mit Trägern und einem ge- ringelten T-Shirt vor einem Beet voller akkurat geschnit- tener Rosenstöcke, die wenig Platz für einige ver- zweifelte dunkelrote Blüten ließen, das in grauem Beton eingefasst war. Die Sonne brannte ihm auf den Pelz. Der mit schwarzem verstaubten Teer ausgekleidete Schulhof war voller Einschüler und deren Eltern. Des Hämpels Schultüte war von der Mama selbst gebastelt und das Tollste an dem Tag. Die Schule kannte er schon. Vorne auf dem Gelände über der Durchfahrt war seine Vorschule. Diesmal war er durchgegangen geradeaus; der Grundschulteil in preußischem grau, der letzte Krieg hatte nur eine leicht geriffelte Fassade übrig gelassen. Der Eingang klaffte riesig, wie das Maul eines Walfisches. Er schaute verschüchtert auf die übel- launigen Sonderschüler. Schon auf dem Weg zur Vorschule musste er auf seine Groschen aufpassen, war er zu spät oder zu früh, wurde Hämpelchen angehalten und sollte Wegzoll berappen. Meist exakt der Betrag, den der kleine Mann in der Tasche hatte. Konnte er nicht bezahlen, hatte er Schulden bis zum nächsten Tag und sonst gab`s Kloppe. Oder er war schnell, schneller als seine Peiniger, das war er selten. Der Grundschüler hatte jetzt neue Ziele, Schülerlotse zu werden, dann stand man vor der Schule, oft von einem Polizisten in Uniform bewacht - Herrn Weiß. Der kontrollierte mit stren- gem Blick. Da traute sich keiner der Kerle was, mit dem Kopf gebeugt schlichen sie an ihm vorbei, sie blieben sogar am Bordstein stehen, bis sie rüber
laufen dürften. Leider ging das erst ab der dritten Klasse, weit hin. Sich neue Freunde suchen, die größer und muskulöser waren und das Hauen für ihn übernahmen. Ein Superplan.
Dann tauchte er auf: Herr Böse, ein großgewachsener Kerl, bullig, schlohweiß und Pomade im Haar. Ein Mann wie er brauchte kein Megafon, er erhob die Stimme und es drehten sich 150 Köpfe erschrocken in seine Richtung. Der war aus dem alten Nazireich übriggeblieben. Direktor Böse stellte seinen Lehrkörper vor wie seinen Harem. Darunter Frau Fetteber, seine neue Lehrerin. Ein lustiger Bubikopf schmückte ihr Haupt. Ansonsten war sie eher schmächtig, so als wäre sie im falschen Jahrzehnt geboren und direkt aus den Zwanzigern entsprungen. Nach Trennung zweier erster Klassen und einem gemeinsamen Foto schritten sie in den 1. Stock in seinen neuen Klassenraum. Hämpel verschwand hinter seiner Schultüte, hatte sich neben seinen besten Freund geschummelt, den er aus seinem Wohnhaus und dem Kindergarten schon kannte. Mit Vornamen hießen sie gleich: Arne, weshalb sie von den Eltern Annernerarne und von den Kindern Hämpel und Raufi genannt wurden. Der andere trug den Nachnamen Raufbold, was aber gar nicht zu ihm passte. Er war kleiner und hatte eine Brille.
Bei Opa
Sein Großvater kam angeknattert, durch den Osten mit einem grauen VW Käfer mit Boxermotor, laut und zuverlässig. Er holte ihn ab, um mit ihm die ersten Ferien in der Kleinstadt zu verbringen, in der seine Mutter groß geworden war. Sie stellten sich an. Für die Grenzkontrolle in Dreilinden musste Hämpel nach hinten, vorne sitzen war nicht erlaubt. Er gab seinen eigenen Milchausweis ab. Auto an Auto reihten sie sich auf. „Waffen, Funkgeräte, Feuerwerkskörper, Kinder?“ fragte der Grepo bei der Vorkontrolle. „Ein Enkel.“ Sonst hielt sein Opa die Klappe. Ein westdeutsches Kennzeichen, ein Kind. Sie wurden in eine Garage gelotst. Sie filzten den ganzen Wagen. Sogar einen Vordersitz bauten sie aus. Mit Spiegeln guckten sie unter das Auto und in die Motorklappe. Hämpel schaute, wie sein Ausweis mit einem langen Laufband transportiert wurde. Kaum hatten sie die Grenze passiert, sagte sein Opa: „Wieso brauch’n die welche? Kletter nach vorne, Kleiner. Wir halten nicht an. Nicht bei den Iwans.“ Er setzte eine Flasche an und pinkelte hinein. Der Enkel staunte. „Hab‘ ich bei den Panzerfahrern gelernt.“ Das war das einzige Mal, das Hämpel seinen Opa vom Krieg hatte erzählen hören. Dann wurde sechs Stunden geschwiegen, der Wagen war zu laut und kalt.
Kleingarten
Die Sommer verbrachten der kleine Hämpel und seine Familie im Schrebergarten. Unweit eines verlassenen S-Bahnhofs, zwischen einer Müllabladestelle und einer un- fertigen Autobahn stachen arme Berliner nach dem 2. Welt- krieg kleine Stücke Land ab. Dort hinein fuhren sie Sand und Muttererde mit Schubkarren. Dann pflanzten sie Bäume und Sträucher und legten Gemüsebeete an. Zur Eigen- sorgung. Die Vorbesitzer der Parzelle seiner Eltern waren faul, ihr Garten lag einen Meter tiefer als alle anderen. Seine Mama hatte ihm einmal gezeigt, wie man von der Schule mit der U-Bahn und dem Bus zur Sonne kommt. Von da an hatte er eine Monatskarte um den Hals wie andere Kinder ihren Schlüssel und fuhr mit dem 84er Bus vom U-Bahnhof Kleist- park in Schöneberg in Richtung Garten. Ein Doppeldecker, auf dieser Linie verkehrten die alten Omnibusse, mit zwei Türen, vorne der Fahrer, hinten der Kontrolleur, der stets eine kleine Wechselgeldkasse bei sich trug. Das wollte er später mal werden. Der Nachbar hatte zusammen mit seinem Vater eine Vorlaube gebaut. Eine Mauer trennte einen weiteren Gebäudeteil von der Laube ab und ein durchsichtiges gelbes Wellblechdach aus Plastik überspannte dieses. Eine Schwelle separierte diese vom Garten. Wasser hatte sein Vater neu verlegt. Es war jetzt vor der Laube und hatte unter dem Hahn eine kleine Grube, in der alles versickerte. Sie hatten etwas mehr Platz und stellten ein Etagenbett und zwei Betten, und am Wochenende übernachteten sie. Die Kinder freuten sich. Sie redeten die ganze Woche von nichts anderem.
Hämpel hatte inzwischen einen kleinen Bruder, der zwei Jahre alt war.
Am Samstagabend regnete es aus Kübeln, es gewitterte, heftig. Sie guckten aus dem einzigen Fenster und hörten den Donner und sahen die Blitzeinschläge um sich herum. Langsam lief der Garten voll und die neue Grube fasste keinen Tropfen mehr. Seine Mutter war damit beschäftigt, immer wieder Wasser aus der Laube nach draußen zu schaufeln. Die Landschaft glich einem kleinen See. Dann schlugen zwei Blitze fast gleichzeitig ein, einer in den Apfelbaum beim rechten Nachbarn und er schwebte über den gesamten Wasserfilm in den Gärten. Dann gegenüber in einen großen Birnenbaum, der sofort anfing, lichterloh zu brennen. Sie beobachteten das Schauspiel, bis der heftige Regen das Feuer löschte und der Baum unter einem Ächzen zusammenbrach.
Allein zu Haus
Es war Donnerstag Abend. Er wachte von seinem Nachmittagsschlaf auf. Es war inzwischen stockdunkel. Er suchte seine Eltern, denn sein Bruder lärmte schon wieder. Er lief den 15 Meter langen Flur entlang, in der Küche war keiner. Er wetzte im Bad vorbei, öffnete die Tür, guckte in die Wäschekammer. Nichts. Aufgeregt rannte er ins Wohn- und Esszimmer, niemand da. Das war seltsam. Langsam wurde ihm mulmig, inzwischen weinte seine Keule. Er hatte Hunger oder Angst. Er versuchte, seinen kleinen Bruder zu befragen, aber da er schluchzte, war nichts zu verstehen, nur Brocken kamen aus seinem Mund. Er schlich zur Wohnungs- tür. Die Kette war nicht da. Gleich mal verrammeln, er legte sie davor. Seine Angst kam wieder hoch. Seit sie vor einigen Monaten die Kassette der Tür eingetreten und am Wochen- ende die ganze Bude ausgeräumt hatten, hatte er tierischen Schiss vor Einbrechern. Dann kam ihm die Idee. Seine Mutter hatte doch dieses neue schicke Elektromesser zu Weihnachten geschenkt bekommen. Er holte es aus der Küche. Er nahm seinen Bruder, der nur leise vor sich hin wimmerte und sie versteckten sich unter dem alten Tisch. Das Messer umklammerte er. Dass es keinen Strom hatte, bemerkte der Schisshase Hämpel nicht. Stille. Dunkelheit, er hörte seinen Bruder atmen. Es rumpelte an der Tür, jemand steckte einen Schlüssel ins Schloss. Er drehte ihn um. Einbrecher mit einem Dietrich. Der kleine Detektiv hatte davon gelesen. Aber sie kamen nicht rein. Es gab ja die Kette. Jetzt schlug die Tür auf und erstarrte jäh mit der Länge
der Glieder. Sie wurde hin- und her gezogen. Hämpel pinkelte sich fast in die Hose.
Von Weitem hörte er ein Rufen: „Arne, macht mal auf! Wir sind`s.“ War das die Stimme seines Vaters? Er wollte sicher sein und horchte nochmal genau. Der Puls dröhnte ihm in den Ohren, sein Bruder umklammerte ihn fest, ihm wurde warm. „Jetzt macht doch mal auf, wir sind`s eure Eltern.“ Das war die Stimme seiner genervten Mutter. Hämpel kroch erleichtert an die Tür und zog die Kette beiseite. Sauer war er trotzdem. Seine Eltern erzählten, sie wären einkaufen gewesen. Bei AGM. Die hätten abends auf. Hämpel war sicher, nachts hatten Supermärkte wie Gebrüder Manns geschlossen.
Todesbahn
Sein Bruder und er waren mit ihrem klappbaren Schlitten in die Hasenheide unterwegs. Es war Winter. Der Schnee lag frisch und knirschte unter den Schuhen. Seine Keule saß im Skianzug hinten drauf, er zog. Der Renner war aus Aluleichtrohr, rot lackiert und hatte kleine Holzverstrebungen. Wenn Hämpel rannte, schimpfte sein Bruder: „Nich sooo schnell!“ Sie wanderten die Rixdorfer Höhe hoch, ein Trümmerberg. Der Atem ließ kleine Wolken in die Luft aufsteigen. Pudelmützen wärmten ihre Köpfe. Oben angekommen, suchten sie sogleich die Bahn. Sie führte durch den Wald, knapp zwischen den Bäumen hindurch. Er schob den Schlitten an und war hinten aufgesprungen, sein Bruder schrie. Sie flitzten den Berg hinunter, über eisige Hubbeln, schrammten an Baumrinden vorbei. Dann der Rundweg, Hämpel rief zur Sicherheit: „Weg da!!!“ Drei Polizisten fuchtelten mit den Armen, stellten sich in den Weg, damit sie nicht in das Urstromtal wechselten. Sie rasten über die gestreute Fläche und weiter runter. Ein Blauer winkte wild hinter ihnen, in der Mitte der Superhubbel, jetzt hob der Rodel ab und landete auf der Seite. Beide lagen sie unter dem Gerät. Sie ächzten, seine Keule weinte ein wenig und versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Sie standen auf und rannten. Hämpel zog den Schlitten hinterher, sein Bruder lief fast neben ihm und rief: „Warte!“ Einer der Uniformierten verfolgte sie und schrie: „Stehenbleiben, Polizei!“, gab aber kurz vor den Schotterbergen auf.
Darauf fuhren sie ein bisschen rauf und runter und
beobachteten von weitem, wie andere Schlitten abschmierten.
Sein Bruder brüllte schon wieder, diesmal heulte er laut. Er rannte zu ihm. Der blaue Anzug war am Bein aufgerissen, eine lange Strieme zog sich über den kleinen Oberschenkel. Dickes rotes Blut rann aus der Wunde. Er lud die Keule auf den Schlitten und zog ihn schnell hinter sich her. Er hechelte. Sein Bruder wimmerte. „Wo fahrn wir hin?“ „Urban.“, sagte er trocken und schnaufte weiter. Er meldete sich leise von hinten, seine Stimme war weinerlich, er war kaum zu verstehen: „Des muss aba nich jenääht wern?“ Atze Hämpel überlegte kurz: „Nee, gloob nich,“ flüsterte er in sich hinein, oder dachte er das nur? Er schwieg. Sein Bruder und der Schlitten wurden schwerer, die Wege uneben.
Der Schnee verschmolz zu dreckigem Matsch. Hier und da dampfende Hundekacke und gelbe Pisse der Köter, überall Sandkiesgemisch, grobkörnig vor vielen Häusern ein platter roter und grauer Belag, die Hausmeister hatten mit Asche gestreut. Der Rauch der Kohleöfen lag in der Luft. Der Himmel hatte die Farbe Gelb angenommen. Smog. Er hustete. Pseudokrupp. Das hatten hier viele Kinder. Geibelstraße. Gleich waren sie da.
Die Dame am Empfang kannte ihn schon mit Namen: „Watn heute?,“ fragte sie verschmitzt. „Nich, icke,“ sagte Hämpel: „Diesmal meen Bruda. Kleiner Kratzer, von son Drahtzaauun.“ „Lass ma kiecken, ohh, sieht nicht jut aus.“ Er hatte es gewusst, die ganze Zeit. Sein Bruder sprach lange nicht mit ihm.
Kriegspiele
Sie trafen sich nachmittags bei Bilka, das lag am Kottbusser Damm und vor dem kleinen Restaurant im 2. Stock gab es Spielautomaten, Flipper und elektronische Videospiele. Hämpel hatte sein Feuerzeug so manipuliert, dass er den Space Invadas Automat blitzen konnte, sie hatten 99 Freispiele, die an diesem regnerischen Nachmittag abgespielt werden mussten. Ab und zu verjagte sie der Restaurantleiter: „Lungert hier nicht rum.“ Sobald er nicht mehr zu sehen war, schlichen sie wieder an die Front.
Pfadfinder
Sommerferien, Hämpel spielte mal wieder im Garten. Die Sonne brannte. Es war Hochsommer und 25 Grad.
Der Nachbarsjunge, 4 Jahre älter als er, Hämpel war acht geworden, kam von großer Fahrt zurück. Das Haar lang und zerzaust und von der Sonne blondiert. Der Nachbar hatte eine kurze zerrissene Jeans an, ein blaues Hemd mit schicken Aufnähern, ein Halstuch und erzählte von Zugabteilen voller Ameisen, Zelten und Lagerfeuern. Da wollte Hämpel hin.
Ein paar Wochen später, am Ende der Sommerferien, war es soweit. Hämpel fuhr mit der Bahn von Süd nach Nord. Seine Mutter brachte ihn beim ersten Mal hin, die Linie 6 war nur ein Fragment. An den Bahnhöfen im Osten der Stadt schlich sie ohne Halt durch, bewacht durch Grenzsoldaten, die durch gläserne Sehschlitze schauten. Jeder Bahnhof leer
und verlassen, schummrig beleuchtet, verstaubt. Hämpel
Drückte sich die Nase an der Scheibe der Waggontür platt. Er konnte die Spannung nicht aushalten. Geisterbahnhöfe, er hatte davon gehört. Plötzlich grelles Licht: Die Bahn fuhr schneller in den U-Bahnhof Friedrichstraße ein: hellgrün, durch Leuchtstoffröhren beleuchtet und voller alter Omas. Intershop prangte in großen Lettern über dem mittigen Kiosk. Die Abteiltüren des Waggons wurden aufgestoßen, er wurde fast von einer Alten umgerannt, den Krückstock unter dem Arm, der kleine Hämpel hatte nicht mit ihrer Schnelligkeit gerechnet.
Er saß auf einem Heimabend, gleich zwei Gruppenleiter, für die es das erste Mal war. Der Nachbarsjunge aus dem Garten, ein bekanntes Gesicht, alle anderen älter als er und ein Langer. Der Raum dunkel und mit rauem unbehandelten Holz getäfelt. „Goldhütte“ nannten sie das Heim. Erstmal wurde er wieder weggeschickt, er war zu jung und zu lütt. Sein typisches Problem.
Ein halbes Jahr später war er doch Pimpf, so nannte man die kleinen Pfadfinder und der lange Lulatsch war sein Hortenleiter. Sein Spitzname war Knaller. Weil der so durchgeknallt war, dachte Hämpelpimpf. Sie fragten ihn, er erzählte die Geschichte nie.
Die erste Fahrt ging über Pfingsten nach Pottenstein. Das war in der fränkischen Schweiz. Ein Reisebus fuhr dorthin. Die ganze Truppe hatte gute Laune. Dort angekommen, wurden Kothen und eine Jurte aufgebaut. Am zweiten Tag gab es ein Geländespiel. Die Größeren hatten sich einen Atomunfall ausgedacht. Hämpel war eines der Opfer. In eine
weiße Mülltüte gehüllt, auf einer provisorischen Trage aus zwei kleineren Baumstämmen und einem Poncho und fies
Geschminkt. Er wurde mit anderen Opfern über einen Campingplatz getragen. Schmetterling, ein Geschichtenerzähler, wollte die Sache so echt wie möglich aussehen lassen. Er erzählte in allen Facetten den Bewohnern, wie der Atomunfall passiert ist und dass dies die ersten Opfer wären. Als Polizei und Feuerwehr alarmiert waren, machten sie sich vom Acker. Der Spuk war schnell vorbei.
Abends gab es eine Nachtwanderung in verschiedenen Gruppen. Es war Teil II des Geländespiels. Pimpf Hämpel wurde in Schmetterlings Truppe eingeteilt. Der hatte vor, über eine Mauer zu klettern. Dazu bauten sie eine provisorische Leiter. Am nächsten Tag liefen sie zufällig nochmal daran vorbei, auf dem Schild stand: „Wüschheim Air Station“.
In den Sommerferien ging es auf große Fahrt: Nach Schweden. Den Jungen ins Ausland zu schicken für wenig Geld und ihn für drei Wochen wegfahren zu lassen, dafür hatten seine Eltern die Penunse. An Reisen wurde in seiner Familie nicht gespart. Im Gegensatz zu den Jungen in seiner Straße, fuhr er diesmal nicht in ein Landschulheim, sondern in die große Welt.
Bahnhof Zoo, betrieben von der Reichsbahn der DDR, die Eltern kauften Bahnsteigkarten, um ihn zum Zug zu bringen. Alles, was Hämpel dabei hatte, war ein kleiner Rucksack namens Affen mit braunem Kuhfell auf dem Rücken. So ein
Ding hatte schon sein Opa nach Stalingrad getragen. Seinen Schlafsack aus dem Armeeladen bedeckte ein Poncho der US-Armee und wurde wie eine Wurst um den ganzen Rucksack geschlungen und festgezurrt. Die anderen Leute auf dem Bahnsteig gucken fragend, wo will der kleine Junge mit dem großen Gepäck hin. Rein in den Zug. Die Eltern waren schon nicht mehr wichtig, obwohl sie hektisch und aufmerksam außen folgten und an der Scheibe des Abteils auftauchten, als sie sich hinfläzten. Rucksäcke ins Gepäcknetz und Sitzplätze einnehmen. Hunger kam auf. Es wurde schon ausgepackt, da hatte der Zug nicht ein Stück geruckelt. Lautes Pfeifen, den Eltern schnell gewunken und auf die Pizza gestürzt, die eine Mutter gestern gebacken und heute kalt mitgegeben hatte, köstlich. Vor dem nächsten Halt war alles aufgegessen.
Friedrichstraße, Ostbahnhof und der Zug eilte durch triste Landschaften von Feldern und grauen Häuschen: Die Zone. Aufgeregter Hämpel mit seinem besten Kumpel Raufi die ganze Zeit am Fenster. Er hatte ihn mitgeschleppt. Hier nannten ihn alle nur Schlürfer, da er so langsam lief und seine Füße dabei nur wenig anhob. Die beiden waren gegenüber des Abteils, soweit als möglich aus dem Ausguck gelehnt. Sobald vorne ein Bahnbeamter raus guckte, schnell zurück ins Kabuff. So tun als wäre nichts, bevor der kam. Ihre Reise ging voran, begleitet von dem monotonen Dong Dong der Räder auf den Schienen. Alle hatten ihren Milchausweis fest in der Hand, der war in DIN A5 geknickt und in einer Klarsichthülle. Schmetterling hatte einen kleinen grünen Ausweis. So einen Richtigen, ab zwölf hatte der sich einen
machen lassen. Er zeigte sein Foto, genauso milchgesichtig wie sie. Nur, dass er heute langes Haar, einen Bart hatte und 17 war. Vom Gang dröhnte eine Stimme: „Die Reeeiiisedokuumende, bidde“. Knaller bat sie, sie sollen sich zusammenreißen und die Klappe halten. Dann waren sie an der Reihe: Abteiltür mit einem energischen Ruck aufgezogen und den Bauchladen aufgeklappt, das Sprüchlein. In dem Moment Schulski, der bebrillte Vorlaute: „Du siehst ja würklich nich aus wie uf dem Foto!“ Bumms. Das hatte gesessen. Der Grepo sammelte alle Ausweise ein und ward lange Zeit nicht mehr gesehen. Drei standen da: der von vorhin, ein dicker Älterer mit vielen bunten Orden aus Plastik am Revers und ein Russe. Andere Uniform, Maschinengewehr umgehängt und an der Leine einen Schäferhund, an dessen Lefzen der Speichel glänzte. Inzwischen hatte der Zug in Saßnitz am Fährbahnhof gestoppt. Die ganze Horte wurde aufgefordert, auszusteigen. Der Bahnsteig war kalt, dunkel und Fähre fuhr ab. Mit dem Zug, ohne die Gruppe. Nach einer Weile wurde ihm langweilig und kühl, er wollte auf die Gleise springen, ein „Mhhh!“ Und der strenge Zeigefinger des Russen machten ihm klar, dass die weiße Linie Sperrgebiet war und das keine gute Idee. Er hatte den Eindruck, dass wahr werden könnte, was ihm der Vater immer und immer wieder erzählt hatte: Der Russe kommt. Er würde für ewig in der DDR bleiben müssen. Er hatte Angst, das erste Mal in seinem Leben wirklich Angst.
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