Kitabı oku: «Brand und Mord. Die Britannien-Saga», sayfa 14

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„Aber weshalb auf einmal diese Eile? Vor der Schlacht nahmen wir uns Zeit, die Toten zu begraben und nun, wo Eboracum keine Gefahr mehr droht, hetzen wir nach Norden?“ Ceretic war verwirrt.

„Er hat recht“, pflichtete ihm zu seinem Erstaunen Vortimer bei, der gemeinsam mit den übrigen Ratsmitgliedern am Feuer saß. „Müssen wir so lange marschieren? Das Heer ist erschöpft und gestern haben wir die Schlacht gewonnen.“

„Und die Sachsen haben sogar gestern und vorgestern gekämpft“, stimmte Ceretic zu.

„So hart kann das wohl nicht gewesen sein, die Pikten sind doch gleich geflohen“, warf Vortimer mit säuerlicher Mine ein.

Hätte mich auch gewundert, wenn er seine Haltung gegenüber den Sachsen grundsätzlich änderte, dachte Ceretic mit so etwas wie Befriedigung.

Doch Vortigern beachtete weder die Einwände seines Beraters, noch die des Sohnes. „Wir müssen nach Eboracum, bevor die Nachricht unseres Sieges dort eintrifft. So können wir Ahearn überraschen und dann wird er es nicht wagen, mir den Gefolgschaftseid zu verweigern. Die nördlichen Kleinkönige sind zu sehr auf ihre Eigenständigkeit bedacht, aber der einzige Hochkönig bin und bleibe nun mal ich! Auch Ahearn und der Norden müssen sich mir beugen.“

Tatsächlich lag bereits am frühen Nachmittag des nächsten Tages Cair Ebrauc vor ihnen in der Sonne. Die Regenwolken hatten sich gänzlich aufgelöst. Die mächtigen römischen Mauern ragten grau und drohend aus der hellen Sommerlandschaft. Ceretic konnte das Rechteck des alten Militärlagers im Norden der Stadt, zwischen den beiden Flüssen Ouse und Foss gelegen, von ihrem erhöhten Standort aus gut erkennen. Eboracum selbst erstreckte sich inzwischen über die Ufer beider Flüsse hinweg und die Mauern reichten im Süden fast bis an den Zusammenfluss. Das Umland der großen Stadt dagegen lag eigentümlich leer und verlassen zu ihren Füßen.

„Sie beobachten uns voller Sorge. Vermutlich halten sie uns für Kolomans siegreiche Pikten“, kommentierte Vortigern mit hämischem Grinsen. „Schwärmt aus und lasst unsere Banner wehen!“, ordnete er dann an und die Kolonne marschierte in ganzer Breite auf. Die Britannier entfalteten ihre Flaggen. Heilige, Kreuze, Tiere und Drachen flatterten auf bunten Tüchern über ihnen.

„Vorwärts!“, befahl der Hochkönig und die britannische Streitmacht marschierte mit breiter Front auf das große Torgebäude im Südwesten von Eboracum zu. Die Fahnen knallten im Wind und in Ceretics Brust machte sich ein erhabenes Gefühl breit, zu dieser siegreichen Macht zu gehören. Und nicht nur das. Er selbst, Ceretic ap Ruohim, hatte all dies überhaupt erst ermöglicht!

Schließlich kamen sie bis auf Rufweite an die abweisenden Mauern heran. Mächtige Türme flankierten das doppelte Tor. Zwischen den Zinnen auf der Mauerkrone sahen sie dicht gedrängt die Krieger des Nordens.

„Wer seid ihr?“, rief ihnen ein Mann mit dröhnender Stimme entgegen.

„Wer fragt?“, hielt Vortigern mit lauter Stimme dagegen. Er wollte sich offensichtlich nicht wie ein Bittsteller ausfragen lassen.

„Ich bin Ahearn, König von Elmet und Herr in Cair Ebrauc“, erhielt er zur Antwort.

„Und ich entbiete dir und den Kriegern des Nordens meinen Gruß. Ich bin Vortigern, euer Hochkönig und führe die Macht Britanniens herauf, um euch von den Pikten zu befreien!“

Einen Atemzug lang herrschte Stille, dann brandete lauter Jubel von den alten Mauern Eboracums auf. Bald öffnete sich das Tor und allen voran eilte Ahearn dem Hochkönig entgegen.

„Ihr habt die Pikten umgangen?“, fragte er staunend, als er Vortigern und einige britannische Edle erkannte.

„Ich habe sie vernichtet“, antwortete Vortigern stolz. „Prinz Koloman liegt erschlagen am Ufer des Abus. Ihr Krieger des Nordens könnt getrost in eure Weiler und Höfe zurückkehren. Euer Hochkönig hat euch Frieden gebracht und eure Feinde zertreten.“

Ahearn starrte ihn mit offenem Mund an, während seine Begleiter wiederum in Jubel ausbrachen. Schließlich fasste er sich. „Seid uns umso mehr willkommen … König Vortigern.“

Ceretic hatte die etwas zu lange Pause im Satz bemerkt. Der König von Elmet hatte sich noch nicht dazu durchgerungen, Vortigern als Hochkönig anzuerkennen. „Seid uns willkommen in Cair Ebrauc. Du und deine Krieger aus dem Süden.“ Neugierig ließ er den Blick über Vortigerns Heer schweifen. „Viele deiner Banner kenne ich“, bemerkte er, „doch wer sind die Riesen mit den runden Schilden und blonden Bärten?“

Vortigern schaute grinsend zu den Sachsen hinüber, die nun zu seiner Rechten Aufstellung bezogen hatten. Dann spielte er den nächsten Trumpf aus. „Das sind Sachsen, sie leisten mir Gefolgschaft, wie bald auch schon die Pikten“, behauptete er listig.

Ahearn erbleichte und das aufgeregte Geplauder seines Gefolges erstarb augenblicklich. „Du hast diese Geißel Gottes tributpflichtig gemacht?“, fragte er erschrocken.

Gut, dass der stolze Hengist das nicht versteht, dachte Ceretic, während er gespannt die Unterredung verfolgte.

„Im Kampf sind sie ganz nützlich“, bemerkte Vortigern mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Nicht wahr, Ceretic?“ Dabei sah er ihn Bestätigung heischend an. „Ceretic ist einer meiner Ritter. Er versteht ihre Sprache und befehligt sie“, erklärte er.

Ceretic reckte stolz die Brust. „So ist es, Herr“, bestätigte er.

Hinter ihm sog Vortimer fauchend die Luft ein und als Ceretic sich kurz umwandte, sah er, dass der Prinz ebenfalls zum Platzen gespannt war, wenn auch nicht vor Stolz, sondern vor Neid.

Doch Ahearn lenkte seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn. „Mein Hochkönig“, brachte er hervor und sank auf die Knie. „Willkommen im Norden deines Reiches. Wenn es dir gefällt, kannst du in die Stadt einziehen, aber gewähre uns eine Bitte: Lass deine Sachsen draußen vor den Toren!“

Eboracum, Juni 441

Ordulf

Eboracum war mit Mauern befestigt, die denen von Londinium glichen. Bewundernd glitt Ordulfs Blick über die Ecktürme des Tores. Achteckige Steinsäulen von unglaublicher Größe. Wie hatten diese sagenhaften Römer den Stein in solch eine Form gezwungen?

Ceretic hatte ihnen erklärt, dass sie vor der Stadt lagern sollten. Ordulf war enttäuscht, er hätte gerne auch die Gebäude im Inneren dieser Stadt bestaunt. Thiadmar dagegen war erleichtert. „Mir sind diese Steinklötze nicht geheuer“, gestand er.

Gerolf, der sich seit dem Tode Ypwines bei den beiden jungen Männern hielt, schnaufte zustimmend: „Das ist eine unnatürliche Art zu leben, hinter diesen Steinklötzen.“

Zwei Wochen später befanden sie sich wieder in Thanet. Vortigern hatte sie auf Pferden zurück nach Londinium geschickt, wo sie ihre wartenden Schiffe bestiegen. Diesmal ruderten sie die Schiffe direkt in das Fleet hinein, das Ypwine vor ihrem Marsch nach Norden entdeckt hatte.

„Endlich können wir den armen Ypwine beisetzen“, sagte Gerolf zu seinen beiden jungen Freunden, als sie die Heritog aufs Land zogen. „Wir wollen ihm einen Hügel aufschichten, hier, wo er sich einen Hof bauen wollte.“

Das Fleet war tatsächlich ein hervorragender Winterhafen und Hengist entschied sich, ein dauerhaftes Lager zu errichten, für welches sich bei den Sachsen bald der Name „Ypwinesfleet“ durchsetzte.

Auf Vortigerns Befehl hin organisierte Ceretic britannische Handwerker, die den Sachsen beim Fällen der Bäume und beim Häuserbau zur Hand gingen und noch bevor sich die Blätter verfärbten, stand Hengists Halle. Das frisch geschlagene Holz leuchtete weiß bis weit auf die See hinaus und diente den Sachsen als Landmarke für die Ansteuerung des Ypwinesfleets, wenn sie mit ihren Schiffen ausfuhren, um neues Baumaterial, Kleidung oder Nahrung vom Festland zu holen. Ordulf bemühte sich stets auf solchen Fahrten dabei zu sein, denn die Seefahrt gefiel ihm besser als die Arbeit auf der Baustelle und er zeigte großes Geschick beim Steuern eines Schiffes. Hengist, der Ordulf inzwischen zu einem seiner wichtigsten Unterführer gemacht hatte, vertraute ihm bald die Heldir an. Ordulf wunderte sich manches Mal, warum ihm gerade der einäugige Halvor, der bis vor kurzem doch sein ärgster Feind war, hilfreich zur Seite stand. Halvor war bereits in Dithmarschen zum Fischen aufs Meer gefahren und kein unerfahrener Seemann.

So kam es, dass er eines Herbsttages zusammen mit Ordulf am Strand unterhalb von Rutupiae stand, wo sie Versorgungsgüter für die kleine sächsische Ansiedlung auf Thanet luden, als sich Ceretic raschen Schrittes näherte.

„Ceretic, alter Freund“, begrüßte ihn Ordulf. „Wie schön dich zu sehen!“

„Wie geht es dem Priester Tallanus?“, wollte Halvor wissen.

Ceretic schüttelte beiden die Hände. „Gut, gut“, erwiderte er. „Prächtig, dass ich euch beide hier antreffe. Gerade zu euch wollte ich.“

Die beiden Sachsen sahen Ceretic erstaunt an, als dieser fortfuhr: „Vortigerns Rat, also ich und die übrigen Ratgeber, haben überlegt, dass es doch sehr unpraktisch ist, wenn nur ich allein zwischen euch Sachsen und uns Britanniern übersetzen kann. Daher hat mir Vortigern befohlen, einigen Sachsen die britannische Sprache zu lehren. Und Tallanus hatte eine hervorragende Idee: Er möchte zwei Sachsen bei einem Freund unterbringen und unterrichten lassen, einem heiligen Mann in Londinium. Da dachte ich an dich, Ordulf, denn du hast dich schon in Durovernum rasch zurechtgefunden und Tallanus schlug dann noch dich vor, Halvor. Im Frühjahr, wenn wir wieder gegen die Pikten ziehen, kehrt ihr zu Hengist zurück.“

Ordulf schaute zu Halvor hinüber. „Ich für meinen Teil würde gerne ein bisschen mehr von Londinium sehen“, antwortete er. „In Ypwinesfleet wird im Winter ohnehin nicht viel los sein.“

Halvors Gesichtsausdruck hatte während des Gespräches zwischen Erstaunen und Unglauben geschwankt. „Zu einem heiligen Mann, so wie Tallanus?“, fragte er, als könne er das Gehörte nicht richtig einordnen.

„Ja, ja“, antwortete Ceretic eifrig.

„Genau darüber habe ich in den letzten Wochen nachgesonnen“, behauptete Halvor.

Nun war es an Ordulf und Ceretic, ihn erstaunt anzustarren. Der Ebbingemanne erwiderte ihren Blick ebenso ratlos, sodass Ordulf sich ein Lachen verkneifen musste. „Wie meinst du das, du hättest darüber nachgedacht? Wusstest du etwa, dass Ceretic uns diesen Vorschlag machen würde?“, fragte er spöttisch.

Halvor schüttelte den Kopf. „Tallanus hat mir damals am Abus einiges erzählt. Von seinem Gott und … anderen Dingen.“ Verlegen wandte er den Blick von Ordulf ab. „Jedenfalls habe ich mir sehr gewünscht, noch einmal mit ihm über diese Dinge sprechen zu dürfen. Und nun fragt Ceretic, ob ich nicht den gesamten Winter bei solchen heiligen Männern, wie Tallanus einer ist, verbringen will.“ Langsam verwandelte sich der erstaunte Ausdruck auf seinem Gesicht in ein Grinsen. „Dafür will ich nicht nur Britannisch, sondern auch lesen und schreiben lernen, wenn das nötig ist.“

Nun war es an Ceretic zu lachen. „Das wird wohl fürs Erste nicht notwendig sein. Schreiben tut man in Latein und das kann nicht einmal ich!“

„Wir müssen aber Hengist um Erlaubnis fragen. Schließlich ist er unser Herr und Herzog und muss uns ziehen lassen“, wandte Ordulf ein.

„Das ist richtig, doch bin ich guten Mutes, dass er seine Zustimmung gibt“, nickte Ceretic. „Wer sollte sonst für ihn die Wünsche des Hochkönigs übersetzen, falls mir mal etwas zustößt?“

Am Abend, nachdem sie in Ypwinesfleet die Ladung aus dem Bauch der Heldir in den neuen Scheunen verstaut hatten, unterbreitete Ceretic Hengist seinen Vorschlag.

„Nach Londinium sollen die beiden?“, fragte er zurück. „Warum nicht? Das ist allemal besser als Willerichs Plan. Der will mit seinen Männern nach Keydingen zurückkehren. Als würden wir hier nicht mehr gebraucht!“

„Mein Entschluss steht fest, Hengist“, entgegnete Willerich störrisch. „Wenn du uns brauchst, kommen wir im nächsten Frühjahr wieder, doch nun wird es höchste Zeit, zu Hause die Ernte einzubringen. Nicht jeder hat auf seinem Hof so viele Knechte wie du.“

„Und ich danke dir für deine Treue diesen Sommer. Du wirst nicht mit leeren Händen nach Sachsen heimkehren“, bestätigte der Held.

So waren die Dinge beschlossen. Willerich rüstete seine Selah für die Fahrt nach Sachsen. Die meisten Keydinger und einige der Dithmarscher folgten ihm. Hengist machte zwar ein saures Gesicht, doch verließ ihn niemand, ohne reich aus der piktischen Beute und Hengists Silberhort entlohnt zu werden.

„Ihr sollt in Sachsen nicht mit leeren Händen ankommen. Alle Welt soll erfahren, dass Hengist ein glücklicher und großzügiger Heerführer ist!“, rief er, als die Ruder der Selah bereits den Bug des Schiffes gen Sonnenaufgang wendeten.

Ordulf und Halvor packten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und ließen sich zusammen mit Ceretic nach Regulbium übersetzen. Vor Ordulfs geistigem Auge erschienen die Erinnerungen an seine ersten Tage in diesem neuen Land und ihren Ritt nach Durovernum. Und tatsächlich besorgte Ceretic ihnen in Regulbium wieder drei Pferde. Auf der flachen Römerstraße staunte Ordulf einmal mehr über dieses seltsame Volk, welches all diese Dinge gebaut hatte und dann von der Erdoberfläche verschwunden war.

Pert Acaiseid, November 441

Álainn

Álainn riss sich vom Anblick der wilden grauen See los und eilte zurück. Sie schlüpfte unter dem niedrigen Türstein durch und vorbei an dem schweren schmierigen Ledervorhang, der Regen und Wind notdürftig außerhalb des Hauses hielt. Der beißende Qualm des Torffeuers trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie unterdrückte ein Husten. Jetzt durfte sie bloß keinen Lärm machen, sonst bemerkte die alte Hexe, dass sie schon auf gewesen war. Aber die Hoffnung war vergebens.

„Wo hast du dich wieder rumgetrieben?“, schnarrte die verhasste Stimme hinter ihr.

Sie wandte sich um und noch stechender als der Torfrauch blies ihr der stinkende Atem der Alten ins Gesicht.

„Wo du dich rumgetrieben hast, habe ich gefragt“, fauchte sie.

„Ich wollte nach den Schafen …“, begann Álainn, doch da spürte sie schon einen brennenden Schmerz auf der Wange.

„Lüg mich nicht an. Du hast dich wieder rumgetrieben, um irgendeinen Mann zu bezirzen!“, zischte Nara erbost. „Das werde ich dir noch austreiben!“

Schon wieder durchzuckte Álainn der brennende Schmerz. Sie spürte, wie etwas Warmes an ihrer Wange herablief und wusste nicht, ob es Tränen oder Blutstropfen waren. Sie drehte sich um und rannte wieder hinaus, verfolgt vom Gezeter ihrer Widersacherin.

Álainn wandte sich zum Schafspferch und drückte sich hinein. Die Tiere blökten erschrocken, beruhigten sich aber gleich wieder, als sie ihre Hirtin erkannten. In der vorübergehenden Sicherheit des Schafstalls kauerte sich Álainn hin und weinte hemmungslos. Fürs Erste war sie weiteren Schlägen entronnen, aber sie konnte ja nicht bis in alle Ewigkeit bei den Tieren bleiben. Wenn sie Dinge fallen ließ, beim Weben einen Faden verpasste oder ihr beim Spinnen das Garn riss, dann waren die Schläge vielleicht gerechtfertigt, aber in letzter Zeit wurde es immer schlimmer. Früher, vor dem Tode Kilians und des Prinzen Koloman, hatte Nara auch nie eine Weidenrute benutzt, sondern nur mit der Hand zugeschlagen und ohne Grund eigentlich nur, wenn sie besoffen war. Das kam damals vielleicht ein- oder zweimal in der Woche vor. Nun war sie jeden Tag volltrunken und eben war sie gerade erst aufgestanden und Álainn hatte keine ihrer zahlreichen Pflichten versäumt.

XI. Viele Dinge haben zwei Seiten, aber jedes seine Zeit

Londinium, November 441

Ordulf

Tallanus’ Freunde in Londinium pflegten seltsame Gebräuche. Sie lebten zusammen auf dem ummauerten Gelände eines alten römischen Patrizierhauses am Nordrand des ehemaligen Stadtbezirks. Eigentlich wohnte vor allem ein Mann dort: der Eremit Dagomar. Die übrigen Bewohner – Männer, Frauen waren nicht unter ihnen – betrachteten ihn offenbar als eine Art Halbgott. Selbst Tallanus, der ja auch so etwas wie ein britannischer Priester war, nannte ihn ehrfurchtsvoll Meister. Dagomar selbst bewohnte eines der wenigen noch intakten Zimmer in dem römischen Steinhaus. Sonst standen eigentlich nur noch eine kleine Halle, oder besser ein umfriedeter Innenhof, der von einem überdachten Säulengang flankiert wurde, und die hohe Außenmauer des Anwesens. Die zehn Jünger – so nannten sich jene, die von Dagomar etwas lernen wollten – bewohnten kleinere, selbst gezimmerte Hütten, die auf dem Gelände verstreut standen.

Der Meister und seine Jünger versammelten sich zu den Mahlzeiten und regelmäßigen Lobgesängen, auch bei kaltem und regnerischem Wetter, im offenen Säulengang. Das erste Mal bereits früh morgens und zuletzt noch mitten in der Nacht. Dann sangen sie ihre Lieder und beteten. Wunderschöne Gesänge, wie Ordulf gestehen musste, aber doch zu sehr seltsamen Zeiten.

Dagomar selbst war ein Mann, der bereits mehr als fünfzig Winter erlebt hatte. Sein wirres graues Haar rasierte er sich genau wie Tallanus aus der Stirn, der sächsischen Haartracht nicht unähnlich.

Zu ihrer seltsamen Lebensweise erklärte Dagomar einmal: „Wir folgen dem Beispiel Pater Germanus’, des Bischofs von Autessiodurum in Gallien. Er gründete bereits vor Jahren, kurz nachdem er aus Britannien nach Gallien heimgekehrt war, mit einer Schar von Jüngern ein claustrum nach dem Vorbild des großen Eremiten Antonius. Ich selbst durfte diese Art zu leben kennenlernen, als ich Pater Germanus bei seiner Rückkehr nach Gallien begleitete.“

Es war einer der wenigen Momente, in denen so etwas wie Stolz in der sanften Stimme des Eremiten mitklang. Halvor hing wie üblich an seinen Lippen. Er verschlang die Geschichten und Weisheiten, die die Britannier über ihren Gott und seine Heiligen, allen voran Germanus und einen gewissen Albanus, der jedoch nichts mit Tallanus’ gleichnamigen Herrn zu tun zu haben schien, erzählten.

Ordulf dagegen erlernte die britannische Sprache aus Nützlichkeit, wirklich begeistern konnte er sich nur für die Hinterlassenschaften der Römer. Die große Stadt faszinierte ihn. Oft verließ er das claustrum, um die alten Straßen zu erkunden. Anfangs hatte Dagomar das zu verhindern versucht, sich aber doch schließlich gefügt. Er hatte Ordulf eine Kutte mit Kapuze gegeben, wie er selbst und seine Jünger sie trugen.

„Damit du nicht auffällst. Augen und Ohren darfst du öffnen, aber halte dich von den Menschen fern. Niemand in der Stadt weiß, dass zwei Sachsen bei uns wohnen.“

Ordulf streifte gehorsam die Kutte über sein Kettenhemd und wandelte dann meist gegen Abend schweigend durch die Straßen. Es waren nicht die belebten Viertel mit ihren Händlern, Dirnen und Bierschänken unten am Hafen, die ihn anzogen. Seine Begeisterung galt ganz den steinernen Zeugnissen der sagenumwobenen Römer, die doch von Wurd dem Starken bezwungen, für immer von dieser Insel verschwunden waren. Im Geiste feilte er an einem Gedicht, welches seinen Gefühlen Ausdruck verlieh:


Das Werk ist wunderlich,Wurd hat es zerbrochen,
das Pflaster der Höfe zerschlagen;zerfallen die Arbeit von Giganten.
Dächer in Trümmern,Türme zerstört,
Reif auf dem Tor,die Türen voll Frost,
Abgeplatzte Ziegelzerschlagen und gefallen,
Vom Alter gefressen.Der Griff der Erde hält
die vermögenden Erbauer,verschwunden und vergessen.
Bis hundert Generationenvon Menschen geschwunden
hat dieser breite Wall,von Flechten grau und oft befleckt mit Rot,
einen Sieger nach dem anderenüberdauert, und Stürmen widerstanden.
Das hohe weite Tor ist gefallen,nur das Mauerwerk,
geschliffen vom Windgereinigt vom Regen,
hielt es stand,Wurd dem Starken.

Eines Abends, es war kurz nach dem Festtag, den seine Lehrer einem gewissen Martinius weihten, verließ Ordulf wieder das claustrum. Nach dem sonnigen Tag war es kalt geworden. Er zog seine Kutte fröstelnd enger um die Schultern. Dagomars claustrum lag in der Nähe des neuen Tores. Außerhalb der mächtigen Mauer zog ein Fleet zum Thamesa-Strom hinunter. Nebel stieg daraus und vom Fluss her auf und wallte durch die Gassen.

Ordulf schlug zunächst den Weg in Richtung des Forums ein, schlenderte dann aber ziellos durch die sich leerenden Straßen. Als es zu regnen begann, wandte er sich zurück in Richtung des neuen Tores. Um nicht völlig durchnässt zu werden, entschied er, nicht auf der breiten Straße zu marschieren, sondern eine der schmalen Nebengassen zu wählen. Der rechtwinklig angelegte Grundriss der Stadt machte es einfach, sich zu orientieren. Einmal mehr bewunderte Ordulf die geplante Anlage der Stadt. Bald zögerte er, der Regen nahm rasch an Heftigkeit zu. Sollte er sich nicht einfach in einem der verlassenen Gemäuer unterstellen und abwarten? Er sah sich um, niemand war auf der Straße zu sehen. Und was war mit den Geistern der alten Römer? Würden sie nicht gerade in solch einem Wetter die Gräber verlassen und durch ihre alten Gemäuer streifen?

Inzwischen durchrauschte der Regen die Straßen. Ordulf gab sich einen Ruck. Rasch zwängte er sich durch eine Bresche in einer alten Umfassungsmauer. Das Grundstück vor ihm war dicht mit Sträuchern und Büschen überwuchert. Er drückte sich hindurch, um zu dem Haus im hinteren Teil des Gartens zu gelangen, und erstarrte, als er vor sich einen leisen Ruf hörte.

War das bereits einer der römischen Wiedergänger, der seine kalten Hände nach ihm ausstreckte? Beinahe wäre er umgedreht und fortgelaufen. Sofort schämte er sich seiner Furcht. Tallanus hatte ihm berichtet, einige Britannier mieden die verlassenen Teile der Stadt nach Einbruch der Dunkelheit. Der kleine Britannier selbst fürchtete sich dagegen offenbar nicht, auch wenn Ordulf die Geschichten in Nacht und Regen nicht so unglaubwürdig schienen wie im friedlichen claustrum.

Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Oder war es nur der kalte Regen, der ihn frösteln ließ? Da war schon wieder etwas zu hören, aber nun waren es eindeutig Männerstimmen. Er erinnerte sich nur zu gut, wie Dagomar ihm und Halvor eingeschärft hatte, kein Aufsehen zu erregen und sich von den Bürgern fernzuhalten. Ihre Anwesenheit in Londinium könnte bei den eigenwilligen Städtern leicht zu einem Auflauf oder Schlimmerem führen. Doch was sollte er jetzt tun? Andernorts Schutz suchen, da ihn die Stimmen nichts angingen? Aber die Neugier hatte ihn gepackt und ein wenig Abwechslung konnte er gut gebrauchen. Außerdem wollte er sich ja nur unterstellen.

Ordulf schlich weiter zu dem verlassenen Haus. Er drückte sich an die Mauer, die von einem überhängenden Dach notdürftig gegen den Regen geschützt war. Da hörte er von drinnen einen ärgerlichen Aufschrei. Diesmal ganz eindeutig ein Mann und kein Geist. Vorsichtig tastete sich Ordulf bis zu einer Tür vor, die in erstaunlich gutem Zustand war. Er schob sie langsam auf und spähte hindurch. Nicht einmal die Scharniere quietschten.

Hinter der Tür war ein leerer Raum. Der Regen hämmerte auf den noch intakten Teil des Daches und aus einer Türöffnung auf der anderen Seite des Raumes drang das flackernde Licht einer Kerze. Ordulf schlüpfte durch die Tür und tastete sich vorsichtig weiter. Er hörte das gedämpfte Gemurmel immer noch genau vor sich. Die Fremden mussten in einem der angrenzenden Räume sein. Hatte man ihn bemerkt? Nein, die Stimmen aus dem Inneren klangen unverändert. Nun verstand er einzelne Brocken.

Ein Mann redete auf jemanden ein, die Antworten, wohl von einer Frau, konnte er jedoch nicht verstehen. Ordulf beschloss, einen Blick durch die nächste Tür zu wagen. Vorsichtig spähte er um die Ecke des rissigen Mauerwerks. Den Anblick, der sich ihm bot, hatte er nicht erwartet.

Er blickte einer Frau mittleren Alters direkt in die Augen. Sie hatte ihn auch gesehen, denn er bemerkte, wie sich ihre Pupillen weiteten. Ihre Kleidung war aufwendig, wenn nicht sogar kostbar. Doch das Seltsamste fiel ihm erst auf, als er sich wieder hinter dem Mauervorsprung in Sicherheit befand. Sie hatte nicht geschrien.

Er versuchte die Aufregung niederzukämpfen, die ihm fast den Atem verschlug. Schließlich hatte er sich wieder im Griff und atmete tief durch. Vorsichtig neigte er sich zu der Kante und dann ganz kurz nach vorn. Diesmal erkannte er mehr. Die Frau konnte nicht schreien, denn ihr Mund war geknebelt und sie selbst auf einer Art Stuhl gefesselt. Deshalb hatte Ordulf auch die Antworten nicht verstanden. Er riskierte einen weiteren Blick.

Zwei Männer standen vor der gefesselten Frau und wandten ihm den Rücken zu. Einer war offenbar ein einfacher Knecht oder Tagelöhner. Der andere hingegen schien reicher zu sein. Zwar war sein Oberkörper, wohl wegen des schlechten Wetters, in einen einfachen dunklen Mantel gehüllt, doch steckten die Füße in teuren Sandalen. Es war seine eindringliche Stimme, die Ordulf gehört hatte. Die Frau war schön, vermutlich einige Jahre älter als er selbst. Sie starrte ihn mit großen dunklen, vor Angst geweiteten Augen an.

All das hier geht dich nichts an und du solltest nun verschwinden, hörte Ordulf die mahnende Stimme seines Gewissens, aber um sich aus der ganzen Sache herauszuhalten, war es schon zu spät. War es Wurd, der ihn in den Raum zog, oder ließen ihn die dunklen Augen nicht los?

Ordulf spürte Wut in sich aufsteigen. Diese beiden Kerle waren doch elende Wichte. Sie sollten sich lieber mit einem Mann schlagen, anstatt diese arme, schutzlose Frau zu überfallen! Vorsichtshalber tastete er in seinen linken Ärmel und seine Finger erspürten den Griff des Saxes, den er dort versteckt ständig bei sich trug. Entschlossen trat er in den Raum.

„Was soll das bedeuten?“, fragte er in die Runde.

Die beiden Männer fuhren herum. Da traf ihn ein Schlag an der Schulter. Ordulf fuhr herum. Ein dritter Mann stand hinter ihm und hatte mit einem Dolch nach ihm gestoßen, doch das Kettenhemd des piktischen Prinzen hatte den Stich abgelenkt. Ordulfs Wut wuchs zu roter Glut. Er riss den blanken Stahl aus dem Ärmel und stieß seinem unverhofften Gegner die Klinge in die Kehle. Ein fingerdicker Blutstrahl spritzte auf, während das Gesicht seines Gegners innerhalb eines Augenblickes erst Überraschung, dann Schmerz zeigte und schließlich erstarrte. Ordulf überließ ihn seinem Schicksal und fuhr herum.

Der edel gekleidete Kerl trug ein kurzes Schwert, aber der Überraschungseffekt war auf Ordulfs Seite. Er holte wieder aus, um auch den Reichen zu erledigen, doch sein noch unverletzter Begleiter überkam den Schreck und riss seinen Herrn am linken Arm nach hinten, sodass der Sax dessen Hals verfehlte und nur die rechte Schulter traf. Die beiden Gegner nahmen die Beine in die Hand. Ordulfs Wut floh so schnell wie seine Widersacher. Einen Augenblick musterte er verwirrt, wie das Blut seines ersten Opfers zwischen den Mosaiksteinen dahinrann. Die alten Römermauern waren einmal mehr mit rotem Blut befleckt worden.

Ein unterdrückter Schrei rief ihn zurück in die Gegenwart. Die gefesselte Frau versuchte etwas zu sagen und zerrte an ihren Fesseln. Ordulf zerschnitt ihre Bande mit dem blutigen Sax.

„Na, das wurde auch langsam Zeit, ich dachte schon, du hättest vergessen, weshalb du hergekommen bist!“, platzte sie verärgert heraus, als sie sich ihren Knebel schließlich selbst entfernt hatte. „Wer bist du überhaupt und wie kommst du hierher?“, fragte sie dann in befehlsgewohntem Ton. Den Toten auf dem Boden beachtete sie nicht.

Ordulf war zu verdutzt, um sich über die herrische Ansprache zu ärgern. So eine Reaktion hätte er von der hilflosen, hübschen Fremden nicht erwartet. Da fiel ihm Dagomars Warnung wieder ein, sich nirgends einzumischen. Er überlegte kurz, ob er nicht einfach davonlaufen und niemandem etwas verraten sollte. Doch die Neugier war zu groß und auch die gerade noch schreckgeweiteten Augen der Frau machten ihn neugierig. Im Zorn funkelten sie nun gerade so bunt wie die achtlos zertretenen Mosaiksteine am Boden.

„Das Gleiche könnte ich dich fragen“, entgegnete er missmutig.

Die Frau stutzte. „Du bist nicht von hier. Du sprichst Britannisch wie ein Fremder“, stellte sie fest.

„Dir entgeht aber auch gar nichts“, bemerkte Ordulf bitter. Erst einen Satz hatte er gesagt – wie er glaubte, sogar fehlerfrei –, doch die Britannierin hatte in ihm gleich den Fremdling erkannt. „Ich gehöre zu den heiligen Männern um Dagomar, deshalb trage ich auch diese Kutte“, brummte er.

„Aber nicht das Schwert“, bemerkte die Frau spitz. „Also, wenn du nicht verraten willst, wer du bist, ich bin Dìorhail, die Tochter des Patriziers Publius Caellach, aber vermutlich weißt du das ja schon.“

„Woher sollte ich das wissen?“, fragte Ordulf verwundert. „Steht das irgendwo geschrieben?“

Dabei sah er suchend an ihrem Kleid herunter. Die heiligen Männer der Britannier hatten ihn zwar nicht lesen gelehrt, aber er erkannte ihre Schrift doch, wenn er sie sah. Nun musste Dìorhail lachen.

„Du bist wirklich ein merkwürdiger Fremder. Nein, das steht nirgends, aber da du mich gerade befreit hast, ging ich davon aus, du wüsstest, was du tust. Immerhin hast du meinetwegen einen Mann getötet.“ Dabei nahm sie naserümpfend zum ersten Mal von der Leiche zu ihren Füßen Notiz. „Der Mann, den du gerade verletzt hast, war übrigens ein gewisser Kermit. Er ist der Sohn von Drusus, einem der Magistrate, und glaubt, dass ihm daher alles gehört. Ich fasse es immer noch nicht, wie dreist er geworden ist. Er hat mich mitten in Londinium entführen lassen! Die Tochter eines Patriziers! Als ob die Barbaren, die Vortigern ins Land gebracht hat, auch in Londinium wären.“

„Vortigern kenne ich, der hat auch uns Sachsen gerufen, aber von Barbaren weiß ich nichts. Meinst du die Pikten? Dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen, die haben wir besiegt!“

Dìorhail fuhr erschrocken zurück. „Du, du gehörst auch zu denen?“

„Nein, sag ich doch. Ich bin kein Pikte! Ich bin Ordulf, Swæns Sohn, Thane von Hengist Witgissunu“, antwortete er stolz.

Die Dame schien zwar hübsch, aber nicht besonders schnell von Begriff zu sein, denn sie sah ihn immer noch zweifelnd an. „Na, wenn das so ist, kann mir ja nichts mehr passieren“, antwortete sie gedehnt. „Weißt du, dass du dir gerade einen mächtigen Feind gemacht hast?“, fragte sie dann.

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