Kitabı oku: «DEBORA», sayfa 3

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3. Kapitel

Montagmorgen gegen halb neun in Hausen füllte sich die sonst so ruhige Straße, an der die Brändles wohnten, mit Fahrzeugen.

Die Nachbarn sahen aus den Fenstern oder schlenderten in den Vorgärten herum, um nichts zu verpassen. „Viel Aufwand für ein verletztes Reh!“, machte die Runde.

Jemand behauptete, Karin, die neunjährige Tochter der Brändles, seit Freitag nicht mehr gesehen zu haben.

Matthias wurde von KM Sieber befragt, während die Techniker der Kripo seinen Keller freischaufelten.

Nach dem Mittagessen trafen Krüger mit Michélle und Holoch für einen ersten Augenschein ein. Erwin Rohr, der Chef der Spurensicherung berichtete: „Bisher haben wir die Skelette von vier Individuen sichergestellt.“

„Vier?“, wiederholte Krüger. „Es war doch nur von einem Knochenfund die Rede. Stehen wir jetzt vor einem Massengrab?“

Rohr zuckte mit den Schultern. „Zwei erwachsene Personen und zwei Kinder. Weitere sind jedoch nicht zu erwarten, sie lagen offen im Keller, der aus massivem Sandstein besteht. Darin lässt sich nichts vergraben.“

Die Techniker hatten einige Bretter ausgelegt, um den Keller mit sauberen Schuhen zu erreichen. Der Raum erinnerte eher an eine archäologische Ausgrabung als an einen Tatort.

Dass einmal eine Holztür den Keller abgeschlossen hatte, ließ sich nur noch an den Roststellen erkennen, die von den eisernen Kloben im Sandstein stammten. Die Tür und die Beschläge hatten der feuchten Erde nicht standgehalten. Die Regale an der Rückwand waren dagegen noch ziemlich gut erhalten.

Die Stellen um die Skelette waren sauber gewischt, die Knochen selbst lagen noch am ursprünglichen Platz. Nur einer der Oberschenkelknochen, derjenige, den Matthias fallen gelassen hatte, befand sich nicht mehr in der normalen Lage.

Dieses Opfer hatte sich in der Mitte des Raumes befunden, während die anderen sich offenbar im Hintergrund, nahe beieinander aufgehalten hatten.

Holoch betrachte einen Knochen genauer. „Nach Zustand und Farbe könnte er durchaus in die Kriegszeit passen“, stellte er fest.

„Dafür spricht auch“, meldete sich Rohr, „die Etikette, die wir gefunden haben: Zwetschgen 44, handgeschrieben, mit Bleistift.“

Sieber ergänzte: „Die Familie Brändle lebt seit 1947 hier, von diesem Keller haben sie jedoch nichts gewusst. Der Vater, inzwischen verstorben, hat das Haus von der Ortsverwaltung gekauft, sagt der Sohn. Wer vorher hier gewohnt hat, davon hat er ebenfalls keine Ahnung.“

„Dann haben Sie also noch Eingemachtes gefunden?“, fragte Krüger nach.

„Eigentlich nicht“, erwiderte Rohr, „nur Scherben und vertrocknete Reste, die wir noch analysieren müssen. Auf den ersten Blick würde ich sagen, eine Explosion. Möglicherweise eine Handgranate. Die Rostpunkte, die überall verteilt sind, könnten von einem Splittermantel stammen.“

Er zeigte an die Decke. „Sehen Sie die schwarze Verfärbung des Sandsteins? Die sauberen Flecke sind Stellen, die inzwischen abgeblättert sind, das ist normale Erosion. Die dunklen Vertiefungen sprechen jedoch für den erwähnten Splittermantel.“

Krüger wandte sich an Sieber: „Gehen Sie doch gleich einmal bei der Ortsverwaltung vorbei! Wenn die das Haus verkauft hat, könnten im Archiv noch Angaben über die früheren Bewohner vorhanden sein. Auch wenn natürlich kaum zu erwarten ist, dass es sich bei den Opfern um diese handelt. Deren plötzliches Verschwinden wäre bestimmt aufgefallen und entsprechend bekannt im Ort. Danach fragen können Sie ja trotzdem. Aber diskret bitte!“

Sieber nickte. „Bin schon unterwegs!“

Doktor Holoch räusperte sich. „Ich kann hier im Moment nichts mehr tun. Ich fahre dann zurück oder haben Sie noch Fragen, Herr Kommissar?“

Krüger überlegte kurz. „Nein danke, Herr Doktor“, antwortete er. „Ich besuche Sie dann in der Pathologie, wenn Sie die Knochen erhalten und genauer untersucht haben.“ Schließlich wollte er sich nicht vor versammelter Mannschaft blamieren, wenn Holoch ihn wieder einmal mit Fachausdrücken eindeckte.

„Wir könnten jetzt mit der Bergung beginnen“, sagte Rohr. „Es ist alles aufgenommen.“

Krüger nahm es nickend zur Kenntnis. Ihm graute schon vor diesen Ermittlungen. Zeugen zu finden, die bis fünfzig Jahre zurück klare Erinnerungen hatten. Wie groß war die Chance, dass der oder die Täter überhaupt noch am Leben waren?

Er stellte sich vor, dass vielleicht eine Flüchtlingsfamilie hier Zuflucht gesucht hatte, die dann für Plünderer gehalten wurden. Handgranaten waren zu Ende des Krieges in riesigen Mengen vorhanden gewesen. Sie abzuziehen und von außen in einen Raum zu werfen, schaffte ein Kind genauso wie ein Tattergreis.

Trotzdem, ein vierfacher Mord musste untersucht werden. Jemand hatte schließlich den Keller zugeschüttet, also war ein Selbstmord sehr unwahrscheinlich.

Das konnte immerhin ein Ansatz sein. Wer hatte überhaupt Gelegenheit gehabt, dies zu tun, ohne aufzufallen?

Für Matthias Brändle brach an diesem Nachmittag seine Welt zusammen. Sobald Margarethe erfahren hatte, dass vier Skelette, davon zwei Kinder gefunden wurden, begann sie zu packen. „Glaubst du wirklich, ich und die Kinder schlafen auch nur noch eine einzige Nacht in diesem Haus!“, hatte sie ihm weinend erklärt, als er sie mit einem Koffer in der Hand aus dem Schlafzimmer kommen sah.

„Aber das ist doch unser Haus? Der neue Anbau, wo willst du denn hin?“

„Egal, nur weg!“

„Ich kann den Keller zumauern“, schlug er verzweifelt vor.

„Vergiss es, nie im Leben!“

„Was soll ich denn machen?“, fragte er kopfschüttelnd.

„Such uns eine Mietwohnung. Aber nicht hier, am besten in der Stadt, wo uns niemand kennt. Ich wohne mit den Kindern solange bei meinen Eltern.“

„Und ich?“

„Wo du willst. Bei meinen Eltern geht nicht, das weißt du, es wird schon für uns drei eng.“

Matthias antwortete nicht darauf. Etwas unheimlich war das schon, aber deshalb alles aufgeben? Die letzten Jahre hatte er das Gebäude Stück für Stück renoviert, alles, was vom Verdienst übriggeblieben war, steckte in diesem Haus. Der Anbau sollte noch der Höhepunkt werden, fast eine Villa, hatte er immer gescherzt.

Und jetzt! Wer würde ihm die Bude abkaufen, mit dem gruseligen Leichenkeller?

Alles war umsonst gewesen! Die Erkenntnis trieb auch ihm die Tränen in die Augen.

„Ich brauche das Auto“, murmelte Margarethe. „Ich muss ja nun jeden Tag die Kinder in die Schule bringen, bis wir wieder einen festen Wohnsitz haben.“

„Nimm es“, antwortete er gleichgültig. Was scherte er sich überhaupt noch um irgendetwas. Er konnte sich dann gleich ein wenig hinlegen, dachte er. Das Einzige, wonach ihm wirklich zumute war.

***

Am nächsten Tag fand im Präsidium in Freiburg die Einsatzbesprechung statt. Sieber hatte auf der Ortsverwaltung in Hausen doch noch einige Informationen auftreiben können. Das Haus war bis kurz vor Kriegsende an eine Familie Wallner vermietet gewesen. Zugezogen aus Berlin, war in der Akte vermerkt. Die letzte Mietzinszahlung war im April fünfundvierzig geleistet worden, noch in bar an die Ortsverwaltungskasse. „Das war damals so üblich, nicht jeder hatte ein Bankkonto“, führte Sieber aus, was ihm von Polizeirat Vogel ein Stirnrunzeln eintrug. Danach hatte noch jemand handschriftlich vermerkt, Familie verschollen. Die Personalien: Vater Ewald Wallner, Frau Anette, genannt Anne, Töchter, Helene und Hildegard. Die Familie lebte von einer Rente der Kriegsopferversorgung, deshalb war die Miete tiefer als üblich, auch dazu gab es einen Eintrag in der Akte. „Der Archivar der Ortsverwaltung hat mir versprochen, weiterzusuchen“, schloss Sieber seinen Bericht.

Krüger hatte sich schon gestern und die halbe Nacht damit beschäftigt, wie er vorgehen wollte. „Ich denke“, begann er, „dass wir systematisch im Dorf die Senioren befragen, jemand sollte sich doch noch erinnern. An die Familie, diese Wallners. Sicher hat doch jemand als Kind dort gespielt und weiß noch von diesem Keller. Den zuzuschütten, war eine ziemliche Arbeit, hat das eventuell jemand mitbekommen? Damit möchte ich Michélle betrauen. Ich gehe davon aus, dass sich, äh, ältere Herren am ehesten einer jungen Frau öffnen.“

Den Blick, den er dafür von Vogel erhielt, ließ sich nicht so einfach einordnen, er konnte Erstaunen oder Empörung ausdrücken.

„Sie beginnen auf der Ortsverwaltung, Michélle!“, fuhr Krüger ungerührt fort. „Lassen Sie sich eine sortierte Liste der ältesten Einwohner geben, welche Sie dann aufsuchen und befragen können. Viele andere Möglichkeiten sehe ich zurzeit nicht, bis wir Laborergebnisse und die DNA der Opfer haben.

Oder hat jemand einen Vorschlag?“, gab er in die Runde.

Sieber meldete sich. „Wir könnten doch auch in den Archiven der Wehrmacht nachforschen?“

„Ja natürlich, Sie und Grünwald übernehmen das. Mit den anderen Möglichkeiten hatte ich nur die Ermittlungen vor Ort gemeint, die internen Sachen laufen so wie immer“, wehrte Krüger ab.

Krüger wandte sich an Michélle. „Haben Sie irgendwelche Fragen?“

Dazu im Moment noch nicht. Aber ich hätte Sie gerne in einer anderen Sache kurz allein gesprochen, Chef.

„Kommen Sie nach der Besprechung in mein Büro!“

„Und Sie, Herr Polizeirat?“

„Viel Glück, kann ich da nur noch sagen. Da der Fall solange zurückliegt, wird die Öffentlichkeit kaum mit schnellen Ergebnissen rechnen.

Also können wir den Aufwand begrenzen. Wir ermitteln selbstverständlich gründlich, jedoch ohne Eile. Neue Fälle haben jederzeit Vorrang. Nach fünfzig Jahren kommt es auf einen Tag mehr oder weniger schließlich auch nicht mehr an.“

„Das bleibt natürlich unter uns“, fügte Krüger an.

Vogel nickte. „Genauso wie alles andere, was wir hier besprechen!“, ergänzte er laut.

„Natürlich, Herr Polizeirat“, beeilte sich Krüger, zu sagen. Er würde trotzdem nicht auf die Meinung von Elisabeth verzichten. Gerade in einem solch komplizierten Fall. Ob Vogel wirklich nie mit seiner Frau über einen Fall sprach? Es konnte natürlich sein, dass sie davon lieber gar nichts hören wollte.

***

Michélle suchte Krüger am Nachmittag auf, um das angekündigte persönliche Gespräch zu führen. Sie wollte ihn über den Vorfall vom Wochenende informieren. Seit dem gemeinsamen Abendessen im Winter wusste Krüger, dass sie mit Guerin eine Beziehung hatte. Er würde ihr deshalb kaum Vorwürfe machen, dass sie praktisch an einer polizeilichen Befragung in Frankreich teilgenommen hatte, hoffte sie. Dies war eine äußerst heikle Angelegenheit, wie jeder Polizist im Grenzgebiet wusste. Es war ja auch nicht ihre Absicht gewesen, sondern hatte sich eher so ergeben. Die Verantwortung dafür lag überdies klar bei Kommissar Guerin. Und der würde sie bestimmt nicht in Schwierigkeiten bringen. Michélle erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie ihn ihrem Chef vorgestellt hatte. Krüger bestand darauf, nichts bemerkt zu haben, was Michélle damals zuerst nicht glauben wollte.

Die beiden Kommissare hatten sich zuerst sehr bemüht, ein Gesprächsthema zu finden, das nichts mit dem Beruf zu tun hatte. Kennengelernt hatten sie sich schon früher, der Kontakt war allerdings bis dahin nur dienstlich gewesen.

Ein leidenschaftlich geführtes Kartenspiel brach das Eis. Michélle und Elisabeth verstanden sich auf Anhieb. Sodass sich der Abend schnell zu einem Duell zwischen den Geschlechtern entwickelte. Krüger und Guerin, durch den weiblichen Frontalangriff augenblicklich zum Team zusammengeschweißt, verteidigten sich wacker und konnten ab und zu ein paar Punkte verbuchen. Den Sieg trugen allerdings die Damen davon.

Der Gewinn war natürlich eher symbolisch. Krüger hätte Essen und Getränke ohnehin selbst übernommen. Der größere Erfolg bestand darin, dass man sich echt angefreundet hatte.

Michélle berichte kurz, was am Samstag in Colmar vorgefallen war. Dass das Opfer aus Deutschland stammte und wie ungewöhnlich die Befragung dieser Frau Doktor Nagel verlaufen war.

„Wie geht’s Eric?“, war trotzdem Krügers erste Frage.

Michélle strahlte. „Danke, es geht ihm gut. Er wird einen Antrag auf gemeinsame Ermittlungen stellen. Außerdem fragt er auch ab und zu nach Ihnen. Sie sollten sich wirklich wieder einmal treffen!“

„Dann könnte sich ja bald eine Gelegenheit ergeben“, stellte Krüger fest. „Ich würde mich freuen.“

„Ich werde es ihm gerne ausrichten“, versprach Michélle.

„Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wie Sie die Ermittlungen im Einzelnen angehen wollen?“, fragte Krüger nach. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr überrumpelt bei der Besprechung. Ich bin wirklich davon überzeugt, dass Sie mehr erfahren können. Nicht bloß, weil Sie eine Frau sind, natürlich“, schwächte er ab. „Die Landbevölkerung tickt auch anders. Ich denke, dass Sie das am besten von allen hier erspüren und sich anpassen können.“

„Auf jeden Fall werde ich es versuchen“, versprach sie. „Auch wenn ich nicht davon überzeugt bin, die Beste zu sein“, antwortete sie verlegen.

„Doch, doch, Sie sind die Beste“, beharrte Krüger. „Höchstens vor einem Umstand muss ich Sie warnen. Das könnte einer dieser Fälle sein, den Sie bis zu Ihrer Pensionierung nicht lösen können.“

Damit entlockte er ihr ein Lächeln.

„Sie reagieren absolut richtig“, stellte er fest. „Es ist wichtig, dass Sie diese Möglichkeit nicht zu schwernehmen. An solchen Geschichten sind schon einige Kollegen zerbrochen, weil sie den ausbleibenden Erfolg mit den Jahren einfach nicht mehr ertragen haben. Vor allem, wenn auch noch Kinder involviert sind. Also zögern Sie nicht, wenn es Ihnen zu viel wird. Sagen Sie es mir, dann übergeben wir die Sache an einen anderen Beamten.“

„In Ordnung, Chef und danke!“

„Viel Glück!“

Krüger griff nach der Abschrift, die sie ihm hingelegt hatte. Dass er dazu gar nichts sagte, fand Michélle sehr beruhigend. Es war richtig gewesen, ihm zu vertrauen.

Sie spürte, dass er ihr mit dieser Aufgabe einen spektakulären Erfolg ermöglichen wollte. Wenn sie den Fall lösen konnte. Wenn es nicht gelang, was eigentlich zu erwarten war, dann würde ihr niemand einen Vorwurf machen.

Sie hatte sich vorgenommen, die Gespräche mit den Zeugen, falls möglich, jeweils direkt aufzunehmen. Dadurch konnte nichts mehr verloren gehen und sie sich in Ruhe darin vertiefen. Krüger oder ein Psychologe, je nachdem, würde ihr bei einer genaueren Analyse helfen können, wenn sie darum bat. Schriftliche Berichte, die sie natürlich trotzdem anfertigen würde, konnten da kaum mithalten.

Oft war es schließlich nur ein Zittern in der Stimme, das verriet, dass etwas nicht stimmte. Manchmal schwadronierte jemand wortreich um ein Thema herum oder versuchte auf andere Art, ein Gespräch von einem bestimmten Punkt wegzubringen. Mehrmals nachfragen, um einen Zeugen wie bei einem Verhör unter Druck zu setzen, dürfte kaum möglich sein.

Die alten Damen, denen sie wohl zwangsläufig begegnen würde, würden sie hochgeschlossen, zurückhaltend erleben, während sie den Herren durchaus auch optisch etwas bieten wollte. Das würde die Bereitschaft, sich mit ihr zu beschäftigen, mit Sicherheit deutlich erhöhen. Weshalb sollte sie das nicht versuchen? Es funktionierte schließlich wohl schon seit ewigen Zeiten. Und außerdem wollte sie sich ja damit weder persönlich bereichern noch jemandem schaden.

So plante sie ihre Strategie in groben Zügen. Für Hintergrundinfos oder weitere Recherchen konnte sie jederzeit auf Sieber und Grünwald zurückgreifen. Wenn jemand noch etwas über die Sache wusste, dann sollte es auch herauszufinden sein. Davon war sie inzwischen überzeugt.

Fraglich erschien ihr eher, dass der oder möglicherweise die Täter, überhaupt noch am Leben waren.

Welche Jahrgänge sollte sie eingrenzen? Alle bis fünfundzwanzig? Das hieße, die jüngsten wären 1944 mindestens neunzehn gewesen. War das schon alt genug, um eine ganze Familie auszulöschen?

Die wären heute bereits siebzig. Dann musste sie alle zwischen aktuell 70 und 100 Jahren befragen. Zwischen 20 und 50 waren Mörder, gemäß Statistik am aktivsten.

Zumindest galt das heute. 1944 hatten die meisten jungen Männer in der Wehrmacht gedient. Sogar hinunter bis sechzehn. Nur die Alten und die nicht Wehrfähigen waren zu Hause.

Man konnte sich damals auch nicht so frei bewegen wie heute. Eine eigene Meinung zu äußern, konnte rasch lebensgefährlich werden. Sogar in privater Umgebung.

Ganz andere Verhältnisse. Was wusste sie darüber?

Eigentlich nicht viel, wenn sie ehrlich war.

4. Kapitel

Carmela bezog am Montag einen freien Tag. Sie hatte in den zwei letzten Nächten so wenig geschlafen, dass sie beim gemeinsamen Frühstück kaum die Augen offenhalten konnte. Debora kümmerte sich liebevoll um sie, schickte sie jedoch schließlich ins Bett zurück.

Sie schlief zwar ein, aber nach kurzer Zeit schreckte sie immer wieder hoch, weil sie von den Erlebnissen am Samstag träumte. Medikamente hatte sie bislang verweigert, sie dachte, auch so mit der Situation fertigzuwerden.

„Du hast ein klassisches Trauma“, hatte Debora gesagt. „Du brauchst eine Therapie.“

Noch bis letzten Samstag hätte Carmela ihr blindlings vertraut. Inzwischen quälte sie der Gedanke, ob Debora vielleicht doch diese Frau mit Absicht vom Dach gestoßen hatte. Aus blinder Eifersucht.

Carmela hatte sich noch nie Gedanken gemacht, wie lange sie mit Debora zusammenbleiben wollte. Solange es gut funktionierte, weshalb sollte sie sich eine Andere suchen. Oder sie verliebte sich spontan, wie sie es auch schon erlebt hatte. Wenn allerdings Debora schon mordete, bloß um eine mögliche Konkurrentin loszuwerden, was würde denn passieren, wenn sie verlassen wurde?

Vor allem irritierte sie, wie leicht Debora das alles wegsteckte. Sie hatte nur für einige Minuten die Fassung verloren, danach war sie wieder ganz normal.

Heute Morgen hatte sie ihr von einer Handtasche erzählt, die sie am Samstag im Elsass gesehen und unbedingt haben wollte.

Wie konnte sie, wenn sie an dieses Wochenende zurückdachte, auf eine Handtasche kommen?

Verdrängte sie das Geschehene einfach oder war es ihr egal? Oder noch schlimmer: hatte sie erreicht, was sie wollte?

***

Für Guerin begann der Montag mit Sichtung der ersten Ergebnisse der Spurensicherung, Claude kam schon bald darauf bei ihm vorbei, um ihm einen vorläufigen Bericht zu geben.

„Du hast also keine Wespenstiche gefunden“, wiederholte Guerin. „Was bedeutet, dass die Aussage dieser Frau Doktor nicht untermauert wird.“

„Aber es widerspricht ihr auch nicht direkt. Wespen können eine ängstliche Person in Panik versetzen, bevor sie tatsächlich gestochen wird“, wandte Claude ein.

„Ja natürlich“, erwiderte Guerin. „Trotzdem, es hätte meine Zweifel verkleinert.“

„Was lässt dich denn zweifeln?“, wollte Claude wissen.

„Schwierig zu erklären! Ihre Mimik oder besser gesagt ihre fehlende Mimik. Ich hatte bei der Befragung das Gefühl, mit einer Puppe zu sprechen. Ich habe sie mit Absicht provoziert, die Wut war ihr leicht anzumerken. Jedoch, ob sie gelogen hat, keine Ahnung?“

„Motiv?“, fragte Claude nach.

„Eifersucht!“

„Dafür hast du einen Anhaltspunkt, wenn du so schnell antwortest“, behauptete Claude.

„Ja“.

„Ich muss doch sehr bitten!“, sagte Claude.

Guerin lachte kurz auf. „Wenn du gerade dabei bist, mich zu verhören, wollte ich doch wissen, wie du es angehen würdest.“

Claude antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf.

„Alle, außer ihrer Lebenspartnerin haben ausgesagt, dass Frau Werthemann intensiv, mit eben dieser geflirtet hat. Sie war auch die Einzige, die allein gekommen ist“, erklärte Guerin.

„Dann wäre es möglich, dass Frau Nagel das Wespennest gesehen und dann eiskalt die Gelegenheit ergriffen hat.“

„Genau so. Übrigens haben die Wespen sonst keinen gestört, allzu aggressiv können sie daher nicht gewesen sein“, fügte Guerin an.

Claude wirkte nachdenklich, schwieg jedoch.

„Da fällt mir gerade noch ein, was ich schon den ganzen Morgen nachsehen wollte.“ Guerin angelte nach einem dünnen Hefter, der am Rand seines nicht besonders gut aufgeräumten Schreibtisches lag. „Letzte Woche ist doch dieser Motorradfahrer reingekommen …“

Claude nickte. „Ja, ich weiß, welchen du meinst.“

„Der hatte ein Papier in der Tasche.“ Er schob ihm das in Folie eingelegte Blatt hin.

„Eine Rechnung“, stellte Claude emotionslos fest.

„Ja, aber von wem?“

„Von einem Piercingstudio. Stimmt, eine seiner Brustwarzen war offenbar frisch durchstochen und deshalb angeschwollen. Das habe ich doch in meinem Bericht so festgehalten. Also ist das keine große Neuigkeit oder worauf willst du hinaus?“ „Lies bitte den Briefkopf genauer!“

„Frau Dr. med. dent. Debora Nagel …

Ist doch kaum die Gleiche? Das wäre ja ein Riesenzufall!“, sagte Claude kopfschüttelnd.

„Das muss die Gleiche sein“, antwortete Guerin. „Keine zweite Zahnärztin in Basel mit diesem Namen. Basel ist keine Millionenstadt und der Name Nagel ist dort auch nicht gerade häufig.“

„Über deutsche Namen weiß ich natürlich nicht so genau Bescheid wie du“, gab Claude zu.

„Du hast auch keine Anzeichen für ein Fremdverschulden gefunden, wenn ich mich richtig erinnere?“

„Nein, da war gar nichts, nicht einmal Alkohol. Zumindest was die Standardtests hergeben, eine gezielte toxische Untersuchung war nicht vorgesehen“, antwortete Claude.

„Würdest du das dann bitte nachholen!“

„Ja natürlich. Dauert allerdings mindestens zwei Wochen, bis die Ergebnisse da sind“, gab Claude schulterzuckend zurück.

„Diesmal ist mir das egal! Bis ich die Dame gründlich durchleuchtet habe, werden sicher auch noch einige Wochen vergehen“, antwortete Guerin. „Ich muss mit Kommissar Gruber aus Basel sprechen. Bin gespannt, ob der etwas über sie hat.“

„Grüß ihn von mir!“

„Ja, mache ich bestimmt“, versprach Guerin.

***

Michélle traf am Dienstagmorgen auf der Ortsverwaltung von Hausen ein. Sieber hatte für sie eine Aufstellung mit den Personen, die sie befragen wollte, im Voraus bestellt. So dass sie diese nur noch abzuholen brauchte.

Die Liste umfasste alle Einwohner von Hausen mit den Jahrgängen vor 1932. Total achtzehn Namen, zusammen mit den Adressen.

Michélle hatte sich für die erste Befragung die beiden Ältesten mit Jahrgang 1905 und 1910 ausgesucht.

Von diesen Zeitzeugen erhoffte sich Michélle nicht nur Einzelheiten über die verschwundene Familie, sondern auch allgemeine Auskünfte über die damaligen Lebensumstände.

Helga Attinger wohnte im Altersheim am Ort, mit ihren fünfundachtzig Jahren war sie die Älteste der Auswahl. Nachdem Michélle ihr erklärt hatte, was sie von ihr wollte, verschwand das Lächeln auf dem Gesicht der Alten.

„Wie ich das Kriegsende erlebt habe!“, moserte sie. „Wozu brauchen Sie das denn?“

„Es interessiert mich einfach“, behauptete Michélle keck.

„So so, es interessiert Sie. Wie war doch gleich der Name?“

„Steinmann, Michélle.“

„Verheiratet?“

„Nein.“

Die Alte kicherte. „Ich hab auch keinen abgekriegt. Als ich noch ganz jung war, wollte ich keinen. Im Krieg waren dann kaum noch Männer da und danach war ich schließlich zu alt“, stellte sie ziemlich nüchtern fest.

„Ich habe einen festen Freund“, verteidigte sich Michélle.

„Aber er will dich nicht heiraten?“, bohrte die Alte.

„Das weiß ich nicht“, antwortete Michélle schon etwas verlegen. Dass die Alte schon zum du übergegangen war, irritierte sie, dazu der penetrant forschende Blick.

„Wieso weißt du das nicht? Merkst du das nicht? Es reicht ihm, dass du die Beine breitmachst wie die meisten. Sobald er dich überhat, sucht er sich das nächste Küken, das auf einen Ehemann hofft.“

Jetzt wurde Michélle richtig rot. „Wir kennen uns noch nicht so lange, aber er ist sehr nett“, versuchte sie.

„Was meinst du, wie oft ich das gesehen und erlebt habe, Mädchen. Die Männer sind immer gleich! Sobald du nachgegeben hast, ist der Reiz vorbei und du darfst noch die Lücke füllen, bis er eine Neue gefunden hat.“

Michélle wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Die Art, wie Helga mit ihr sprach, schockierte sie. Immerhin schien sie gewisse, eigene Erfahrungen gemacht zu haben.

Die ihr alle romantischen Illusionen ausgetrieben hatten?

Ein schwacher Schauer durchfuhr Michélle. War sie sich mit Eric wirklich so sicher?

Leiser Argwohn hatte sich auch schon mal eingeschlichen, wenn eine besonders hübsche Frau in der Nähe gewesen war. Das musste sie sich eingestehen.

„Ich sehe dir an, was du denkst“, fuhr Helga fort. „Stell ihm ein Ultimatum! Halt ihn dir vom Leib, bis er sich entschieden hat! Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann.“

„Bitte, Frau Attinger!“, versuchte Michélle einen neuen Anlauf. „Ich werde über Ihren Rat nachdenken. Aber eigentlich wollte ich nicht über mich sprechen. Was haben Sie denn nun in der letzten Zeit des Krieges erlebt? Wie war Ihr Frühling 1945?“

Dass sie das Gespräch aufzeichnen wollte, hatte sie völlig vergessen. Aufmunternd lächelte sie die Alte an.

„Arbeitest du für die Zeitung?“, fragte Helga, anstelle einer Antwort.

Michélle seufzte. „Nein, ich bin Polizeibeamtin, wie ich doch am Anfang gesagt habe.“

„Nehmen die jetzt auch Frauen oder willst du nur angeben? Weshalb trägst du denn keine Uniform? Hast du einen Ausweis?“

Michélle dämmerte, dass das Gespräch kaum von Nutzen sein würde. Trotzdem kramte sie ihren Ausweis hervor und legte ihn vor der Alten hin.

„Wo habe ich nur meine Brille gelassen?“, jammerte Helga. Sie stand auf und begann zu suchen.

Michélle wartete geduldig.

„Weißt du, ich lege sie immer an den gleichen Platz. Aber dort ist sie nie, wenn ich sie brauche“, erklärte Helga, während sie mit den Händen über die Möbel tastete.

Plötzlich blieb sie stehen. „Wie war doch gleich der Name?“

„Michélle, Michélle Steinmann.“

„Hörst du, Michélle, ruf eine Schwester! Die wissen immer, wo die Brille ist.“

„Soll ich vielleicht helfen?“, fragte Michélle nach.

„Du willst doch nur sehen, was es bei mir zu holen gibt! Ich bin zwar alt, aber nicht so dumm, wie du denkst!“, giftete Helga zurück.

Michélle schluckte leer, die Alte tat ihr leid. Aber was sollte sie machen? Umständlich klaubte sie ihren Ausweis von der Glasplatte, die über das Tischtuch gelegt war.

„Du hast da etwas weggenommen! Ich habe es genau gesehen!“, hörte sie Helga sagen.

„Ich gehe jetzt und lasse Sie in Ruhe“, versuchte sie, die Alte zu beruhigen.

„Du bleibst da, bis die Polizei kommt!“, rief Helga jetzt laut. „So eine wie du, die muss man einsperren!“

Michélle versuchte, rückwärts zur Tür zu gelangen, was Helga offenbar erwartet hatte. Sie war schneller als Michélle auf dem Flur, wo sie laut um Hilfe zu rufen begann.

Michélle blieb stehen, wartete ab. Auf den ersten Blick hatte Helga doch noch ganz klar gewirkt. Aber jetzt verschlimmerte sich ihr Zustand so schnell, dass wohl nur noch das Personal des Heimes helfen konnte.

„Inzwischen schleppte Helga eine Schwester in ihr Zimmer. „Da ist sie!“, rief sie triumphierend. „Die französische Vagabundin, die meine Sachen gestohlen hat!“

Die Schwester zuckte nur mit den Schultern und lächelte Michélle dabei an.

„Halt sie fest!“, verlangte Helga. „Sie muss alles zurückgeben.“

„Weißt du denn, wer sie ist?“, fragte die Schwester.

„Sie heißt Michélle“, flüsterte Helga. „Sie denkt, ich merke es nicht, wenn sie stiehlt. Aber ich habe es gesehen. Französinnen kann man nicht vertrauen, weißt du“, versuchte sie, die Schwester zu überzeugen.

Diese antwortete ganz ruhig. „Helga, das ist doch keine Französin. Sie spricht doch unseren Dialekt und arbeitet bei der Freiburger Polizei.“

„Meinst du?“, sagte Helga zögernd. „Aber warum stiehlt sie dann?“

„Sie ist nicht so eine, glaub mir Helga. Sie ist nett!“, versicherte die Schwester.

„Ich bin so müde“, jammerte Helga plötzlich. „Bringst du mich zu Bett?“

Auf dem Flur wollte die Schwester dann doch noch wissen, was geschehen war.

Michélle versuchte, es zu erklären: „Am Anfang war sie ganz normal. Dann plötzlich ist sie wie umgekippt. Ich habe ihr nur ein paar Fragen gestellt, wie abgemacht.“

„Manchmal hat sie solche Momente, so schlimm war es bisher allerdings noch nie. Normalerweise kommt sie gut allein zurecht“, antwortete die Schwester. „Ich denke, dass sie sich morgen nicht mehr an Sie erinnert, also machen Sie sich keine Sorgen. Ein Arzt wird sie noch untersuchen. Wir geben jedoch so lange wie möglich keine Medikamente. Bis es dann einfach nicht mehr geht, ohne.“

Michélle fühlte sich trotzdem irgendwie schuldig. Beim Abschied wünschte sie alles Gute für Frau Attinger. Die Schwester nahm es lächelnd zur Kenntnis.

Helga schmunzelte inzwischen zufrieden unter ihrer Decke. Die würde bestimmt nicht wiederkommen. Ausgerechnet so ein unerfahrenes Küken wollte sie ausfragen. Die wusste doch nichts vom echten Leben. Wie es sich anfühlte, von verschwitzen französischen Soldaten überall angefasst zu werden. Tagelang in Todesangst auf einem Dachboden auszuharren. Wenige Meter neben einem plätschernden Brunnen fast zu verdursten, weil sich unten eine Gruppe Besatzer eingenistet hatte.

Ihr Mann und ihr Vater waren zwar inzwischen tot. Trotzdem würde sie beide schützen bis zum Ende. Sie hatten während des Krieges heimlich geheiratet. Ihr Vater hatte ihm damals einen guten Posten bei der Gestapo verschafft, wo er selbst in leitender Position angestellt gewesen war.

Nach der Niederlage lebten sie als entfernte Verwandte zusammen. Er mit falscher Identität, sie hatte einfach ihren Mädchennamen behalten. Unter den zahlreichen, aus dem Osten Vertriebenen, die sich hier in der Gegend niedergelassen hatten, fiel ein Einzelner mit unklarer Herkunft kaum auf.

Außer, dass sie ab und zu gefragt wurden, weshalb sie nicht heirateten, war das Leben fast normal gewesen. Dass sie deshalb keine Kinder haben durften, darüber war Helga jedoch heimlich froh gewesen. Eine der wenigen Lügen, die sie ihm zugemutet hatte.

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