Kitabı oku: «Als Medea Rache übte und die Liebe fand»

Yazı tipi:

Tamar Tandaschwili

Als Medea Rache übte und die Liebe fand

Aus dem Georgischen übersetzt

von Tamar Muskhelischwili

Roman


Dieses Buch wurde mit Unterstützung des Writers’ House of Georgia veröffentlicht.


Die Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel »Materikon« im Verlag Siesta, Tiflis, erschienen.

© 2021 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Boutiquebrutal.com

Lektorat: Jessica Beer

ISBN eBook: 978 3 7017 1737 8

ISBN Print: 978 3 7017 1737 8

INHALT

1. GRAMMATIK

2. LAS MAGAS

3. UNCHRISTLICHE BEDÜRFNISSE

4. ERSEHNTE OHNMACHT

5. YOGA PARADISE

6. VOM KOPF HER FRAU

7. DER BUNTE DRACHE JESU

8. GESUND UND MUNTER WIE EIN BÄR

9. GOTT DER LIEBE

10. WEGWEISER

11. TOLLWÜTIG

12. EIN GLÜCKLICHER MENSCH AUF EINEM UNGLÜCKSELIGEN PLANETEN

13. FACEBOOK

14. SONDER- UND GENERALVOLLMACHT

15. DIE GOTTESFÜRCHTIGEN

16. IM JAZZ SIND ALLE JUNGFRAUEN

17. EIER UND LIEBE

18. MARGALITA

19. WUNDERKAMMER

20. MEDEA

21. ELOQUENZÜBUNG

22. METAPHYSISCHE KRIMINOLOGIE

23. LUCIA IN DER PEKINGSTRASSE

24. PERSONALPRONOMEN

25. VERNEHMUNGSTHEORIE UND PRAXIS

PERSONEN

1. GRAMMATIK

Die Journalistin Tina Sumbadse hat vor einunddreißig Jahren schreiben gelernt, seitdem schreibt sie ununterbrochen. Nebenbei gewinnt sie neue Erkenntnisse: Männer leben in der ersten Person Plural und sterben in der dritten Person Singular. Frauen werden in der dritten Person Plural vergewaltigt, sterben aber stets in der ersten Person Singular.

Neben ihr saß ein krebsroter, rastloser Schotte. Er hatte sich kurz vor dem Abflug vorgestellt. Er war Ingenieur für Windenergie und zurzeit mit dem Bau eines hundert Meter hohen Windparks am türkischen Mittelmeerufer beschäftigt. »Ich muss das Projekt zum dritten Mal überarbeiten. Wir befinden uns auf den Flugrouten der Wandervögel. Ökologen und Landwirte haben uns mit dem Rotstift gedroht, kein einziger Propeller habe dort etwas zu suchen.« Noch bevor das Mittagessen verteilt wurde, hatte er ihr anhand von Anschauungsmaterial die Bedeutung des Luftdruckwandels für Winderzeugung und Speicherung erklärt. Tina musste an ihre Uroma Alexandra denken: »In was für einer Welt leben wir Armseligen eigentlich, wenn sogar schon Wind gespeichert werden muss?«, würde sie zweifellos sagen, wenn sie im Flugzeug neben dem Schotten säße. Nach seiner Hähnchenbrust legte er zunächst mit Tinas übriggelassener Frikadelle, später mit zwei Miniaturfläschchen Whisky nach. Er wurde noch krebsiger und geschwätziger.

»Nein, nicht in Amman. Ich schreibe Artikel über frontnahe Städte, und Syrien liegt in meinem professionellen Interessenbereich.«

»Haben Sie Familie in der Türkei?«

»In Georgien – meine Freundin. In Istanbul ist unser internationales Redaktionsbüro.«

Der Schotte stutzte politisch korrekt und zählte alle lesbischen Frauen auf, die sich seit der Uni jemals in seiner Gegenwart befunden hatten. Tina hatte nicht weiter ausgeführt, dass ihre Liebste ihr vierjähriges Zusammensein mit der Gründung einer wahrhaftig traditionellen Familie gekrönt hatte. Danach war sie in den ersten sechs Monaten mindestens zweimal pro Woche zu den Schwiegereltern gerannt, freitags hatte sie den unbändigen sexuellen Hunger ihres Ehemannes mit Blowjobs gezähmt, die sie sich aus Pornos abgeschaut hatte, und an ihren fruchtbaren Tagen hatte sie sich in smaragdgrüne Dessous gezwängt. Dann hatte sie ihr Kind bekommen, war in postpartale Depression verfallen und hatte sich wieder nach weiblicher Zärtlichkeit gesehnt. Tina liebte sie immer noch und öffnete ihr mit Freude die mit Dämmschaum isolierte Metalltür, die sie vor anderthalb Jahren mit einem Fußtritt hinter ihr zugeknallt hatte. Augenblicklich verloren sich die Finger ihrer Liebsten in hüftlanger, schwarzer Seide. Sie wollte gerade Tinas Lippen berühren, als ein tornadoartiger Krampf aus den Tiefen ihrer Eierstöcke aufstieg und sie überflutete. Sie schaffte es mit zugehaltenem Mund gerade noch zur Toilette und verbrachte die gesamte zweite Tageshälfte auf den Knien. Tina kannte den Geschmack und Geruch von Sperma nicht, aber sie hätte schwören können, dass der Mundhöhle ihrer Liebsten ebenjenes Aroma des Lebensursprungs entfahren war.

»Linda ist Komponistin. Sie forscht über Folklore und war schon überall. Im Februar hat sie an der Uni Glasgow eine öffentliche Vorlesung über georgische Polyphonie gehalten.«

Aus einem Fach des braunen Lederportemonnaies lugte eine rothaarige Frau; Ende zwanzig. In einem zweiten Fach steckte ein Foto einer jüngeren rothaarigen Frau – sie posierte neben einem Pferd bei einem Schwimmbad und lächelte herzlich.

»Wir wussten schon immer, dass aus ihr eine Tierärztin werden würde. Sie war neun, als sich die Ziege den Euter am Zaun aufriss. Sie ließ uns Nadel und Faden in brühendem Wasser auskochen und nähte die Wunde so symmetrisch, dass der Dorfveterinär ihr anbot, seine Operationen mitzuverfolgen. Doch mit Menschen ist sie nie so wirklich warmgeworden. Sie ist 28 und hatte noch nie einen festen Freund … oder eine Freundin. Haben Sie Geschwister?«

»Einen Bruder. Er ist beträchtlich jünger als ich, er geht zur Schule.«

»Sobald ich mit dem Windpark fertig bin, ziehe ich nach Spanien und bewege mich nicht mehr weg.«

Er schlug das zweite Fach von hinten auf und seine sommersprossigen Finger frickelten ein doppelt gefaltetes Foto heraus. Ein einstöckiges Haus aus Stein, umgeben von Bäumen, so weit das Auge reicht, mit einer so hohen roten Holztür, dass man selbst auf den Schultern eines Riesen den Kopf nicht einzuziehen bräuchte.

»It’s a true paradise«, sagte der Schotte, »mit eigenem Weingut! Der Makler hat es mir am Morgen gezeigt, am Mittag war es meins.«

Tina ließ den Blick nach hinten schweifen. Zwei Frauen stellten sich an. Sie entschuldigte sich beim Schotten und bahnte sich, auf den Rückenlehnen Halt suchend, den Weg. Aus der Bordtoilette drang Zigarettenqualm. Die Stewardess klopfte an die Tür. Der vorzeitig ergraute Passagier öffnete die Falttür, mied jeglichen Augenkontakt und huschte zu seinem Platz. Die Luft im Flugzeug war trocken, undefinierbar, kalt und heiß zugleich. Der Schotte hielt sein Portemonnaie immer noch in der Hand. Er hatte sein Gesicht zum Fenster gewandt und blickte ins Dunkel. Das Kabinenlicht war gedimmt. Die Passagiere dösten, Tina hörte mit geschlossenen Augen k.d. lang. Sie wusste nicht, was Ana Rogawa von ihr wollte. Sie hatte ihr bereits den dritten Artikel über das Leben von Frauen in Kriegsgebieten geschickt und immer dieselbe Antwort bekommen: Es fehle an menschlicher Intimität. Dabei leitete sie den Text mit einer emotionalen Passage ein und hatte, um den Schmerz zu unterstreichen, hier und da sogar unverschämt gewagte Formulierungen eingestreut. Im Großen und Ganzen war es trotz allem eine Ursache-Wirkung-Analyse mit handfesten Argumenten. Analytischer Journalismus war etwas, was Tina und Rogawa offensichtlich unterschiedlich auffassten. »Wenn sie das hier auch abweisen sollte, sage ich ihr, ich wechsle in die Hightech-Abteilung und schreibe ab sofort nur noch über das Ingenieurswesen der Zukunft. Soll sie dann nach sentimentalen Schreiberlingen suchen, die stets mit gepacktem Koffer bereitstehen, vier Sprachen beherrschen und einen Doktortitel in Politikwissenschaft haben.« Der Schotte berührte ihre Schulter.

»I guess I am dying.«

Seine Augen waren voller Tränen. Das dösende Flugzeug wurde abrupt geweckt. Gleich zwei Ärzte meldeten sich. Sie baten Tina, ihren Sitz freizumachen. Bald waren drei Sitzreihen vor und hinter dem Schotten leer und die aufgescheuchten Passagiere fanden sich im hinteren Teil des Flugzeugs zusammen. Es vergingen zwanzig Minuten. Eine Stewardess, flach wie ein Brett, näherte sich Tina.

»Wie standen Sie zu dem Mann neben Ihnen?«

Stewardessen, Polizisten und Notärzten sollte man keine Grammatik beibringen.

»Bleiben Sie in Istanbul oder haben Sie einen Anschluss?«, fragte sie der Arzt der Flughafen-Notfallambulanz.

»Ich bleibe hier, für zwei Tage.«

»Sie hatten eine Panikattacke. Es wäre besser, wenn Sie nachts nicht alleine sind.«

»Mein Sitznachbar ist gestorben, ein Schotte, im Flugzeug.«

»Ich weiß Bescheid. Ich will mir nicht ausmalen, wie sich das anfühlen muss.«

»Sheraton.«

»Was meinen Sie?«

»Bringen Sie mich im Sheraton unter. Ich muss morgen meinen Gesprächspartner treffen.«

»Sind Sie zur Recherche hier?«

»Ich bin Journalistin.«

Sie zählte die blassen Fliesen an der Decke der Ambulanz.

Tinas zierliche Waden stecken in Skechers-Sportschuhen. Unter dem Saum ihrer verwaschenen Jeans stechen strahlend gelbe Socken hervor. Das rotgeblümte Hemd unter dem blauen Cordblazer verstärkt noch den Kontrast zu ihrer ohnehin blassen Gesichtsfarbe. Die nahezu perfekte Form ihrer dichtbewimperten, honigfarbenen Augen ist selbst hinter der Brille, die wie angegossen auf ihrer Nase sitzt, sofort zu erkennen. Ihre Stachelfrisur, die an einen Igel erinnert, verleiht ihr einen Hauch verwirrter Hilflosigkeit, aber nur, bis sie aufsteht. Ihr außerordentlich hochgewachsener Körper trägt Kleidung und Tasche mit beneidenswerter Eleganz, und selbst im Schockzustand verliert sie nichts von ihrem Zauber. Sie weckt ihre Chefredakteurin. Sie waren zwar wie Katz und Maus, doch niemand steht Tina näher. Sie kann Ana Rogawa von jedem Winkel der Erde anrufen. Zunächst informiert sie sie darüber, dass sie heil angekommen ist, und plaudert ein wenig. Dann kommen sie zur Sache.

»Tina, wer ist gestorben?«

»Der schottische Windkraftingenieur.«

»Was für ein Schotte? Bist du nicht in Amman?«

»Wir waren schon in der Luft. Er saß neben mir. Er hat gesagt, dass er Schotte ist. Dann wurde ihm schlecht und innerhalb von Minuten war er tot.«

»Oh nein. War er alt?«

»Um die fünfzig, oder jünger.«

»Wie geht es dir? Soll ich Petra anrufen? Sie kann dich abholen und du kannst bei ihr bleiben.«

Petra war Journalistin des türkischen Redaktionsbüros.

»Nein, schon gut. Ich weiß nicht einmal, wieso ich dich angerufen habe. Ich habe nicht nachgedacht.«

»Ich schlafe sowieso nicht. Ich sitze am Projekt der Amerikaner und bin online. Wenn du nicht schlafen kannst, melde dich, okay?«

Sechzig minus fünfunddreißig ist fünfundzwanzig. Weniger Jahre, als sie gelebt hat. Im Sheraton bekommt sie ein Upgrade – eine Luxussuite im 26. Stock statt des gebuchten Standardzimmers. Sie ahnt, dass Ana Rogawa Petra angerufen haben muss; Petra wiederum die Hoteladministration. Das atemberaubende Istanbul liegt ausgebreitet vor ihr. Was wohl als Sterbeort des Schotten eingetragen wird, denkt sie.

»Zimmerservice!«

Was soll’s, sie bekommt sowieso kein Auge zu. Ein junger Mann tritt unter Entschuldigungsbekundungen ein und bittet, einen Blick unter das Bett werfen zu dürfen. Die Konferenzteilnehmerin, die das Zimmer vor einigen Stunden geräumt hat, hat eine gestrickte Tasche voller Dokumente liegenlassen. Tina hat noch nicht einmal ihren Koffer geöffnet. Nach dem Bett wendet er sich dem Schrank zu, danach dem Bad, beides ohne Erfolg. Der Mann entschuldigt sich erneut vielmals und öffnet einem jüngeren Herrn die Tür, der einen Obstkorb hereinträgt – »für die Unannehmlichkeiten«. Anschließend verabschieden sich beide und gehen rückwärtstrippelnd aus dem Zimmer.

Tina wirft die Kissen auf den Boden und legt ihr Gesicht vorsichtig auf den wohlriechenden Bettbezug. Er ist so zart wie ein Kätzchen, das zum Streicheln einlädt. Sie schiebt ihre Hand ein wenig nach oben und ihre Finger liebkosen den weichgespülten Stoff. Sie greift zum Kopfende, wo der Bezug stramm unter die Matratze gefaltet ist. Dann fährt sie die Matratzenkante entlang und schreit vor Schmerz auf. Ihr Finger brennt und sieht aus, als sei er mit einer Rasierklinge in Berührung gekommen. Sie steht auf und macht alle Lichter im Raum an. Sie ringt mit dem Bezug. Nach dem dritten Anlauf hat sie den blutbefleckten Stoff von der Matratze gezogen und ein Meer von Dokumenten flattert auf den Filzboden.

Sensibilisierung für sexuelle Gewalt

Komparative Analyse von 9 Fällen

Materialien für die regionale Konferenz. Anhang 3

Keti Ruadse

Psychotherapeutin

Psychosozialer Krisendienst

Tel.: 995555 -- -- --

E-Mail: ruaqet@psychoservices.com

Kollektive sexualisierte Gewalt – Sexuelle Sklaverei

Natia, 38. Diagnose: Depressive Störung. Ein Suizidversuch, mehrere Versuche von Selbstverletzung. Wurde im Alter von 14 Jahren von drei Klassenkameraden im eigenen Haus vergewaltigt, einer davon war ihr Freund. Sie wurde eingeschüchtert, niemandem davon zu erzählen. Ihr wurde mit Rufmord in Nachbarschaft und Schule gedroht, was ihr Leben aller Voraussicht nach unerträglich gemacht hätte. Die Patientin betont, sie wollte unter allen Umständen vermeiden, dass ihre Eltern davon erfuhren.

Einige Tage nach der ersten Vergewaltigung wurde Natia erneut Opfer einer Vergewaltigung, erneut im eigenen Haus, diesmal durch fünf Klassenkameraden. Nach der zweiten Vergewaltigung erklärte der Haupttäter Natia, dass sie von nun an sein Besitz sei. Aus diesem Grund müsse sie jeden Anruf entgegennehmen und Zeit sowie Örtlichkeit stellen, um ihm und seinen Freunden zur Verfügung zu stehen. Ausreden, ihre Eltern seien zu Hause, sie sei krank usw., sollten ihr gar nicht erst in den Sinn kommen, da sich damit ihre Lage nur drastisch verschlechtern würde.

Im Laufe der folgenden sechs Jahre vergingen sich, in unregelmäßigen Abständen, hauptsächlich fünf Personen an Natia. Es gab jedoch auch Fälle, in denen sie der Haupttäter seinen Freunden oder Gläubigern anbot.

Zwei Befreiungsversuche der Patientin endeten mit physischer Gewalt.

Im Laufe von sechs Jahren fanden mehrere individuelle sowie Gruppenvergewaltigungen statt, zudem Fälle von Sadismus und sexueller Erniedrigung.

Es kamen vier Schwangerschaften zustande, die erste im Alter von 15 Jahren. Drei Schwangerschaftsabbrüche, eine Fehlgeburt.

Opfer sowie Täter waren im 3. Studienjahr, als ein Gruppenmitglied festgenommen wurde. Ein Zweiter setzte sein Studium im Ausland fort. Die anderen verloren vermutlich das Interesse an Natia und so konnte sie sich, im Alter von zwanzig Jahren, aus der sexuellen Sklaverei befreien.

2. LAS MAGAS

Tina findet die oberen Seitenstraßen des Rustaweli-Boulevards gesperrt vor. Ein baufälliges Haus im Sololaki-Viertel war eingestürzt und Regierungsvertreter, NGOs und Journalisten haben ihr Zelt auf der Leonidsestraße aufgeschlagen. Tina lässt ihr Auto am Ende der Arsenastraße stehen und geht zu Fuß Richtung »Las Magas« weiter. Der März spielt dieses Jahr so verrückt wie noch nie; schon seit zwei Wochen herrschen unverändert 20 Grad. Die Obstverkäufer auf dem Bürgersteig plaudern mit den Parklotsen. Eine Gruppe Touristen mit ungewaschenen Haaren hat sich vor ihrem Hostel auf ihren Rucksäcken niedergelassen und genießt mit offenen Mündern die Sonne. Im Konservatorium, das diesen Winter in die Tschawtschawadsestraße verlegt worden war, sind so früh am Morgen alle Fenster sperrangelweit offen. Drinnen jault ein Mann aus voller Kehle, begleitet von einem Klavier. Tenor, denkt Tina. Wie man in diesem Haus wohl Kinder zum Schlafen bringt?

Keti Ruadse ist eine perfekt runde Frau. Strahlend wie der Mond gibt sie Tina die mopsige Hand.

»Ich hatte wirklich nicht die Absicht, es zu lesen. Das ist keine Rechtfertigung, aber in der Nacht ist mir etwas passiert, was –«

»Die biographischen Daten sind so verzerrt, dass sich die Betroffene selbst nicht wiedererkennen würde. Die Erstellung von Fallstudien wird als eigenes Fach gelehrt. Wussten Sie das?«

»Wirklich? Nein … Also sind einige Beispiele ausgedacht?«

»Nicht ausgedacht. Die hier aufgezählten Fälle beruhen alle auf realen Biographien.«

»Alle?«

»Sie meinen den Sklaverei-Fall, nicht wahr? Das ist der wahrste von allen.«

Ruadse setzt sich im Innenhof des »Las Magas« mit dem Rücken zum ornamentverzierten Eisentor auf einen Stuhl. Über der Klimaanlage haben sich Tauben ein Nest zusammengekleistert. Gurrend flattern sie herum und der Tbilisser Staub rieselt von ihren Federn in den Cappuccino.

»Neun Fälle, schreiben Sie. Neun Fälle von Sexsklaverei gebe es in Georgien.«

»Das sind nur meine Fälle. Weiß Gott, wie viele es sonst noch gibt.«

»Ich schreibe unter anderem über Frauen; aber eher in internationalen Zeitschriften als in lokalen.«

»Von Journalisten werden wir meistens gemieden, ich weiß nicht, weshalb. Als unsere Fallzahlen stiegen, hat sich das Rehabilitationszentrum mit den Produzenten verschiedener Morgenmagazine in Verbindung gesetzt, aber nur Klatschmedien waren interessiert. Würden Sie sich als Journalistin mit diesem Thema auseinandersetzen? Eine der Betroffenen ist bereit, ein Interview zu geben. Sie lebt nicht mehr in Georgien und möchte den Vorfall, der lange zurückliegt, öffentlich machen.«

»Hmm…«

»In der Fallstudie ist sie als Natia aufgeführt.«

»Keine juristischen Probleme, oder?«

»Bei Natia?«

»Nein, generell.«

»Natia ist die Einzige, die sich dazu entschlossen hat, zu reden. Über so etwas wird normalerweise nicht gesprochen, wie Sie ja auch wissen.«

»Ist sie auch mit dem rechtlichen Teil einverstanden?«

»Tina, Natias Fall ist zwanzig Jahre her. Das kommt nicht mehr vor Gericht. Ich habe mich auf der Konferenz mit Juristen unterhalten, und ohne Beweismittel lägen die Chancen bei null, meinten sie. Wieso, wissen Sie mehr?«

»Ich weiß gar nichts, um ehrlich zu sein, ich habe mich noch nie damit auseinandergesetzt, aber … eine alte Freundin von mir ist Ermittlerin. Ich kann sie fragen, wenn Sie wollen.«

Der Stubentiger, ein »Las Magas«-Original, hatte sich längs auf dem Tisch ausgebreitet und seinen Schwanz in den braunen Aschenbecher getunkt. Teenager hatten einen Wald auf die Ziegelwand gemalt, der kaum von einem echten zu unterscheiden war. Ruadse flüstert, obwohl niemand außer ihnen im Hof ist.

»Macht Ihnen das nicht zu schaffen, sich jeden Tag so etwas anhören zu müssen?«

Die Psychotherapeutin rollt als Zeichen der Verwunderung ihre Augen gen Himmel; richtet ihren Blick nach einigen Sekunden aber wieder gerade:

»Ich mache Yoga«, entgegnet sie mit einer großen Geste, als würde sie einer Touristin eine Sehenswürdigkeit zeigen. Danach lässt sie ihren Blick noch einmal über den Innenhof schweifen und ergänzt: »Jeden Morgen.«

3. UNCHRISTLICHE BEDÜRFNISSE

In der Morgendämmerung kam der 16-jährige, spärlich bekleidete Lascha Tsertswadse grün und blau geprügelt in die erleuchtete Polizeistation am Stadteingang von Rustawi. Sein Vater habe ihn aus dem Haus geschmissen und er bräuchte Hilfe. Sozialarbeiter Berdia Mikiaschwili wurde um 7 Uhr früh in die Polizeistation bestellt. Der Notarzt hatte Lascha bereits untersucht. Trotz der Empörung der Polizisten weigerte sich der Junge, Anzeige zu erstatten. Stattdessen bat er um zwei Dinge: neue Socken sowie ein Gespräch mit seiner Mutter. Die Socken waren innerhalb von fünf Minuten aus dem benachbarten Hypermarkt besorgt; doch es gelang nicht, sich mit der Mutter in Verbindung zu setzen. Berdia telefonierte herum, aber in keiner Anlaufstelle für häusliche Gewalt war Platz. »Wir rufen zurück«, bekam er sechsmal zu hören. Niemand rief zurück. Lascha hatte sich bis über den Kopf in die Decke eingewickelt, die ihm der Inspektor gegeben hatte, und jedes Mal, wenn er sich eine Träne abwischte, fiel ihm ein Deckenzipfel aus der Hand – auch wenn er die zweite Hand zu Hilfe nahm. So litt er zwei Stunden lang, bis Berdia vorschlug, den Vater anzurufen und die persönlichen Gegenstände des Jungen abzuholen. Lascha fuchtelte mit den Armen, er werde niemals dorthin zurückkehren, lieber sollten sie ihn hier auf der Stelle umlegen. Berdia rief bei den Tsertswadses an, ein Mann nahm ab.

»Hallo, spreche ich mit Herrn Gega Tsertswadse?«

»Ja, bin dran.«

»Ich bin Berdia Mikiaschwili, der Sozialarbeiter Ihres Sohnes, Lascha Tsertswadse. Lascha befindet sich auf der Polizeistation, er ist außer Lebensgefahr. Allerdings hat er nichts zum Anziehen, bis auf seine Unterwäsche. Wäre es in Ordnung, wenn wir in etwa zehn Minuten vorbeikommen und seine persönlichen Gegenstände abholen?«

»Lascha Tsertswadse war mein Sohn, er ist heute Morgen gestorben. Rufen Sie hier nicht mehr an.«

Berdia hört dem Signalton nach dem Auflegen noch eine Weile zu. Das ist normal beim ersten Anruf, redet er sich zu und wählt noch einmal. »Die gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar.« Es vergeht eine weitere Stunde und Berdia fährt den in die Decke des Inspektors eingewickelten Lascha zu sich nach Hause. Die Großmutter öffnet die Tür. An ihrem Gesichtsausdruck lässt sich ablesen, dass sie es gewohnt ist, rausgeworfene Menschen zu beherbergen. Sie setzt Lascha auf das Sofa und lässt ein Bad ein. Kurz darauf hockt er eingeschrumpelt im schaumigen, heißen Wasser und schluchzt bitterlich. Die Tür zum Bad bleibt einen Spalt offen. So ist die Regel; von ihren Familien verstoßene junge Homosexuelle hegen manchmal unchristliche Bedürfnisse. Die Großmutter schenkt Tee ein, während sie aufgeregt mit ihrem Enkel schnattert:

»Den Hintern müsste man solchen Eltern versohlen! Noch nie habe ich jemanden mehr verabscheut als Putin, aber sogar den würde ich nicht mitten im Winter auf die Straße setzen! Haben diese Leute ihr Herz mit den Mandeln entfernt bekommen, mein Schatz?«

Das Frauenhaus weigert sich – sie wollen keine Jungen annehmen. In der Familien-Notunterkunft bringt Lascha es auf eine Woche, bis ihn der älteste Sohn einer von ihrem eigenen Mann herausgeworfenen Frau als »Arschwichser« verprügelt. Durch Lascha lernt Berdia die Schwierigkeiten schwuler Ästhetik kennen. Tasja beispielsweise, die die Gemeinde Vater Jakobs im ewigen Feuer des Kriegerdenkmals von Tbilissi verbrennen wollte, war zwar lesbisch, sah einem Jungen aber dermaßen ähnlich, dass sie auf der Straße höchstens mit »Hast du Feuer, man?« angesprochen wurde. Transgender Andro Kuchianidse wurde von jedem für den Vater eines Betreuten gehalten; er war älter, breit und stämmig.

Laschas Verhängnis bestand darin, dass er genau in der Mitte zwischen den sozial anerkannten männlichen und weiblichen Geschlechtern stand. Seine Existenz erweckte nicht nur Misstrauen, sondern vor allem Irritation. Und da sich georgische Männer nicht unbedingt durch ihre Toleranz Irritationen gegenüber auszeichnen, hält ihre fragile Psyche diesem Druck nicht stand und sie müssen ihren Seelenfrieden geifernd wiederherstellen.

Jedes Monatsende bringt Berdia seine fünfhundert Lari, Münze für Münze, heim und nimmt sich davon jeden Tag ein kleines Taschengeld. Bei seinem Vorstellungsgespräch als Sozialarbeiter hatte er gelogen, er sei queer. Er dachte, so seien seine Chancen größer. Was hätte er sonst sagen sollen? Dass er weder mit einer Frau noch mit einem Mann je etwas gehabt hatte und außer seiner Großmutter mit niemandem etwas zu tun haben wollte? Er interessierte sich nun Mal nicht für Sex und damit basta. Er hatte auch nie Schmetterlinge im Bauch und überhaupt beschwerte ihn das körperliche Leben sehr. Er wartete sehnsüchtig auf die Ära, in der der Mensch digitalisiert würde und die Energie, die sein Hirn für körperliche Leistungen verschwendete, der Bewusstseinserweiterung widmen könnte. Er trug stets ein Portrait von Ray Kurzweil in seiner Hosentasche. Wenn der Alltag den Sozialarbeiter stärker plagte als gewöhnlich, griff er zu seinem Portemonnaie und rief dem Visionär des Transhumanismus zu: »Ray, wieso zur Hölle braucht das alles so lange?« Mit »das alles« meinte er die künstliche Intelligenz. Sie wird seiner sowie Kurzweils Meinung nach die Menschheit auf eine neue Evolutionsstufe hieven. Sozialarbeiter Berdia Mikiaschwili, Sohn des Solomon, plagt sein Körper sehr.