Kitabı oku: «Als Medea Rache übte und die Liebe fand», sayfa 2
4. ERSEHNTE OHNMACHT
Laschas Mutter finanzierte ihre Familie, indem sie in Griechenland als Pflegerin arbeitete. Sein Vater ließ ihr Geld im Casino und den Rest – im Restaurant. Er hatte sich nie großartig um die Erziehung seines Sohnes geschert. Nur ein einziges Mal hatte er die Initiative ergriffen. Er bat Lascha, ihm vom Kiosk Zigaretten zu bringen, während er selbst auf dem Sofa lag. Als jener mit Hüftschwung hinausstolzierte, beschlich den Vater ein ungutes Gefühl. Am nächsten Tag schleppte er ihn zum Boxen und forderte vom Trainer, ihn besonders aufmerksam zu trainieren. Eingeschüchtert von Trainer Kako, wagten es die anderen Jungs nicht, Lascha etwas ins Gesicht zu sagen. In die Umkleide kam Trainer Kako nicht. Woher hätte Lascha wissen können, dass es der liebste Zeitvertreib der Jungs war, ihre Schwänze zu vergleichen? Er selbst hatte ein dermaßen strenges Verbot auferlegt bekommen, sich anzufassen, dass er es sich – wenn überhaupt – nur im Bett unter der Decke traute. Er schlug die Beine fest übereinander und sehnte sich, während er an sich herabblickte, nach glatten, zarten Formen. In der Umkleide zogen sie ihn aus und stellten sich in einer Reihe vor ihm auf. Er kam einfacher davon als gedacht – »He, guck mal, was der für einen Brummer hat! Na Mahlzeit!«
Die Umkleidespiele zeichneten sich durch ihre Vielfältigkeit aus – eins beinhaltete das Streicheln, Abklatschen, Kneifen, Herumziehen und Quetschen seines Hinterns. Wasserdampf und Tropfen erwiesen sich als gute Tarnung für seine Tränen. Sie nahmen ihn nicht als Jungen wahr; nannten ihn mal Natela, mal Maqwala, öfter noch – Tsitsino. Er ließ bei seinem Vater anklingen, dass er aufhören wollte. Lascha könne von ihm aus die Schule sausen lassen, aber zum Boxen würde er gefälligst so lange gehen, wie der Vater sagte, war die Antwort. Laschas Hintern wuchs, ebenso wuchs der Einfallsreichtum der Boxer. Einer nahm ihn zur Seite und erzwang Laschas Hand – er solle mal sehen, vielleicht gefiele es ihm ja. Lascha wurde übel; er kotzte ihn an. Am nächsten Tag drehten sie eine Ehrenrunde um ihn – sie wüssten, dass er gerne Schwänze und Eier streichelte, er solle sich keine Sorgen machen, es stünden genug zur Auswahl. Ob wegen des heißen Wassers oder des neuen Begrüßungsrituals – Lascha hatte an diesem Tag seinen ersten Anfall. Beim Anblick der weißen Augäpfel und des gelben Schaums, der aus seinem Mund quoll, flüchtete der nationale Genpool Hals über Kopf aus der Umkleide.
Sie schrieben die Ohnmacht einer beim Boxen erlittenen Gehirnerschütterung zu und schenkten Lascha damit einen der glücklichsten Monate seines Lebens. Die Großmutter arbeitete, der Vater fuhr das Auto seiner Frau von einer Geliebten zur nächsten, Lascha selbst aber war ganz alleine zu Hause, den ganzen Tag lang. Die Musik bis zum Anschlag aufgedreht, hatte er die Kleider von Oma und Mama auf dem Bett bereitgelegt. Er spielte Schönheitswettbewerb, Make-up, Mimik, Pantomime, Defilée – kurz gesagt, er feierte Flitterwochen mit sich selbst, und daraus folgte der Entschluss, sein Zuhause hinter sich zu lassen und eine richtige Frau zu werden, koste es, was es wolle.
»Guten Tag, Frau Tsertswadse, Ihrem Sohn geht es gut. Er bleibt über Nacht bei meiner Großmutter. Er ist verletzt, alle lebenswichtigen Organe sind jedoch heil geblieben.« Offensichtlich war Gega Tsertswadse Berdias Anruf zuvorgekommen, jedenfalls war Tekla Tsertswadses Intonation eiskalt:
»Wir haben ihn zehn Jahre lang behandeln lassen und konnten es ihm trotzdem nicht austreiben. Er weigert sich, zum Menschen zu werden, und Sie helfen ihm auch noch dabei.«
Berdia war unsicher, ob es an Skype lag oder ob sie tatsächlich so jung war, wie sie auf dem Monitor aussah. Kaum älter als dreißig. Eine Frau, schneidend und dünn wie Papier.
»Frau Tsertswadse, ich bin Sozialarbeiter. Es fällt in meinen Aufgabenbereich, mich um ausgestoßene Kinder zu kümmern. Laschas Vater weigert sich, ihn ins Haus zu lassen, ihr Sohn aber hat nichts außer seiner Unterwäsche; er hat nichts mitgenommen. Sein Ausweis, Schulbücher, Hefte, Computer, Kleidung – alles ist noch dort. Vielleicht könnten Sie vermitteln. Er muss schließlich noch zur Schule gehen, lernen … sein Leben weiterleben.«
»Weißt du was, mein Kind, es ist die Schule, die meinem Jungen diese Flausen in den Kopf gesetzt hat. Sein Gehirn wurde mit westlichen Versuchungen gewaschen. Was wird ihm dort beigebracht? Ehrung des Fleisches, Missachtung der Eltern, Hemmungslosigkeit. Was will er in der Schule, er lernt sowieso nichts. Wenn ihr ihm was Gutes tun wollt, bringt ihn zur Kirche, soll er beichten und seine Laster bereuen! Betet, dass er zum Mann wird! Er braucht keine zusätzliche Bestärkung. Mein Gott, was habe ich verbrochen, dass mein einziges Kind krank und pervers ist? Wäre es nicht besser gewesen, er wäre nicht geboren?«
Sie weint bitterlich.
»Ich kann Sie verstehen, Frau Tsertswadse, ich kann Ihren Schmerz verstehen. Aber vielleicht könnten Sie uns zumindest mit der Kleidung, den Büchern und dem Ausweis helfen? Ich hole sie selbst ab, damit Ihr Mann keine Umstände hat. Sprechen Sie mit ihm?«
Am Abend ruft Gega Tsertswadse Berdia an und sagt barsch: »Ich habe den Koffer zu seinem Patenonkel gebracht. Fahren Sie hin und holen Sie ihn ab.« Berdia hat während seines Praktikums gelernt, welche strategische Bedeutung es im Umgang mit der Familie des Betreuten hat, sich zu bedanken. Deshalb schreibt er Tekla Tsertswadse über Skype: »Vielen Dank, Frau Tsertswadse, ich fahre später zu Laschas Patenonkel und hole seine Sachen ab. Ohne Sie wäre das nicht gelungen. Falls Sie noch irgendwelche Fragen haben sollten, melden Sie sich jederzeit. Mit freundlichen Grüßen, Berdia Mikiaschwili.«
Er stellt einen mittelgroßen grauen Koffer auf den Wohnzimmertisch. Vor dem Koffer sitzt Lascha Tsertswadse, neben ihm sitzen – Berdia und Oma. Berdia bedeutet ihr mit den Augen, dass sie in die Küche gehen und den Jungen mit seinem persönlichen Hab und Gut alleine lassen sollten.
»Ach, mein Lieber, hast du gesehen, wie sein Blick erloschen ist, als er den Koffer sah? Er ist sich bewusst geworden, dass er nicht mehr nach Hause kann«, meint die Oma.
Die Teekanne pfeift, sie schenken ein, trinken aus, es pfeift wieder, sie schenken ein und trinken. Nach der vierten Runde stehen sie auf. Neugierde siegt über Professionalität und Berdia späht ins Zimmer. Auf dem Eichenparkett im Wohnzimmer der Mikiaschwilis ist eine Steppdecke ausgebreitet. Ein Fetzen von Laschas Lieblings-T-Shirt mit Schriftzug liegt auf dem abgerissenen Einband seines Tagebuchs. Die von der nagelneuen Jeans abgerupfte Hosentasche hat sich auf den zerschnittenen Pandasocken wiedergefunden. Der in der Mitte auseinandergebrochene Laptop mit dem abgebissenen Apfel samt seiner Schutzhülle liegt traurig auf dem abgeschnittenen Ärmel vom Kapuzenpulli der Uni Thessaloniki. Mitten auf der sorgfältig zusammengeflickten Steppdecke sitzt Lascha Tsertswadse und reibt seine Handflächen so stürmisch aneinander, als wolle er ein Feuer entfachen.
»Er zieht sich die Hosentaschen bis zu den Knien herunter und läuft den ganzen Tag mit herauslugender Unterhose rum. Ich glaube, etwas stimmt mit seinem Geschlechtsteil nicht.« Jede Woche schickte die Kindergartenleiterin nach seiner Großmutter. Sie waren bei drei Kinderärzten. Einer war in Rustawi, einer in Tbilissi, einer – war ein Professor. Der Rustaweler und der Professor stellten dieselbe Diagnose: Er habe zu viele Salze im Urin und müsse nach jedem Wasserlassen gründlich mit Milch gereinigt werden. Der Tbilisser Arzt sah aus wie ein Sumoringer. Er hatte einen kurzen, breiten Hals und ein sackartiges Doppelkinn. Er bat die Großmutter, sie alleine zu lassen, hob den Patienten auf den Tisch und fragte:
»Na, mein Junge, ziehst du dir gerne die Hose runter?«
»Ja.«
»Ich ziehe mir gerne die Ärmel hoch, guck!«
Er zog sich das senfgelbe Hemd bis zu den Ellbogen hoch.
»Cool, oder?«
»Jaaa!«
»Meine Frau schimpft immer mit mir, ich musste fast auch zum Arzt.«
Lascha musste kichern. »Du bist aber ein netter Arzt. Du gibst mir bestimmt keine Spritze.«
»Kannst du raten, wieso ich meine Ärmel gerne hochziehe?«
»Ich weiß es! Ich weiß es!«
»Du weißt es? Bist du dir sicher?«
»Jaaaaa!«
»Du hast zwei Versuche. Wenn du es errätst, kannst du dir damit anhören, was im Heizungsrohr vor sich geht. Alles klar?«
Er nahm das Stethoskop von der Schreibtischlampe und legte es um Laschas Hals.
»Jaa!«
»Lascha Tsertswadses erster Versuch!«
»Du magst deine Arme nicht und willst sie dir abschneiden!«
»Hmm! Gar nicht so schlecht! Siehst du, was für Pranken ich habe, wer mag so was schon! Und? Hast du noch eine Idee, junger Mann?«
»Was?«
»Noch eine Idee, wieso ich meine Ärmel hochziehe?«
»Jaa!«
»Ich höre!«
»Du magst dein Hemd nicht. Du magst Kleider, aber du darfst keine anziehen. Und wenn du heimlich eins anziehst, schimpfen sie mit dir!«
»Recht haben Sie, junger Herr Tsertswadse! Ich wette, dass ich auch raten kann, wieso du deine Hose herunterziehst.«
»Was?«
»Ich wette, dass ich es erraten kann.«
»Nein! Du errätst es nicht!«
»Na gut. Wenn ich es nicht errate, schenke ich dir mein Stethoskop. Abgemacht?«
»Abgemacht!«
»Der junge Herr Tsertswadse zieht seine Hose runter, weil er lieber ein Kleid tragen möchte, aber sie erlauben es ihm nicht und schimpfen mit ihm. Habe ich recht?«
»Jaaaaa!«
»Soll ich noch etwas erraten?«
»Jaa!«
»Aber das flüstere ich dir ins Ohr, damit es niemand hört, ja?«
»Okay.«
Er lehnte den kürbisartigen Kopf zu Lascha und flüsterte:
»Der junge Herr Tsertswadse mag seinen Penis nicht und wünschte, er würde verschwinden.«
»Jaaa!«
»Aber er ist nun einmal da, genauso wie meine Arme. Was machen wir denn nun?«
»Du schneidest deine Arme ab, wenn du groß bist.«
Und er schwieg verschmitzt.
Der Tbilisser Arzt sagte zu Lascha Tswertswadses Großmutter, dass ihr Enkel »besonders« sei. Dr. Wascha graute es bei der Vorstellung, irgendein fortschrittsverdrossener Moralist könnte diesem Dreikäsehoch, der als Frau geboren wurde und als Frau sterben würde, Hormone zum Ansporn einer aggressiven maskulinen Natur verabreichen. Deshalb beschwichtigte er sie: »Es geht von alleine weg, wenn er älter wird. Sie brauchen ihn nicht grundlos zu quälen.« Beim Abschied rief er ihnen zu: »Ich brauche nichts weiter von Ihnen, kommen Sie nur ab und zu zur Kontrolle vorbei. Falls er im Kindergarten oder in der Schule Probleme bekommen sollte, geben Sie denen meine Nummer und ich kümmere mich um den Rest.«
Lascha Tsertswadse hatte das Stethoskop in beiden Ohren stecken und lauschte andächtig dem Heizungsrohr.
5. YOGA PARADISE
»Haben Sie Ihrem Kind schon einmal beim Masturbieren geholfen?«
»Wie bitte?«
Irakli Tschimagadse nahm Tinas fassungsloses Gesicht einfach nicht zur Kenntnis.
»Nach dem Sex«, erzählte er weiter, »summt sie stundenlang vor sich hin. Anfangs habe ich nicht verstanden, was sie summte, bis ich irgendwann herausfand, dass es sich um den Soundtrack einer türkischen Seifenoper handelte. Die Pflegerin guckt manchmal so was. Der Sexologe meinte, sie solle keine Erotikszenen zu Gesicht bekommen.«
»Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Sechzehn.«
»Okay.«
»Sie hat ein Nerventrauma. Sie spricht zwar ein wenig und kann gut laufen, aber letztes Jahr wurde sie geschlechtsreif.«
Irakli erzählte geordnet und sachlich wie ein unvoreingenommener Spezialist.
»Können Sie der Pflegerin nicht sagen, dass sie den Fernseher abdrehen soll?«
»Sie ist unsere elfte Pflegerin in Folge und hat schon über ein Jahr ausgehalten. Likuna hat jeden Tag Anfälle. Der längste dauerte vier Tage.«
»Oje. Und was kann man da machen? Also …«
»Sie hat Beruhigungsmittel verschrieben bekommen. Ich habe sie ihr einmal verabreicht und sie lag eine Woche lang herum wie tot. Konnte nichts essen, machte in ihre Windeln. Als ich sie zum Wechseln hochheben wollte, war ihr Skelett schwer wie ein Schiffsanker.«
Vielleicht hat ihn der Kummer verrückt gemacht, oder aber er war schon so ausgelaugt auf die Welt gekommen. Tina betrachtete Iraklis trendig geschnittene, angegraute Haare und die glatte Haut. In Gedanken erzählte sie Rogawa von den Details dieser seltsamen Begegnung, als wäre sie als Reporterin hier. Sie beschrieb den Mann mit zwei Worten: gut gepflegt.
»Und was passiert, wenn Sie ihr kein Beruhigungsmittel geben?«, fragte Tina.
»Sie reibt sich an den Wänden und steckt sich alles hinein, was sie in die Hände bekommt. Wenn ich nicht rechtzeitig eingreife, scheuert sie sich alles blutig. Dort unten.«
Das »Yoga Paradise« liegt neben dem »Thai Eden« auf der Perovskayastraße. Da die Mädchen vom »Thai Eden« ihre Dienste irgendwo zwischen Massage und Eros anbieten, wird das fernöstliche Selfcare-Paradies nur von jenen Tbilissern aufgesucht, deren Verlangen größer ist als die Angst um ihren guten Ruf. Tina und Irakli sind zu zweit hier. Das orangefarbene Licht gibt dem mit unpoliertem Stein gefliesten Raum das Flair eines intimen Boudoirs. Die Schallisolierung ist so wenig professionell, dass man seinen eigenen Atem und auch den der anderen hören kann. Tina kommt seit zwei Monaten her. Entspannt hat sie sich in der Zeit, beruhigt weniger. Im Vergleich zum Mann hinter ihr kann sie jedoch wahrlich als ausgeglichen bezeichnet werden. Er versucht schon seit längerem, sein Weinen zu unterdrücken. Um ihr ihre lesbischen Neigungen auszutreiben, wurde Tina in ihrer Kindheit regelmäßig von der Mutter in die Kirche gebracht. Beim Gottesdienst standen sie nebeneinander. Die Mutter wandte den Blick nicht vom heiligen Nikolaus, Tina von den Leuten, die kamen und gingen. Die unglücklichsten Menschen beteten zur Mutter Jesu und zum heiligen Nikolaus, die kummervollsten – zum Gekreuzigten. In den Tagen vor Ostern weinte hinter ihnen eine Frau mittleren Alters so laut, dass sich Tina nicht mehr zurückhalten konnte – sie rannte zu ihr und umarmte ihren Bauch. Die Frau war gerührt. Sie beugte sich hinunter und küsste sie auf den Kopf.
»Du wirst mal ein sehr glückliches Mädchen, glaube mir!«
In der Umkleide des »Thai Eden« war sie in den geschmackvoll gekleideten Mann hineingelaufen. »Ich wollte einen Tee trinken«, sagte Tina selbstvergessen. »Ich könnte auch einen vertragen«, entgegnete er, ohne sie ausreden zu lassen. Sie redeten ganze vier Stunden und 28 Minuten lang ununterbrochen im »Prospero Books«-Café. Hauptsächlich über ihr Leben. Als Journalistin hat Tina schon viel gesehen. Sie hat über das Erdbeben von Haiti berichtet, über die russische Invasion in der Ukraine, die Kriminalität in Südafrika, Amokläufe an US-Schulen, Tschernobyl zwanzig Jahre später, Kinderprostitution in Rio. Sie hat zwei Masterabschlüsse, in Sozialpolitik sowie in Politikwissenschaft – aber Sexualwissenschaft ist nicht ihre Stärke. Wie hätte sie sich vorstellen können, dass ein Mensch mit einem so schwerwiegenden neurologischen Trauma wie Iraklis Tochter Sex haben könnte; vom Bedürfnis danach ganz zu schweigen.
»Der letzte Sexologe meinte, wir sollten einen Prostituierten besorgen. Ich wusste nicht einmal, dass es männliche gibt.«
»…«
»Zuerst hat er den dreifachen Betrag verlangt. Ich stimmte zu und bezahlte ihn im Voraus. Doch sobald er Likuna sah, verschwand alle Farbe aus seinem Gesicht. Er warf mir das Geld vor die Füße und entschuldigte sich. Er könne das nicht. Ich bin ihm fast bis zum Innenhof gefolgt und habe ihn nur unter Flehen wieder ins Haus bekommen.«
»Und Likuna? Hat sie sich erschrocken?«
»Nein! Sie schien zu wissen, wer das war, und begann ihn zu streicheln, als würde sie einen Mann nach dem anderen haben. Danach summte sie den ganzen Tag vor sich hin und aß ohne Hilfe.«
»Kommt er noch mal vorbei?«
»Ab Oktober. Den Sommer über ist er zum Arbeiten in der Türkei. Er ist Geld gegenüber etwas leichtfertig eingestellt. Stell dir vor, er nimmt keinen Cent von mir! Mal schenke ich ihm Kleidung, mal irgendwelche Gadgets.«
»Ein seltsamer Prostituierter.«
»Er sei Sexualtherapeut, meinte er.«
»Sexualtherapeut? Noch nie gehört. Gibt es dafür eine Ausbildung?«
»Er hat einen Onlinekurs absolviert, aber die Prüfung für das Zertifikat nicht abgelegt.«
»Warte, heißt das, du musst ihr bis Oktober die Medizin geben?«
»Nein, keine Medizin mehr, Tina! Ich kann meine Tochter in halbtotem Zustand nicht mehr ertragen. Mir wurde eine Sexologin empfohlen. Lilli, ich habe den Nachnamen vergessen. In Wake, im ehemaligen sowjetischen Medizinkombinat. Willst du mitkommen? Ich geniere mich ein wenig. Der letzte Sexologe war ein Mann.«
6. VOM KOPF HER FRAU
Mehr als die Hälfte trägt eine Sonnenbrille, manche haben Kopfhörer in den Ohren. Sie stehen auf Distanz, bei der Radiologie – damit ja niemand auf den Gedanken kommt, sie würden auf den Sexologen warten. Dabei fällt das Licht durch die alten kommunistischen Fenster, wie zum Trotz genau auf die in der heruntergekommenen Klinik wartenden Patienten. Es gab mal eine Zeit, in der man hier ohne Beziehungen nicht einmal die Nasenspitze hineinbekommen hätte; hier kümmerten sich einst die herausragendsten Ärzte um Parteielite und Intelligenzija. Als sich Lilli dem hiesigen Kollektiv anschloss, war sie eine 26-jährige, frischgebackene Gynäkologin mit dichtem, lockigem Haar und für ihre schmale Figur erstaunlich klobigen Händen. Jetzt sitzen Tina und Irakli vor ihr. Und wer würde dem Sohn des ersten Stellvertreters des Außenministers schon einen Wunsch abschlagen?
»Wieso möchten Sie nicht mehr zu Waniko gehen? Er ist ein herausragender Experte.«
»Er ist in die USA gezogen, Frau Doktor.«
»Wann das denn? Herrje, was passiert nur mit uns! Wenn wir nicht bald einen Regierungswechsel haben, bleibt niemand mehr zurück außer den Alten und Kindern. Da sind mir die Banditen vorher ja lieber gewesen. Jetzt holen sie den Patriarchen wieder aus dem Keller hervor und predigen, dass Gott uns bestraft, weil wir nicht mit unseren russischen Glaubensbrüdern befreundet seien. Als ob wir etwa vom gleichen Glauben satt würden!«
Die Risse in der Wand hinter ihr wurden von Illustrationen verdeckt. Auf der Wand gegenüber hing ein ausgeblichenes Mendelejew’sches Periodensystem, dessen unterschiedliche Elemente in unterschiedlichen Grautönungen in sowjetischer Harmonie mit dem schmutzigen Hintergrundweiß verschmolzen. In der Gebärmutter, die auf dem Tisch stand, hatte sich ein Embryo wie ein Straßenhund zusammengerollt.
»Ab wann nahm das sexuelle Verlangen nach dem Trauma zu?«
»Die ersten vier Monate war sie im Koma. Wir dachten, sie wacht nicht mehr auf. Nach einem halben Jahr hat sie angefangen zu sprechen. Bis zum letzten Jahr gab es nichts Auffälliges, aber … Sie hatte eine Pflegerin – Dodo. Dodo schlief in ihrem Zimmer und eines Nachts stürmte sie schreiend heraus. Sie wollte nicht alles erzählen. Sie meinte, Likuna habe schlecht geträumt und sie auf einmal gepackt. Wir verstanden nicht, was sie meinte. Später erst erfuhren wir von einer anderen Pflegerin – Lamara –, sie habe nachts nach ihrer Hand gegriffen und masturbieren wollen. So erfuhren wir, was mit ihr los war.«
»… erfuhren wir von der Pflegerin Lamara, sie habe nach ihrer Hand gegriffen und mas-tur-bie-ren-woll-en.« Die Ärztin notierte sich Irakli Tschimagadses Antwort Wort für Wort in die Patientenakte.
»Irakli, wie lange steht sie bereits unter Medikation?«
»Seit einer Woche. Ich weiß, was Sie denken, aber als der Arzt damals meinte, ich müsse ihr entweder beim Masturbieren helfen oder einen Sexarbeiter beauftragen, dachte ich zunächst, ich bin im falschen Film. Dann musste ich mich an den Gedanken gewöhnen. Die Sache ist nur, dass Likunas Sextherapeut in die Türkei gegangen ist und wir noch keinen Ersatz finden konnten. Wenn sie es alleine versucht, scheuert sie sich blutig. Ist es möglich, dass ihr jemand beibringt, wie es geht, ohne sich zu verletzen? Eine Art Training oder so …«
»Selbstverständlich. Genauso müssen wir auch vorgehen. Wir arbeiten hauptsächlich mit den Pflegern zusammen. Bringen Sie Likunas Pflegerin her und zuerst unterrichte ich sie, danach ein Psychologe. Wir können sie auch telefonisch beraten.«
»Und wenn Sie Likuna selbst unterrichten?«
»Irakli, es ist bei Weitem ungefährlicher, wenn ihr jemand dabei hilft.«
»Frau Doktor, wir haben mittlerweile elf Pfleger durch. Momentan arbeiten zwei Pflegerinnen bei uns, die sich abwechseln. Ich glaube nicht, dass sich eine von den beiden zu so etwas bereiterklärt.«
»Dann müssen Sie sie eben zwingen. Aber um ihre Ehemänner bei Laune zu halten, nehmen sie sie problemlos in den Mund, was? Als ob eine Vagina nicht sauberer wäre!«
Tina prustete los, Irakli kicherte zurückhaltend.
»Könnten Sie in diesem Fall nicht eine Ausnahme machen?« Wieder war es Tina, die agierte.
»Selbstverständlich könnte ich, meine Liebe, das ist nicht das Problem, aber es wird nicht funktionieren, verstehen Sie?«
Die Ärztin beugte sich mit dem gesamten Körper über den Tisch und führte weiter aus: »Mutter, Schwestern, Cousinen … sind in diesem Fall unerlässliche Alternativen.«
»Wie das?«
»Likuna hat doch eine Mutter oder Schwester?«
»Sie hat eine Mutter … aber nicht mehr.«
»Eine Tante, Patentante?«
»Ich bin Einzelkind, Frau Doktor. Sie hat einen Patenonkel; ihre Patentante lebt nicht mehr.«
»Nun denn …« Sexologin Lilli nahm den Papierstapel, klopfte ihn auf dem Tisch gerade und blickte Irakli Tschigamadse durchdringend in die Augen.
Irakli Tschigamadse wünschte sich von ganzem Herzen, tot umzufallen.
»Monika.« Sie reicht ihnen schwach die Hand.
»Tina. Irakli.«
Sie hat rote Haare und ist mittelgroß. Ihre Beine scheinen am Hals anzusetzen und endlos zu sein. Sie besetzt ein Viertel der Sitzfläche des Stuhls, die faustgroße Tasche fest in beiden Händen. Sie hat so raffinierte Gesichtszüge, dass man den Blick kaum abwenden kann.
»Monika, wie haben Sie von uns erfahren?«
»Ein Freund hat mir Bescheid gesagt, Waschiko. Mit Aussicht auf Festanstellung, meinte er.«
Als Tina für den »Meridian Marvel« über Prostitution in Georgien schrieb, hatte sie sich zur Recherche mit vier Gesprächspartnerinnen getroffen. Zwei davon waren professionelle Models, die von ihrer Agentur an hochrangige ausländische oder lokale Kunden für fünfhundert Dollar die Stunde vermietet wurden. Die Dritte befriedigte die auf der Fahrt nach Awtschala am Straßenrand parkenden Autofahrer mit Oralsex. Der Vierte, der 24 Jahre alte Waschiko Eremadse, arbeitete unter der Woche als Trainer im Fitessstudio, am Wochenende aber, getarnt als Personal Trainer, als Sexarbeiter.
»Festangestellt in welchem Sinne? Sie müssen jeden Monat sechs Tage lang hier wohnen und den Bedürfnissen entsprechend arbeiten.«
»Wie viele Kunden habe ich pro Tag?«
»Nur eine. Ein junges Mädchen, sie heißt Likuna.«
»Das Gesamtpaket?«
»Was bedeutet das?«, fragte Irakli scheu.
»Oral, vaginal, anal. Aber ich mache kein S/M.«
»Wie soll ich sagen … meine Tochter ist kein gewöhnliches Mädchen. Sie hat ein Hirntrauma, das sich auf Sprache, Kognition und Motorik auswirkt.«
Monika ist einen Moment verwirrt, fängt sich aber recht bald.
»Ach soo, sie ist geistig zurückgeblieben? Kein Problem, ich habe Erfahrung damit.«
Iraklis Protest wird von Tinas strengem, stechendem Blick torpediert.
»Wirklich? Wie viel Erfahrung? Erzählen Sie uns ein wenig davon, Monika.«
»Ein Junge; er heulte wie ein Wolf. Er war von Geburt an so, und immer, wenn er eine Erektion hatte, schlug er damit auf Möbel ein. Er verletzte sich ein paar Mal. Danach half ich ihm.«
»Und dann brauchte er Ihre Hilfe nicht mehr?«
»Er ist tot. Er hatte Gehirnhautentzündung und ist am Fieber gestorben. Ich hatte noch eine, die Tante eines Stammkunden. Sie hat in recht jungen Jahren Alzheimer bekommen und ihr Ehemann rührte sie nicht mehr an. Ich arbeitete fast zwei Jahre lang mit ihr.«
»Ist die Arme gestorben?«
»Nein, sie lebt, aber sie hält sich selbst für ein kleines Mädchen. Einmal ging ich hin und traf sie mit Schulranzen und Zöpfen an. Sie warte bis zur Hochzeit.«
Monika spricht wie eine CNN-Nahostkorrespondentin. Du redest mit ihr, sie hört mit nachdenklichem Gesichtsausdruck zu und antwortet nach einer Verzögerung von einigen Sekunden. Jedoch stets mit einem euphorischen Lächeln, als gäbe es nichts Erfreulicheres, als dir Rede und Antwort zu stehen.
»Ich möchte Ihnen noch etwas mitteilen. Sie werden es sowieso herausfinden, deshalb ist es mir lieber, Sie erfahren es von mir.«
»Bitte.«
»Monika ist mein jetziger Name. Ich bin geboren als Lascha Tsertswadse.«
»Sie sind eine Frau, wollen aber ein Mann werden?«, fragt Irakli.
»Nein.« Monika muss lächeln. »Mein biologisches Geschlecht ist männlich, aber ich bin vom Kopf her eine Frau.«
Irakli scheint immer noch verwirrt. Bevor er etwas Dummes sagen kann, schaltet sich Tina ein:
»Was macht das schon für einen Unterschied für Likuna? Hauptsache, Sie beide verstehen sich.«
Sie ziehen sich in die Küche zurück. Transgender-Personen hatten sie bisher nur in Almodóvar-Filmen gesehen, und dort schienen sie in Ordnung zu sein. Doch im Moment überfordert sie die Frage, ob ein körperlich männlicher Mensch, der im Kopf weiblich ist, in diesem Fall gut ist oder nicht.
»Weißt du was, sie gefällt mir. Sie wirkt liebenswürdig. Samt entsprechender Berufserfahrung.«
»Hauptsache, sie gefällt Likuna.«
»Sie wird ihr gefallen, oder?«
»Und wenn sie Angst bekommt? Sie ist ja nur halb eine Frau.«
»Kann Likuna das erkennen, deiner Meinung nach?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wieso suchen wir eigentlich explizit nach einer Frau?«
»Es ist ungefährlicher. Eine Frau ist zärtlich und wird ihr nicht wehtun. Manutschar war zwar auch ein guter Junge, aber ich traue Männern nicht ganz.«
»So gesehen hat Monika auch einen Penis.«
»Ja, aber hast du nicht gehört, was sie gesagt hat? Sie ist vom Kopf her Frau.«
Monika lehnt beobachtend am Türrahmen.
»Likuna, das ist Monika. Komm, gib ihr die Hand«, säuselt die Pflegerin Lamara. Eine großäugige Gestalt lehnt an der Wand. Das dünne, strohblonde Haar fällt ihr auf die Schultern und ihr rechter Zeigefinger malt Figuren an die Wand. Aus dem Augenwinkel schielt sie zu Monika.
»Sie geniert sich vor Ihnen. Ist es in Ordnung, wenn Sie uns alleine lassen?«
Lamara verlässt das Zimmer mit einem herablassenden Lächeln im Gesicht. Monika nähert sich der Wand und malt Wellen mit ihren Fingern, kurze und aufgewühlte Wellen. Likuna nähert sich den Wellen und stützt sich mit Hüfte und Schulter gegen Monika, als wolle sie ihren eigenen Körper auf dem ihren abstellen. Ihr Zeigefinger malt die Umrisse einer Figur inmitten von Monikas Wellen.
»Ist das ein Fisch, Likuna?«
Zur Verneinung schüttelt Likuna energisch den Kopf und weicht zurück.
»Ein Delfin! Dass ich das nicht erkannt habe! Ein Delfin, stimmt’s?«
»Uuuuuh!«
»Ok. Aber dein Delfin braucht doch einen Freund, oder?«
Monika bewegt ihren Finger und erlöst Likunas Delfin aus seiner Einsamkeit. Likuna legt sich Monikas malende Hand zwischen Kopf und Schulter, beginnt zu summen und wiegt sich langsam hin und her. Monika führt ihre andere Hand an Likunas Wange und wiegt sich in ihrem Takt. Likuna geht zum Bett. Sie legt sich hin, das Gesicht zu Monika gewandt, wie ein behaglich zusammengekauerter Embryo. Sie hält Monikas Hand mit beiden Armen fest; ihre Lippen kleben an Monikas Hand. Sie summt.
»Träumst du manchmal?«
Likuna antwortet mit einer gebrummten Silbe, aus der man nur ein E heraushören kann.
»Ich auch, sehr oft.« Monika lächelt.
»Aaaniii«, grummelt Likuna.
»Soll ich dich kraulen? Wo, hier?«
Likuna ist auf einen Schlag so still, dass es für Monika offensichtlich ist, dass sie genau dort gekrault werden will. Sie wärmt ihr Handgelenk an Likunas Wange und streicht mit ihren Fingern durch ihr Haar. Einen so glühend heißen Kopf hat Monika noch nie gestreichelt. Vor Wärme rollt auch sie sich zusammen und schlummert friedlich ein.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.