Kitabı oku: «Nach Hause kommen zu sich selbst», sayfa 6
Ihr innerer Wunsch wird sich Ihnen wahrscheinlich zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich darstellen. Vielleicht spüren Sie das Verlangen, ganz lieben zu können oder sich ganz geliebt zu fühlen, die Wahrheit zu erkennen, inneren Frieden zu erfahren, hilfsbereit zu sein oder frei von Angst und Leiden. Es gibt dabei keinen »richtigen« Wunsch. Manchmal wird in Ihnen eine unmittelbare Handlungsabsicht entstehen, die Ihrer Sehnsucht entspricht. Zum Beispiel könnten Sie sich angeregt fühlen, Gedichte zu schreiben oder zu malen, um Ihrer tiefen Sehnsucht nach einem schöpferischen, ausdrucksstarken Leben nachzukommen. Es geht hier darum, sich auf das einzuschwingen, was für Sie in diesem Augenblick zutiefst wahr ist.
Wenn Sie bei einer wirklich klaren Absicht oder einer tiefen, innigen Sehnsucht angekommen sind, werden Sie das an einem Gefühl von Aufrichtigkeit, Unbefangenheit, Energie oder Fließen merken. Manche beschreiben auch einen inneren Stimmungsumschwung, der ihnen neue Entschlusskraft, Offenheit und Gelassenheit verleiht. Wenn sich in diesem Augenblick keine tiefere Verbindung mit dem wirklich Wichtigen einstellt, ist das auch in Ordnung. In diesem Fall können Sie einfach still sitzen und sich dem öffnen, was sich natürlich zeigen will, oder Sie entscheiden sich, diese Erkundung zu einem anderen Zeitpunkt weiterzuführen.
Wenn Sie spüren, dass Sie in einem reinen, tiefen Bestreben angekommen sind, lassen Sie sich voll und ganz darauf ein. Spüren Sie die Essenz Ihres Sehnens bis in jede Zelle, fühlen Sie, wie es durch Ihren ganzen Körper und Ihr ganzes Sein zum Ausdruck kommt. Lassen Sie Ihren Wunsch das Gebet Ihres erwachenden Herzens werden.
Sie können es zu einem Teil Ihrer Praxis machen, sich am Anfang und am Ende jeden Tages und am Anfang und/oder Ende jeder Meditationssitzung mit Ihrer tiefsten Sehnsucht zu verbinden. Versuchen Sie zusätzlich, auch während des Tages ab und zu innezuhalten und sich bewusst zu machen, was Ihnen am wichtigsten ist. In jedem Augenblick, in dem Sie sich daran erinnern, was Ihnen wirklich viel bedeutet, öffnen Sie Ihr Herz für die Segnungen wahrer Zuflucht.
Teil II
Das Tor der Wahrheit
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RAIN: Achtsame Präsenz in schwierigen Zeiten kultivieren
Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum.
In diesem Raum befindet sich unsere Macht
zur Wahl unserer Reaktion.
In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung
und unsere Freiheit.
Viktor Frankl
Der schnellste Weg zum Glück besteht darin, zu wollen, was man bereits hat.
Werner Erhard
Stellen Sie sich vor, Sie haben gerade erfahren, dass Ihr Kind der Schule verwiesen wurde.
Stellen Sie sich vor, Ihr Chef hat Ihnen gerade gesagt, Sie sollten mit dem Bericht, an dem Sie einen ganzen Monat gearbeitet haben, noch mal von vorne anfangen.
Stellen Sie sich vor, Sie merken, dass Sie gerade drei Stunden auf Facebook verbracht und dabei eine Familienpackung Schokokekse vertilgt haben.
Stellen Sie sich vor, Ihr Partner hat Ihnen gerade gestanden, eine Affäre zu haben.
Es kann hart sein, sich der Wahrheit der eigenen Gefühle zu stellen. Wir mögen aufrichtig die Absicht haben, innezuhalten und achtsam zu bleiben, wenn eine Krise auftaucht oder wir uns festgefahren und verwirrt fühlen, doch unsere Gewohnheit, einfach zu reagieren, zu entfliehen oder uns von Emotionen überwältigen zu lassen, ist ungeheuer stark.
Ja, es gibt Zeiten, in denen es unmöglich oder unerträglich erscheint, präsent zu bleiben. Es gibt Zeiten, in denen uns falsche Zufluchten etwas Erleichterung schenken, eine Verschnaufpause verschaffen oder unsere Stimmung etwas verbessern können. Doch wenn wir nicht mit der Klarheit und Güte der Präsenz verbunden sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir uns in weitere Missverständnisse und Konflikte verwickeln und uns weiter von anderen und von unserem eigenen Herzen entfernen.
Vor etwa zwölf Jahren begann eine Reihe von buddhistischen Lehrern, eine neue Achtsamkeitstechnik namens RAIN zu lehren, die besonders für die Bewältigung intensiver und schwieriger Emotionen äußerst hilfreich ist. RAIN ist ein Akronym für die vier Schritte dieses Prozesses, der in praktisch jeder Situation anwendbar ist. Er steuert unsere Aufmerksamkeit auf eine klare, systematische Weise durch jegliche Verwirrung und Anspannung. In schmerzhaften Augenblicken können wir uns an den Schritten festhalten, und wenn wir sie häufiger anwenden, stärken sie unsere Fähigkeit, zu unserer tiefsten Wahrheit heimzukehren. Wie ein erfrischender Regen (engl. rain = Regen) die Luft klärt und die Natur erquickt, schenkt diese Achtsamkeitspraxis unserem Alltag frische Offenheit und Ruhe.
Ich habe RAIN inzwischen Tausenden von Teilnehmern und Klienten vermittelt und es dabei im Laufe der Zeit zu der hier dargestellten Version weiterentwickelt. Es ist auch eine der wichtigsten Praktiken für mein eigenes Leben. Ich stelle die vier Schritte im Folgenden so dar, wie es mir am hilfreichsten erscheint:
R | Erkennen Sie, was vor sich geht (engl. Recognize) |
A | Lassen Sie das Leben so sein, wie es ist (engl. Allow) |
I | Erkunden Sie die innere Erfahrung mit Wohlwollen (engl. Investigate) |
N | Nicht-Identifikation (engl. Non-Identifikation) |
RAIN ist ein direkter Weg, die gewohnten Verhaltensmuster aufzubrechen, die uns daran hindern, uns auf unsere gegenwärtige Erfahrung einzulassen. Es spielt dabei keine Rolle, ob unser Widerstand gegen das, was ist, in Ärger, dem Griff nach der Zigarette oder zwanghaftem Denken zum Ausdruck kommt. Der Versuch, das Leben in uns selbst und um uns herum zu kontrollieren, schneidet uns von unserem Herzen und von der Lebendigkeit der Welt ab. Schon mit dem ersten Schritt von RAIN fangen wir an, diese unbewussten Muster aufzulösen.
R – Erkennen Sie, was vor sich geht
Erkennen bedeutet, zu sehen, was in unserem Innenleben wirklich wahr ist. Das beginnt in der Minute, in der wir unsere Aufmerksamkeit auf die Gedanken, Emotionen, Gefühle oder Empfindungen richten, die sich hier und jetzt zeigen. Wenn sich unsere derart ausgerichtete Aufmerksamkeit beruhigt und weitet, stellen wir wahrscheinlich fest, dass uns manche Teile unserer Erfahrung leichter zugänglich sind als andere. Zum Beispiel merken wir vielleicht sofort, dass wir uns Sorgen machen, aber uns entgeht dabei, wie die eigentlichen Empfindungen des Drucks, der Anspannung und der Enge in unserem Körper aufkommen.
Oder wir spüren, wie zittrig und nervös wir uns körperlich fühlen, ohne zu bemerken, dass diese körperliche Reaktion durch die unterschwellige Überzeugung ausgelöst wird, dass wir das, was vor uns liegt, sowieso nicht schaffen werden. Sie können das Erkennen aktivieren, indem Sie sich einfach fragen: »Was geht jetzt gerade in mir vor?« Verbinden Sie sich mit Ihrer natürlichen Neugier und richten Sie Ihren Fokus nach innen. Versuchen Sie, alle vorgefassten Meinungen loszulassen und stattdessen Ihrem Körper und Ihrem Herzen ganz unbefangen, wohlwollend und empfänglich zuzuhören.
A – Lassen Sie das Leben so sein, wie es ist
Lassen Sie die Gedanken, Emotionen, Gefühle und Empfindungen, die Sie in sich entdecken, einfach so sein, wie sie sind. Es mag ein natürlicher Widerwille auftauchen, Sie mögen sich die unangenehmen Gefühle wegwünschen, doch wenn Sie bereit sind, mit dem präsent zu sein, »was ist«, wird eine neue Qualität von Aufmerksamkeit entstehen. Die Erkenntnis, dass Zulassen ein wesentlicher Bestandteil von Heilung ist, kann uns in dieser bewussten Absicht stärken.
Viele Übende flüstern sich innerlich ein ermutigendes Wort oder einen kurzen Satz zu, um sich in ihrem Zulassen zu unterstützen. Wenn wir beispielsweise merken, wie uns Angst beschleicht oder ein tiefer Kummer befällt, können wir uns ein »Ja« zuflüstern. Sie können auch andere Worte verwenden, zum Beispiel: »Auch das«, »Ich lasse es zu«, oder: »Ich stimme zu.« Am Anfang mag es sich so anfühlen, als würden wir die unangenehmen Gefühle einfach nur »aushalten«. Vielleicht sagen wir Ja zur Scham und hoffen im Stillen, dass sie wie von Zauberhand verschwinden würde. Tatsächlich gilt es, wieder und wieder zuzustimmen. Doch schon mit der ersten kleinen Geste des Zulassens, einfach durch ein geflüstertes »Ja« oder »Ich lasse es zu«, beginnen die harten Kanten des Schmerzes aufzuweichen, und der Widerstand hat uns nicht mehr ganz und gar im Griff. Bieten Sie sich den Satz sanft und geduldig immer wieder an, und Ihre Abwehr wird allmählich nachlassen, wird vielleicht nachgiebiger und offener für Wellen der Erfahrung.
I – Erkunden Sie die innere Erfahrung mit Wohlwollen
Manchmal reicht es schon, die ersten zwei Schritte von RAIN anzuwenden, um Erleichterung zu verspüren und wieder präsent zu werden. In anderen Fällen reicht die Absicht, zu erkennen und zuzulassen, jedoch nicht aus. Wenn Sie zum Beispiel mitten in einer Scheidung stecken, Ihr Arbeitsplatz in Gefahr ist oder Sie mit einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert sind, können die Gefühle überwältigend werden. Und weil diese Gefühle immer wieder ausgelöst werden – weil Ihr zukünftiger Ex anruft, weil Sie Ihren Kontoauszug abrufen, weil Sie morgens mit Schmerzen aufwachen –, prägen sich Ihre Reaktionen tief ein. In solchen Situationen kann es nützlich sein, Ihr achtsames Gewahrsein noch weiter zu erwecken und zu stärken.
Mit Erkunden ist hier gemeint, Ihrem natürlichen Interesse, Ihrem Verlangen, die Wahrheit zu ergründen, nachzugehen und sich der gegenwärtigen Erfahrung mit mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das Innehalten und Fragen »Was geht in mir vor?« kann ein gewisses Erkennen hervorrufen, doch in diesem Schritt geht es um ein noch aktiveres, gezielteres Erkunden des Geschehens mit Fragen wie: »Was verlangt am meisten nach meiner Aufmerksamkeit?«, »Wie erlebe ich das in meinem Körper?«, »Welche Überzeugung steckt hier dahinter?«, oder: »Was will dieses Gefühl von mir?« Vielleicht fühlen Sie sich innerlich hohl oder unsicher und entdecken dahinter Scham- oder Minderwertigkeitsgefühle. Solange sie nicht ins Bewusstsein treten, prägen diese Überzeugungen und Emotionen unsere Erfahrungen und erhalten die Identifikation mit einem begrenzten, mangelhaften Selbst aufrecht.
Als ich anfing, RAIN weiterzugeben, hatten viele zunächst Probleme mit diesem Schritt. Ich hörte Bemerkungen wie: »Wenn die Angst aufsteigt, führen mich meine Erkundungen nur zu Gedanken über die Ursache meiner Angst und wie ich mich besser fühlen könnte.« Andere meinten: »Ich kann gar nicht lange genug mit meinem Körper verbunden bleiben, um herauszufinden, wo die Emotion in ihm lebendig ist.« Viele glaubten, diese Art der Erforschung löse leicht Verurteilungen aus: »Ich weiß, ich sollte diese Scham erkunden, aber ich hasse sie … und ich hasse mich dafür, dass ich sie fühle.«
All diese Reaktionen entsprechen unserem natürlichen Widerstand gegen unangenehme und verunsichernde Gefühle: Uns schwirren Gedanken durch den Kopf, wir gehen aus dem Körper, wir bewerten unsere Erfahrung. Ich erkannte, dass RAIN noch ein wesentliches Element fehlte. Damit dieses Erkunden heilsam und befreiend wirkt, müssen wir uns unserer Erfahrung mit einer besonderen Qualität von Aufmerksamkeit zuwenden. Es gilt, alles, was sich zeigt, sanft willkommen zu heißen. Deswegen sage ich: »Mit Wohlwollen erkunden.« Ohne diese Herzensenergie ist nicht genug Sicherheit und Offenheit gegeben, damit das Erkunden in die Tiefen vordringen und wirklich in Kontakt bringen kann.
Stellen Sie sich vor, Ihr Kind kommt tränenüberströmt nach Hause, weil es in der Schule von anderen drangsaliert wurde. Um herauszufinden, was genau geschehen ist und wie sich Ihr Kind fühlt, ist eine wohlwollende, empfängliche, sanfte Haltung hilfreich. Wenn wir uns unserem Innenleben mit derselben Sanftmut und Freundlichkeit zuwenden, wird tiefes Erforschen unseres Innenlebens und damit auch Heilung möglich.
N – Nicht-Identifikation verwirklichen – in natürlichem Gewahrsein verweilen
Die klare, offene und wohlwollende Präsenz, die durch R, A und I von RAIN entstanden sind, führt zu N: der Freiheit der Nicht-Identifikation und dem Verwirklichen von dem, was ich »natürliches Gewahrsein« oder »natürliche Präsenz« nenne. Nicht-Identifikation bedeutet, dass unser Empfinden von dem, was wir sind, nicht durch irgendwelche begrenzenden Emotionen, Empfindungen oder Geschichten vermischt oder definiert wird. Wenn sich die Identifikation mit dem kleinen Selbst lockert, beginnen wir, aus der Offenheit und Liebe zu leben, die unserem natürlichen Gewahrsein entsprechen. Die ersten drei Schritte von RAIN erfordern ein gerichtetes Tun. Der letzte Schritt hingegen ist das Ergebnis: eine befreiende Verwirklichung des natürlichen Gewahrseins. Es gibt für diesen letzten Teil von RAIN nichts zu tun – diese Verwirklichung entsteht spontan, aus sich selbst heraus. Wir verweilen einfach in natürlichem Gewahrsein.
Anwendung von RAIN auf Schuldzuweisungen
Vor einigen Jahren war ich am Tag nach Weihnachten inmitten meiner Familie von jedem genervt, auf den ich mich eigentlich gefreut hatte. Niemand war wirklich böse zu jemandem gewesen, aber ich drehte mich auf meiner eigenen gereizten, wertenden Umlaufbahn. Nachdem jemand meinen Vater beim Mittagessen unterbrochen und er sich gekränkt zurückgezogen hatte, sank auch bei allen anderen die Stimmung. Dann verzog sich mein Sohn Narayan zu einem Freund, statt wie versprochen beim Abwasch zu helfen. Meine Mutter klagte, dass Narayan kaum da sei. Eine meiner Schwestern schmollte, weil ihre Ernährungsgewohnheiten bei dieser Mahlzeit wie schon bei anderen zuvor wenig Berücksichtigung gefunden hatten; und meine andere Schwester war eingeschnappt, weil sie bezüglich des Zeitpunkts eines Ausflugs nicht ausreichend befragt worden war. Selbst die Hunde legten ein schlechtes Betragen an den Tag – sie lungerten um den Tisch herum und bettelten. Aus meiner Sicht zeigten alle anwesenden Menschen und Tiere die ihnen vertraute Variante von Opfer- oder Märtyrerverhalten, Bedürftigkeit oder Achtlosigkeit. Außerdem wurde mein Bedürfnis nach Harmonie nicht erfüllt. Wir waren erst zwei Tage zusammen, und ich war schon voller Ärger und Groll.
In den Monaten vor unserem Weihnachtstreffen war mir immer klarer geworden, wie mein gewohnheitsmäßiges Urteilen mich von anderen schmerzhaft trennte. Das damit verbundene Leiden motivierte mich, meinem spirituellen Leben einen spezifischen Fokus hinzuzufügen: Ich begann gezielt, mit RAIN auf meine Gefühle des abwertenden Urteilens und der Anschuldigungen einzugehen. Während der folgenden Wochen versuchte ich zu bemerken, wie sich mein Körper und mein Herz fühlten, wenn mein Verstand Geschichten produzierte, die auf Kosten anderer gingen. Jedes Mal, wenn mein innerer Kritiker herabsetzende Kommentare abgab, erkundete ich, welche Überzeugungen dahintersteckten. Die Erkundung meiner Erfahrung von Abwertung und Anschuldigung öffnete mir die Augen dafür, wie oft mein Herz verschlossen war. Diese Erkenntnis bewirkte, dass ich mich noch tiefer auf diese Übung einließ: Je klarer ich den Schmerz dieser falschen Zuflucht erkannte, desto mehr spürte ich die Freiheit und Offenherzigkeit, die jenseits davon lagen.
Doch trotz meiner inneren Verpflichtung zu dieser Übung war ich an jenem Weihnachtsfeiertag überhaupt nicht in der Stimmung, mein Innenleben zu erforschen. Mürrisch und müde, den Kopf voller Urteile über meine Familie, überlegte ich, mich in einem guten Buch zu vergraben. Aber ich konnte dieser inneren Stimme nicht entkommen, die mich daran erinnerte, dass ich mir vorgenommen hatte, meine Anschuldigungen mit RAIN zu erkunden. Missmutig zog ich mir den Parka und die Stiefel an und stapfte in den grauen Dezember-Nachmittag, um einen Weg zu mehr Präsenz und Frieden zu finden.
Während ich durch den leichten Nieselregen ging, begann ich, über jedes meiner Familienmitglieder nachzudenken und mein abwertendes Denken über sie zu beobachten. Ich machte mich zur Zeugin meiner Urteile: »Du bist manchmal so leicht beleidigt und empört, wenn dich jemand unterbricht, Papa. Was macht das schon? Und du, Narayan, du bist so verantwortungslos, hältst nie dein Wort …« So fing ich mit RAIN an, indem ich mir meine Reaktionen bewusst machte: Ich erkannte deutlich, wie mir das Verhalten meiner Familie missfiel und wie ich an jedem etwas auszusetzen hatte.
Was das Zulassen betrifft – den zweiten Schritt von RAIN –, so nahm ich mir Zeit, die anklagenden Gedanken wahrzunehmen und sie dann einfach da sein zu lassen. Statt mein urteilendes Denken zu verurteilen, versuchte ich mich daran zu erinnern: »Das ist einfach das, was gerade passiert.«
Wie ich so mit meiner Aufmerksamkeit bei meiner Erfahrung blieb, bemerkte ich eine Stelle in meiner Brust, die sich angespannt und wund anfühlte. Diese wurde dann auf natürliche Weise zum Fokus des nächsten Schrittes von RAIN, dem Erforschen. Ich begann, mich interessiert meinem Körper zuzuwenden, und aus der Anspannung wurde ein scharfkantiger Knoten, der mir aufs Herz drückte. All die verschiedenen Beschwerden, die mir durch den Kopf gingen, schienen alle aus diesem engen, schmerzhaften Bereich aufzusteigen.
Dann stellte ich diesem verknoteten Bereich eine Frage: »Wie sieht das Leben aus deiner Sicht aus …, aus deiner Perspektive?« Diese Art von Frage hatte mir zuvor schon manches Mal geholfen, an eine »innere« Erfahrung heranzukommen. Und ich erkannte: Meine Reaktionen auf die einzelnen Personen verdeckten, dass ich mich in Bezug auf mich selbst schlecht fühlte. Jede einzelne Situation hatte in mir Gefühle der Unzulänglichkeit ausgelöst – als Friedensstifterin der Familie, als verantwortungsbewusste Mutter, als hilfsbereite Tochter und als mitfühlende und unterstützende Schwester. Mein Nachforschen hatte den Knoten der Anklagen gelockert, und ich spürte nun, was er verbarg: ein mir sehr vertrautes, bedrückendes, schlechtes Gefühl persönlichen Versagens.
Im Laufe der beiden vergangenen Monate hatte ich durch meine Durchgänge mit RAIN gelernt, wie sehr ich mit mir selbst im Unreinen bin, wenn ich mich über andere aufrege. Doch es gibt in der Regel eine Anfangsphase, in der ich zwar meine Verstrickung in die »Falschheit« der anderen erkannt habe, aber mir meiner Selbstablehnung noch nicht bewusst bin. Jetzt tauchte unter der Beschuldigung der anderen wieder jene vertraute, schmerzhafte Überzeugung auf, die die Trance des kleinen Selbst aufrechterhält: »Ich bin irgendwie verkehrt.«
Wenn wir RAIN praktizieren, bestimmt die Qualität unserer Aufmerksamkeit die Tiefe, in der wir mit unserer inneren Wahrheit in Kontakt kommen. Dies wissend, verlangsamte ich bewusst meine Schritte. Ich wandte mich mit sanfter, empfänglicher Aufmerksamkeit diesem Gefühl des unzulänglichen Selbst zu und ließ es sich voll und ganz zeigen. Es fühlte sich an, als ob ein Drahtnetz mein Herz zusammendrückte und es klein, hart und schwer machte. In meinem Denken war ich mutterseelenallein, abgetrennt von allen anderen. Jetzt erkannte ich, wie diese Erfahrung an den Weihnachtstagen nur eine ausgeprägtere Version dessen war, was in meinem Alltag ständig geschah. Ich beschuldigte Mitglieder des Vorstands, zu wenig zu tun, um unsere Gemeinschaft vielfältiger werden zu lassen, aber eigentlich schmerzte mich, wie wenig Zeit ich selbst diesem wichtigen Thema zuwenden konnte. Ich war ungehalten mit meinem Sohn, weil er seinen Einsatz bei der Hausarbeit vergessen hatte, aber eigentlich litt ich unter der Überzeugung, eine Mutter zu sein, die ihr Kind vernachlässigt. Ich ärgerte mich, dass meine Schwester darüber klagte, ich sei zu beschäftigt, sie zu besuchen, aber eigentlich fühlte ich mich schuldig, so selten entspannt mit ihr und meiner Nichte zusammen zu sein. Doch ob ich nun mich selbst oder andere anklagte – hinter allem stand das vertraute Gefühl, abgeschnitten zu sein, ganz allein zu sein mit meinem schmerzhaft verschlossenen Herzen.
Jetzt spürte ich, wie Traurigkeit aufwallte. Mein Groll wandelte sich in Trauer, und meine Aufmerksamkeit wurde noch inniger und freundlicher. Der Schmerz des Kummers durchrollte mich wie eine Flutwelle, durchströmte mein Herz und spülte alle Anklagen und alle Geschichten über persönliches Versagen aus mir heraus. Die unmittelbare Intensität der Emotionen, die so überwältigend gewirkt hatte, ebbte allmählich ab. Als die Wellen des Kummers zur Ruhe kamen, hinterließen sie mich in einem stillen Zartgefühl.
Als entspräche er meinem inneren Wetter, ließ der Himmel plötzlich los, und es begann in Strömen zu regnen. Dann machte ich mich auf den Heimweg. Ich vergegenwärtigte mir noch einmal meine Familienmitglieder und stellte fest, dass der Regen meine Vorstellungen von »Falschheit« bei jedem Einzelnen von ihnen aufgelöst hatte. Ich betrachtete sie nicht mehr als »schwierige andere da draußen«, sondern als einzigartige Wesen, die einen besonderen Platz in meinem Herzen hatten.
Als ich am Haus meiner Eltern ankam, war ich vollkommen durchnässt. Nur die Hunde begrüßten mich stürmisch, alle anderen waren an ihrem Computer, hielten ein Schläfchen oder waren anderweitig beschäftigt. Das war mir gerade recht. Ich fühlte mich glücklich unbelastet von Geschichten darüber, wie irgendjemand anders sein sollte, als er oder sie war.
Nach dem Abendessen setzte sich meine Mutter ans Klavier und begann, Weihnachtslieder zu spielen. Wir sangen alle mit, auch wenn wir oft nicht richtig sangen und zum großen Teil den Text vergessen hatten. Dann gingen wir zu Musical-Liedern über. Unser Gesang klang ziemlich schräg, und schon bald lachten wir herzlich über uns selbst. Und sangen fröhlich weiter.
In jener Nacht schlief ich mit einem wohligen Gefühl ein. Meine Familie hatte sich nicht verändert, aber statt meiner Trance der Getrenntheit und der Anklagen spürte ich in mir eine Offenheit, die voller Liebe und Leichtigkeit war. Das ist der Segen der Zuflucht zur Wahrheit.
Die Dichterin Dorothy Hunt schreibt dazu:
Frieden ist der Augenblick ohne Urteil.
Das ist alles. Dieser Augenblick im Herzensraum,
in dem alles, was ist, willkommen ist.
Hinweise zur Anwendung von RAIN
Wenn schwierige Emotionen auftauchen, können Sie die Schritte von RAIN im Rahmen einer formellen Meditationspraxis durchführen, oder Sie können sie sich wie ich mitten in Ihrem täglichen Leben vergegenwärtigen. So oder so geht es darum, sich bewusst und mit klarer Absicht auf die Praxis einzulassen – sich bewusst mit verbindlicher Präsenz dem zuzuwenden, was hier und jetzt wahr ist.
Das Folgende sind weitere Empfehlungen, die sich im Laufe meiner Weitergabe von RAIN an viele Schüler und Therapeuten als hilfreich erwiesen haben.
~ Innehalten ~
Nehmen Sie sich Zeit zum Innehalten, bevor Sie mit RAIN beginnen. Dieses Innehalten kann bedeuten, dass Sie sich tatsächlich körperlich aus der Situation zurückziehen, die den äußeren Auslöser darstellt. Doch vor allem geht es dabei um eine innere »Auszeit« von dem Wust an reaktiven Gedanken. Durch diese Auszeit erzeugen Sie bewusst einen ablenkungsfreien, aufmerksamen Zustand. Diese Bereitschaft, Ihre gewohnten Aktivitäten zu unterbrechen und sich Zeit für Präsenz zu nehmen, wird den Fokus und die Klarheit Ihrer Praxis stärken.
~ Sich die Unterstützung einer regelmäßigen Meditationspraxis gönnen ~
Eine regelmäßige Meditationspraxis erweckt und nährt die zentralen Bestandteile von RAIN – Achtsamkeit, Offenherzigkeit und Erkundung. Auf meinem Abendspaziergang an jenem Weihnachtsfeiertag waren mir meine durch mein Meditationstraining erworbenen Fähigkeiten sehr nützlich. Meine Übung in Achtsamkeit auf die Gedanken ermöglichte es mir, mir meiner Gedanken bewusst zu werden, ohne mich in ihnen zu verlieren. Durch meine Übung darin, mit unangenehmen Erfahrungen präsent zu bleiben, konnte ich mich den schmerzhaften Gefühlen und Empfindungen in meinem Körper zuwenden. Und vielleicht am wichtigsten: Durch meine Praxis, Selbstmitgefühl in mir zu erwecken – ein Kernelement meines eigenen meditativen Wegs und meiner Lehren –, konnte ich den Ansturm der Urteile und Anklagen mit warmer, wohlwollender Aufmerksamkeit betrachten.
~ Flexibilität kultivieren ~
Jeder von uns hat einen einzigartigen Körper und Geist mit einer bestimmten Geschichte und bestimmten Prägungen. Niemand kann uns eine Formel geben, die für alle unsere Situationen und Geisteszustände passt. Nur indem wir immer wieder aufs Neue offen nach innen lauschen, können wir erkennen, was unserer Heilung und Freiheit in jedem Augenblick am besten dient.
Seien Sie sich beim Umgang mit RAIN bitte bewusst, dass die Sequenz, in der ich die Schritte vorgestellt habe, weder so festgelegt noch unbedingt linearer Natur ist. Sie können die Reihenfolge so anpassen, wie es Ihrer inneren Erfahrung entspricht. Vielleicht erkennen Sie beim Auftauchen von Ängstlichkeit sofort ein Ihnen vertrautes Muster, welches Sie auch von vielen Ihrer Bekannten kennen und deswegen weniger »persönlich« nehmen. Damit sind Sie dann bereits beim N von RAIN angekommen. Statt weiterer Aktivitäten wie wohlwollendes Erkunden können Sie einfach in natürlicher Präsenz ruhen. Sie können Ihre RAIN-Praxis auch beenden, ohne alle Schritte formell abgearbeitet zu haben, wenn Sie zum Beispiel während des Prozesses auf etwas Unerwartetes stoßen.
Während Sie so nach innen lauschend nachforschen, was jetzt nötig ist, mögen Sie sich auch angeregt fühlen, RAIN mit anderen Meditationsformen zu kombinieren. Vielleicht möchten Sie sich mit einer körperorientierten Besinnung (wie »Innehalten für Präsenz«, siehe in Kapitel 1), Yoga oder einer Geh-Meditation erden. Wenn während des Prozesses starke Gefühle auftauchen, möchten Sie sich vielleicht eine Weile einfach auf Ihren Atem fokussieren. Oder Sie merken, dass ein paar Minuten der Herzensgüte-Praxis (siehe in Kapitel 2) Sie darin unterstützen, wohlwollendere und mitfühlendere Aufmerksamkeit für die Erkundung aufzubringen. Durch diese Art des Nach-innen-Hörens und der Flexibilität kann aus einer zunächst vielleicht mechanisch wirkenden Technik ein kreatives, lebendiges Instrument werden, welches Ihr Erwachen auf dem spirituellen Weg fördert.
~ Mit »Kleinkram« üben ~
Wenn wir bei kleinen Sorgen präsent bleiben, üben wir uns darin, auch mit großen Widrigkeiten umgehen zu können, rät Shantideva, der buddhistische Lehrer aus dem 8. Jahrhundert. Jedes Mal, wenn Sie einer Situation, in der Sie gewöhnlich einfach reagieren, mit RAIN begegnen, stärken Sie Ihre Fähigkeit, aus der Trance zu erwachen. Vielleicht wissen Sie bereits, was Ihr chronischer »Kleinkram« ist – die Genervtheit, wenn sich jemand mehrfach wiederholt; die Unruhe, wenn Sie irgendwo anstehen müssen; die Frustration, wenn Sie beim Einkaufen etwas vergessen haben –, und Sie entschließen sich, dann innezuhalten und eine »leichte« Version von RAIN durchzuführen, wie sie als geführte Meditation am Ende dieses Kapitels beschrieben wird. Durch häufiges Innehalten und eine interessierte, präsente Zuwendung zu Ihren gewohnten Reaktionsmustern wird Ihr Leben immer spontaner und freier werden.
~ Hilfe in Anspruch nehmen ~
Die Anwendung von RAIN kann unser emotionales Erleben intensivieren. Einige Formen westlicher Psychotherapie bieten wertvolle Hilfen bei der Erkundung schmerzhafter und verwirrender Gefühle. Meine Arbeit mit Klienten wurde durch Focusing (von Eugene Gendlin entwickelt) beeinflusst, einer körperorientierten Psychotherapie, bei der dem Gefühl einer Erfahrung mit offener, annehmender Aufmerksamkeit nachgegangen wird. Bei anderen auf Achtsamkeit beruhenden Therapien wird auf ähnliche Weise eine heilende Aufmerksamkeit aufrechterhalten, während wir erforschen, was in uns geschieht.
Wenn Sie befürchten, von Ihren Gefühlen überwältigt zu werden, rate ich Ihnen, den Prozess nicht alleine durchzuführen und sich Hilfe zu suchen. Besonders wenn Sie mit posttraumatischem Stress arbeiten möchten, kann es wichtig oder sogar unerlässlich sein, dies mit Hilfe einer Therapeutin oder eines psychologisch erfahrenen Meditationslehrers zu machen. Die Anwesenheit einer erfahrenen Person, der Sie vertrauen, kann Ihnen helfen, sich sicher genug zu fühlen, um sich mit Ihrer Verletzlichkeit zu verbinden, und Unterstützung zu haben, wenn das, was auftaucht, »zu viel« erscheint. (Weitere Hinweise für den Umgang mit Trauma finden Sie auch in Kapitel 9.)
~ Die Sinne als Zugang zur Präsenz nutzen ~
Die Anwendung von RAIN lebt davon, aus unseren Gedanken auszusteigen und uns mit unserer körperlichen Erfahrung zu verbinden. Viele Menschen gehen von Gedanken besessen durch ihr Leben und spüren ihren Körper oft nur wenig. Tiefe emotionale Verwundungen oder Traumatisierungen fördern die Dissoziation vom Körper. Ob Sie sich durch tiefe Angst oder Scham durcharbeiten oder einem weniger akuten emotionalen Reaktionsmuster zuwenden: Die Aufmerksamkeit dafür, wie diese Erfahrung in Ihrem Körper zum Ausdruck kommt, wird Ihre innere Freiheit vergrößern. Der Wendepunkt meines Prozesses an jenem Abendspaziergang kam, als ich direkt spüren konnte, wie die Schichten der Verurteilungen, des Empfindens von Minderwertigkeit und des Kummers auf mein Herz drückten.
~ Achtsam mit Zweifeln umgehen ~
Zweifel können nicht nur den RAIN-Prozess, sondern jeglichen Zugang zu wahrer Zuflucht erheblich behindern. Der Buddha hielt Zweifel (zusammen mit Anhaftung und Ablehnung) für ein universelles Hindernis für spirituelle Freiheit. Wenn Sie Überzeugungen wie »Ich werde mich nie ändern«, »Ich bin für einen spirituellen Weg einfach nicht geeignet« oder »Heilung und Freiheit sind gar nicht wirklich möglich« in sich tragen, fahren Sie sich leicht fest.
Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass mancher Zweifel auch gesund ist, zum Beispiel: »Ich bin mir nicht mehr sicher, ob diese Arbeit meinen Werten entspricht«, oder: »Vielleicht bin ich es ja, die keine Nähe zulässt«, oder: »Ob ich einer spirituellen Lehrerin wohl trauen kann, wenn sie sich abfällig über andere äußert?« Ähnlich wie beim Erforschen entsteht gesunder Zweifel aus dem Drang, die Wahrheit zu erkennen – er stellt bisher gültige Annahmen oder den Status quo infrage, um zu mehr Heilung und Freiheit zu gelangen. Im Gegensatz dazu entsteht ungesunder Zweifel aus Angst und Ablehnung und stellt das eigene Potenzial, den eigenen Wert oder den Wert anderer infrage.
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