Kitabı oku: «Zwei und zwei», sayfa 3

Yazı tipi:

»Lydia, kannst du nicht schlafen?«, fragte Christine.

»Die Angst lässt mich nicht. Und ich habe kalte Füße.«

Christine sprang auf und kramte in der Kommode nach einem Paar Socken für ihre Freundin. »Schlüpf unter die Bettdecke«, sagte sie. »Wärm dich auf.«

Als Lydia sich ins Bett legte, waren ihre Bewegungen steif wie die einer alten Frau; sie schien tatsächlich zu zittern vor Kälte, trotz der warmen Nacht. Alex schwieg zunächst, drehte ihnen weiter den Rücken zu, obwohl er bestimmt wach war. »Ich habe Angst«, sagte Lydia. »Jane Ogden hat mir erzählt, dass Zachary schwarzes Blut erbrochen hat.«

»Warum musste sie dir das auch erzählen?«, antwortete Christine besänftigend. »Warum musstest du das wissen?«

»Hier fühle ich mich sicherer, zwischen euch beiden.«

Christine ertastete unter der Decke die eiskalten Füße ihrer Freundin. Behutsam zog sie ihr die Wollsocken über, dann legte sie sich wieder zu ihr ins Bett, schlang einen Arm um sie, die nun zwischen ihnen an Alex’ Rücken lag. Da drehte er sich um und umfasste sie ebenfalls. »Arme Lydia«, sagte er.

»Ach, Alex. Ich wünschte, ich wäre gestorben und er wäre noch hier.«

»Sei nicht albern. Du bist uns geblieben, das macht dich umso kostbarer für uns.«

Zuerst dachte Christine, Lydia würde nie einschlafen: Sie spürte das Rasen der Panik im Körper ihrer Freundin wie den regen Stoffwechsel eines Tiers. Sehr bald aber ging Lydias Atem anders, wurde flach, und sie begann unbewusst zu zucken. Nun war es Christine, die sinnlos wach lag. Ihr war heiß, Lydias fiebrige Träume schienen sie zu verbrennen. Christine hätte nicht sagen können, ob Alex gleichfalls wach lag. Sie erwartete beinahe, dass er aus dem Bett schlüpfen und nach unten gehen würde, um im Gästezimmer bequemer zu schlafen. Doch er rührte sich nicht.

2

Als sie alle um die zwanzig waren und sich gerade erst kennenlernten, hatte Lydia Smith sich als Erste in Alexandr verliebt. Er war damals, Mitte der achtziger Jahre, mit seiner ersten Frau Juliet verheiratet. Sandy war drei oder vier Jahre alt. Lydia und Christine hatten eben ihr Studium abgeschlossen, sie teilten sich noch ein Haus mit einigen anderen befreundeten Studenten; Christine hatte ihre Doktorarbeit in Literaturwissenschaft in Angriff genommen, die sie dann nie abschloss, Lydia arbeitete stundenweise in einer Bar. Alexandr Klimec war ein paar Jahre älter, er kam ihnen richtig erwachsen vor, mit einem wirklichen Leben. Sie hatten ihn kennengelernt, als er an ihrer Universität Französisch unterrichtete; zu der Zeit musste man noch einen Französischkurs belegen, wenn man einen Abschluss in Englisch machen wollte. Wahrscheinlich hatte er sie kaum wahrgenommen, zwei Mädchen in einer gemischten Studentengruppe – obwohl Männer Lydia im Allgemeinen sehr wohl wahrnahmen. Jedenfalls hatten die Mädchen Alex hinreißend gefunden, so akkurat und kultiviert, mit seinem fremdartigen guten Aussehen, seinen eigenartigen, haselnussbraunen Katzenaugen, seiner messerscharfen Intelligenz, seiner Verachtung für ihre Unwissenheit, seinem leicht gutturalen französischen Akzent. Er hatte sich nicht einmal bequemt, mit ihnen zu flirten, wie andere männliche Dozenten das taten. Sie fanden das ausgesprochen kränkend.

Als der Französischkurs beendet war, dachte Christine kaum mehr an ihn – sie erinnerte sich nur an Hypocrite lecteur, mon semblable, mon frère! Aber im Herbst nach ihrem Examen gestand Lydia, dass sie herausbekommen hatte, wo Alex wohnte und dass er verheiratet war und ein Kind hatte. Sie hatte sich Juliet als Studentin von Alex vorgestellt und behauptet, sie suche einen Job als Babysitterin. Juliet hatte sich ihre Telefonnummer notiert und sie auch schon angerufen.

»Ich möchte, dass du die ersten paar Male mitkommst«, sagte Lydia zu Christine. »Damit sie nicht denken, ich führe etwas im Schilde. Was ich natürlich tue.«

»Aber du magst Kinder doch gar nicht!«

»Ich mache das nicht, um an sein Kind heranzukommen. Chris, ich bin verrückt nach diesem Mann. Er erscheint mir sogar in meinen Träumen – ich rede nicht von Tagträumen, ich meine richtige Träume in der Nacht, wenn ich schlafe. In diesen Träumen stolpere ich immer hinter ihm her, und dann dreht er sich um und erkennt mich gar nicht, oder er guckt glatt durch mich durch. Oder ich habe Blutflecken am Rock, oder ich habe meine Hausaufgaben für seinen Kurs gemacht, aber sie sind verdreckt, weil mir die Seiten auf der Straße aus der Hand gefallen sind.«

»Aber das ist doch furchtbar, Lyd, in seinem Haus herumzuschnüffeln.«

»Ich muss einfach wissen, ob ich eine Chance habe. Ich schwöre, wenn sich herausstellt, dass er glücklich und zufrieden verheiratet ist, gebe ich die Sache auf. Ich erzähle Juliet, ich hätte mit dem Babysitten aufgehört, weil mich ein Hund gebissen hat. Oder ein Baby. Du wirst den Namen Klimec nie wieder aus meinem Mund hören. Ich ziehe mich in ein Kloster zurück.«

Sie tranken chinesischen Tee mit Zitrone in Lydias Zimmer; Lydia saß in einem verknitterten scharlachroten Seidenkimono im Schneidersitz auf ihrem ungemachten Bett, die Augen mit Kajal umrahmt, und wedelte auf ihre affektierte Art mit einer zwischen den Fingerspitzen gehaltenen Zigarette, an der sie flüchtig zog. Sie konnte dafür sorgen, dass Christine sich sehr weltfremd vorkam. Und sie war damals wirklich weltfremd: Groß, dünn und unbedarft, einen Strang ihres hellbraunen Haars um den Kopf gewunden, sah sie aus wie die Karikatur einer altmodischen gelehrten Dame, obwohl sie erst 22 war; sie fuhr überall mit einem alten Fahrrad hin, ihre Bücher vorne im Korb, stieß sich mit einem Fuß am Gehweg ab und saß dann im dichten Londoner Verkehr kerzengerade, fast schon komisch aufgerichtet im Sattel. Christine war in London aufgewachsen, sie fühlte sich in der Stadt vollkommen zu Hause, aber irgendwie lebte sie dort wie eine Exilantin aus einer vornehmeren, gemächlicheren Welt. Sie hatte etwas Jungfräuliches an sich, obwohl sie im wörtlichen Sinn keine Jungfrau war. Lydia beneidete ihre Freundin um deren ruhige Selbstbeherrschung. Sie selbst konnte nicht Fahrrad fahren, konnte sich nicht vorstellen, sich jemals so ungeschützt und vertrauensvoll durch den Verkehr der Stadt zu bewegen.

»Und wie ist seine Frau?«, fragte Christine besorgt.

»So ein kleines Püppchen, schwarz gefärbte Haare, Haut wie Pergamentpapier, nervös. Muss eine Kindsbraut gewesen sein, so wie Shakespeares Julia. Anscheinend ist sie Schauspielerin. Dreht durch, weil sie sich den lieben langen Tag um das Kind kümmert, während Alex seine Gedichte schreibt.«

»Er schreibt Gedichte?«

»Demnächst erscheint ein Lyrikband von ihm. Er ist ein Genie, versteht sich.«

Lydia zögerte nie, wenn sie mit ihrer ausdruckslosen, harten Kleinmädchenstimme Urteile abgab – aber hinterher lachte sie dann über sich selbst, über die eigenen Exzesse. Die Entdeckung des gemeinsamen Sinns für Ironie war eine ungeheure Erleichterung für die beiden Freundinnen gewesen, als sie sich auf dem Mädchengymnasium kennenlernten – jede hatte befürchtet, sie sei die einzige Ungläubige. Lydia zog alles in Zweifel. Christine war fast enttäuscht, dass Lydia sich nun doch heftig verliebt hatte.Sonst waren ihr immer die Jungen nachgelaufen, während sie sich unnahbar gab. Und eigentlich war Alex doch gar nicht ihr Typ – sie hatte behauptet, sie könne diese unbeholfenen und aufgeblasenen Intellektuellen nicht ausstehen. Ihre bisherigen Freunde waren die hübschen Jungen gewesen, die sie in Clubs kennenlernte oder in der Bar, in der sie arbeitete: rank und schlank, mit gebleichten Haaren oder Augen-Make-up, hart und gefährlich. Wenn diese Jungen am Telefon des Hauses verstohlene Anrufe entgegennahmen, einsilbig oder einschmeichelnd, dachte Christine, dass sie vielleicht mit Drogen handelten. Sie hatte sich von dieser Seite von Lydias Leben ferngehalten – nicht aus Missbilligung, sondern aus Schüchternheit und auch aus Angst, dass die Jungen ihren gepflegten Akzent, ihre guten Manieren verachten würden.

Lydia war in eine Krise geraten, da sie nun beide ihre formale Bildung abgeschlossen hatten. Solange sie in deren Rahmen eingebunden waren, waren Widerspruch und Skepsis leicht gewesen – jetzt war mehr gefordert, und sie fürchtete sich davor, ihren Vorrat an Phantasie und Energie anzuzapfen und womöglich leer zu finden. Zuerst war die Verliebtheit in Alex ein Spiel für sie gewesen, das ihren Tagen Form und Ziel gab. Dann hatte ihre Besessenheit den ursprünglichen Zweck geschluckt. Ihr Verlangen nach ihm nagte an ihr, machte sie unvollständig; fatalistisch dachte sie, wenn sie irgendeine Begabung habe, dann wohl dafür – für eine zerstörerische Leidenschaft. Lydia hatte in dem Haus das größte Zimmer mit dem größten Bett – in dem sie genüsslich ausgestreckt in schmutzigen Laken schlief und meistens bis Mittag liegen blieb. In ihrem Zimmer herrschte das reinste Chaos, auf allen Möbelstücken lagen Kleider herum, oder sie waren dort auf den Boden gefallen, wo Lydia sie ausgezogen hatte. Sie hatte ein Talent dafür, unter dem Ramsch in Trödelläden wahre Schätze zu entdecken – alte Designerstücke aus Seide und Satin, steife Tüllpetticoats; alles roch nach Mottenkugeln oder nach Bier und Zigarettenrauch aus der Bar.

Das Haus war halb verfallen, und sie lebten darin wie Kinder, die Erwachsene spielen. Christines Zimmer im Erdgeschoss war halb so groß wie Lydias und kühl, mit einem grünlichen Licht, das sie liebte. Die Verandatür führte auf ein verfallenes Gewächshaus und einen verwilderten Garten hinaus. In diesem grün erleuchteten Raum hockte sie über ihren Gedichtbänden, machte sich Notizen, arbeitete abends im Schein ihrer Schreibtischlampe, hörte in ihrem Rücken das gedämpfte Rauschen des Regens auf den Blättern im Garten. Das Thema ihrer Dissertation war Christina Rossetti. Die männlichen Hochschullehrer hatten ihr das auszureden versucht und behauptet, Rossettis Dichtung sei zu wenig gehaltvoll, würde einer kontinuierlichen Betrachtung auf diesem Niveau nicht standhalten. Sie blieb trotzdem dabei, aber nicht ohne Selbstzweifel. Wenn Lydia in der Bar frei hatte, trug Christine spätabends gern ein Tablett mit Tee zu ihr hinauf. Auch Lydia hatte dann gelesen. Das ganze Haus schien mit der je eigenen Konzentration, dem Schweigen der beiden Freundinnen aufgeladen. Doch Lydia las völlig anders: Keine Lyrik, sondern immer Romane, die sie reihenweise verschlang, Klassiker, Zeitgenössisches und Thriller wirr durcheinander; kaum hatte sie den letzten Satz eines Buches gelesen, schlug sie schon ein neues auf. Während sie las, vergaß sie alles um sich herum, dann klappte sie das Buch meist kommentarlos oder mit einem raschen, entschieden vorgetragenen Urteil zu: »langweilig« oder »hervorragend«. Wenn Christine nach dem Buch griff, blätterte sie verwirrt darin herum, verstört von so vielen Wörtern. »Aber warum ist es langweilig?«

»Die Heldin hatte so einen blöden Namen.«

Lydia hatte mit dem letzten Universitätsexamen aufgehört, in den wissenschaftlichen Kategorien, die sie sich für ihren Abschluss hatte aneignen müssen, über Bücher nachzudenken; bei den Prüfungen hatte sie allerdings sehr gut abgeschnitten, fast so gut wie Christine. Sie sprach über die kritische Analyse wie über einen Kunstgriff, den man zu strategischen Zwecken anwenden konnte oder auch nicht; für Christine, die in der wissenschaftlichen Arbeit ihre Zukunft sah, war das verletzend. Andererseits war sie es gewohnt, von Lydia verletzt zu werden, es machte ihr nichts aus. Christine hatte eine sehr glückliche Kindheit gehabt, sie hatte viel Ermutigung erfahren, sie konnte das verkraften. Lydias Familie war auch völlig in Ordnung: Ihre Eltern betrieben einen Pub. Allerdings interessierten sie sich nicht sehr für die Klugheit ihrer Tochter und fragten sich, warum sie sich keine anständige Arbeit suchte. Als sie einen Freiplatz am Gymnasium bekam, hatten sie gedacht, aus ihrer Tochter könnte einmal eine Geschäftsfrau oder Anwältin werden. Christine hatte zu jener Zeit die Arbeiterklasse verklärt und war Lydias Eltern daher mit ehrfürchtiger Scheu begegnet, sodass die Lydias Freundin für hochnäsig hielten. Und sich selbst ganz sicher nicht zur Arbeiterklasse zählten.

Die beiden Freundinnen waren unzertrennlich, seit sich bei ihrer ersten Feier zum Gedenken an die Gründerin der Schule ihre Blicke in ungläubigem Staunen getroffen hatten, fassungslos über die vielen devot im Gebet gebeugten Köpfe, das trübe Wogen der gehorsam auswendig gelernte Floskeln murmelnden Stimmen. Nicht dass sie renitent waren: Andere Mädchen, die alles glaubten, was die Schule ihnen sagte, waren viel renitenter. Christine Drinkwater und Lydia Smith hatten den subversiven Ernst wahrer Andersdenkender. Sie pinnten Zeitungsartikel ans Schwarze Brett, in denen die Übel des Privatschulwesens angeprangert wurden, sie boykottierten die Spendenaktionen ihrer Klasse – die immer Tieren zugute kamen. Christine war von Lydias geballter Energie angezogen, die sich nicht nach außen richtete, sondern etwas gleichsam Unrealisiertes, in ihr Schwelendes war. Ihr kühner Negativismus eröffnete Möglichkeiten, versprach Abenteuer.

Christine wunderte sich jetzt über die langen Tage, an denen sie nichts weiter zu tun hatte, als in der Unibibliothek oder an ihrem häuslichen Schreibtisch ihren Studien nachzugehen. Sie brauchte sich keinen Job zu suchen, weil sie ein Doktorandenstipendium hatte, und eine Lehrtätigkeit an der Universität hatte sie noch nicht aufgenommen. Sie war fleißig und liebte ihre Arbeit, aber die konnte ihre Tage nicht wirklich ausfüllen und sie auch innerlich nicht vollkommen befriedigen. Und so befand sich auch sie, wie Lydia, in einem Schwebezustand, wartete darauf, etwas Gewichtigeres zu entdecken, das sie zu ihrem Lebensinhalt machen könnte. Vielleicht wäre das die Mutterschaft, dachte Christine manchmal. Ihre eigene Mutter sprach bedeutungsvoll von dem Glück, das Kinder mit sich brachten, und Christine glaubte daran – und doch schien das eine recht ferne Möglichkeit zu sein, also wartete sie geduldig weiter.

Manchmal wurde sie vom Schlaf übermannt, während sie über ihren Texten saß. Und manchmal legte sie sich am hellen Nachmittag ins Bett, schuldbewusst, aber genießerisch, gab jede Verantwortung ab. Dann erwachte sie im grünen Licht des Zimmers in einer merkwürdigen Stimmung, von all dem massiven Druck ihres Wesens und ihrer Verpflichtungen befreit. Manchmal begann sie an diesen verlorenen Nachmittagen zu zeichnen und drehte dabei ihren Wecker von sich weg, damit sie nicht sah, wie die Zeit verging. In der Schule hatte sie im Kunstunterricht gute Noten bekommen, sie hatte ein Talent dafür, etwas im Bild zu erfassen, aber niemand hatte ihr je nahegelegt, das weiterzuverfolgen, sie hatte es nie ernsthaft in Betracht gezogen. Sie und ihre Brüder hatten immer auf die Universität hingearbeitet; eine Kunstakademie wäre nur als Ersatz begriffen worden, falls man das eigentliche Ziel verfehlt hatte. Ihre Familie schätzte die bildenden Künste sehr und sah sich alle Ausstellungen an, hätte aber eigene künstle- rische Ambitionen für vermessen gehalten. Neue Kunst war noch unausgegoren. Woher sollte man wissen, was etwas taugte und was nicht, wenn die Nachwelt noch nicht ihre Gewissheiten darum gelegt hatte? Sie hatten es lieber, wenn der Gegenstand ihrer Betrachtungen gut abgelagert war. Gegen ein Studium der Kunstgeschichte hätte niemand etwas einzuwenden gehabt.

Für Christine war das Zeichnen anfangs nur ein Gekritzel, ein Zeitvertreib, während sie über einzelne Gedichte nachsann und überlegte, was sie darüber schreiben sollte. Obwohl sie sich schämte, für eine kindische Marotte Geld zu verschwenden, kaufte sie in einem Geschäft für Künstlerbedarf Schabkarton. Und wenn sie sich, allein im Haus, über die Bögen beugte, das schwarze Wachs herauskratzte und die weißen Linien im Relief stehen ließ, schien sie einen neuen Boden auszuheben, der in ihrem Inneren lag und ihr doch unbekannt war. Das hatte etwas Barbarisches und Überschwängliches und Hochriskantes. Das erste Bild, das sie fertigstellte, zeigte einen Schnitt durch ein Rasenstück auf einem Friedhof, das Gras mit den Tropfen eines Regenschauers benetzt, und die seltsame rückwärtige Ansicht einer Amsel mit aufgefächerten Schwanzfedern, alles sehr nahe am Auge des Betrachters und zusammengedrängt. In der lehmigen Erde war zwischen Steinen und Würmern ein Leichnam vergraben: nicht in Verwesung, sondern wie ein lebendiger Körper – und auch nicht der ganze Körper, sondern nur eine Schulter, der Nacken und Haare, von hinten gesehen und dicht an den Bildrand geschoben. Als das Bild fertig war, wusste sie, dass es furchtbar plump und pseudo-viktorianisch war, und sie zeigte es niemandem, verbarg es unter anderen Papieren in einer Schreibtischschublade.

Schon als sie das erste Mal babysitten gingen, war Christine klar, dass Lydia alles falsch anfing. Den ganzen Nachmittag zog sie sich, krampfhaft bemüht, immer wieder etwas anderes an und entschied sich schließlich für eine altertümliche, mit Jettperlen bestickte Bluse aus schwarzem Seidenchiffon und dazu Jeans, was nicht gerade ein passendes Outfit für die Kinderbetreuung war. Außerdem trug sie zu viel Make-up und obendrein ihren Fuchsschwanzkragen. Alex machte ihnen die Tür auf. Er und Juliet wohnten in Kensal Rise in einem gemieteten kleinen Reihenhaus mit einem Gitterzaun und einem schmalen Streifen Vorgarten, wo Juliet Kräuter in Töpfen zog. Er schien sich vage an die Mädchen zu erinnern, nicht aber an ihre Namen. Als sie sagten, sie seien zum Babysitten gekommen, rief er misstrauisch nach Juliet, die von hinten aus der Küche kam, humpelnd, weil der kleine Junge sich an ihre Knie klammerte.

»Alex, hast du das etwa vergessen?«, fragte Juliet vorwurfsvoll und zog den Jungen auf ihre Hüfte; sie war sehr klein und Sandy sehr groß, dünn und blass, sodass man unwillkürlich dachte, hier wolle ein älteres Kind wieder Baby spielen. »Wir sind bei den Fairlies zum Essen eingeladen. Das sind die Mädchen, von denen ich dir erzählt habe. Sag guten Tag, Sandy.«

Sandy drehte das Gesicht weg, drückte sich an seine Mutter und fingerte verlegen an ihrer Brust herum.

»Herrgott, Jules«, erwiderte Alex. »Ich will nicht zu den Fairlies gehen. Wir mögen die Fairlies doch gar nicht. Ruf an und sag ihnen, Sandy sei krank oder so. Und diese Mädchen kannst du wegschicken.«

Es war offensichtlich, dass er und seine Frau einen erbitterten Streit ausfochten, der weit über diesen einen Abend hinausging; Christine spürte, dass Lydia jedes Anzeichen davon aufmerksam verfolgte. Alex ging wieder in sein Arbeitszimmer und machte die Tür zu, sah die Mädchen kaum an. »Beachten Sie ihn gar nicht«, sagte Juliet ungerührt. »Er muss jetzt ein bisschen schmollen. Sie wissen ja, wie Männer sind.«

Beide Mädchen schlugen sich – unfairerweise – sofort auf Alex’ Seite, Christine wegen des Französischkurses und des hypocrite lecteur. Aus sentimentalen Gründen ergriffen sie Partei für die Kunst und das geschlossene Studierzimmer und stellten sich gegen die Eintönigkeit der Kinderbetreuung. Juliet war zwar klein, strahlte aber eine kampflustige Entschlossenheit aus: flink und leichtfüßig, die schwarzen Locken mit einem Kamm hochgesteckt, an den Ohren baumelnde bemalte Ohrringe in Papageienform und ein blasses, beherrschtes Gesicht, hübsch und scharf geschnitten. Als sie Alex herunterputzte und in die Schranken wies, wussten die Mädchen, dass auch sie von ihr taxiert wurden und dass sie als erfahrene Ehefrau ihre romantische Schwärmerei durchschaute. Sie verschwand in Alex’ Arbeitszimmer und ließ die Mädchen mit Sandy zurück, der sich weinend an die Türritze drückte, als könnte er sich hinter seiner Mutter hindurchquetschen.

Die Mädchen lauschten gebannt und fasziniert, wie der Streit – dessen genauer Wortlaut unverständlich blieb – auf der anderen Seite mit unterdrückter Vehemenz hin und her ging: viel mehr von Juliets Seite als von Alex, dessen Schweigen gewichtig war. Schließlich kam Juliet triumphierend heraus und ging nach oben, um sich umzuziehen; dann kehrte sie in einem Zigeunerkleid aus schwarzem indischen Baumwolldruckstoff zurück, das ihre kleinen Brüste herausfordernd zur Geltung brachte. Sie versuchte, Sandy ins Bett zu bringen, aber der tauchte bald wieder auf, ließ seinen Babysitterinnen keine Ruhe, ein düsteres Gespenst in einem verwaschenen Schlafanzug: Er hatte riesige schläfrige Augen und eine durchsichtige Haut, die fast bläulich wirkte. »Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?«, sagte Juliet munter. »Wenn er müde ist, geht er von allein ins Bett.«

Alex nahm mit Märtyrermiene die Autoschlüssel vom Haken und folgte seiner Frau wortlos nach draußen zum Wagen; Sandy warf sich in stummer Verzweiflung gegen die hinter seinen Eltern zugefallene Tür. »Offensichtlich liebt er sie nicht«, verkündete Lydia und zündete sich ihre erste Zigarette an.

»Lydia, pssst. Und überhaupt, das kannst du so nicht sagen. Wir wissen doch gar nicht, wie eine Ehe funktioniert.«

»Wer liebt wen nicht?«

Sandy hatte plötzlich aufgehorcht. Lydia machte sich mit ihrem heiseren Lachen über ihn lustig; sie hatte keine Ahnung, wie man mit Kindern umging. »Ach, irgendwelche Leute, die du nicht kennst. Freunde von uns. X liebt Y nicht. Was verstehst du überhaupt von der Liebe? Du bist wohl ein kleiner Lauscher, ja?«

»Was ist ein Dauscher?«

Sandy zog es gleichsam magnetisch zu Lydia hin, und anfangs ließ sie ihren ganzen Erwachsenencharme spielen, flirtete mit ihm und neckte ihn, stellte ihm mit ihrer ausdruckslosen Stimme unpassende Fragen. »Kannst du schon lesen und schreiben? Warum nicht? Was sind das für Bilder auf deinem Schlafanzug? Segelboote? Hast du denn ein Segelboot? Wen magst du lieber, deine Mummy oder deinen Daddy?«

»Meine Mummy«, antwortete Sandy prompt.

Lydia tat, als wäre sie sein Daddy, machte ein trauriges Gesicht, rieb sich mit den Fäusten die Augen und jammerte. Sandy ging mitleidig zu ihr, hatte fast selbst Tränen in den Augen. Da packte sie ihn und stupste ihn in den Bauch, wollte ihn spielerisch beißen. Es war alles zu viel. Bald war Sandy völlig überdreht, rannte aufgeregt schreiend herum. Als er fünf Minuten später mit krampfhaftem Schluchzen in sich zusammensank, hatte Lydia genug von ihm, und Christine musste ihn ins Bett bringen, ihn beruhigen, ihm Geschichten vorlesen. Unterdessen hörte sie Lydia unten herumschnüffeln, Schubladen und Schränke aufmachen.

»Es geht um mein Überleben«, erklärte Lydia, als Sandy endlich eingeschlafen war. »Ich muss alles über Alex herausfinden. Meinst du, sie schlafen miteinander? Offenbar gibt es nur das eine Doppelbett. Aber meinst du, sie haben da tatsächlich Sex? Ich glaube das nicht. Da knistert nichts zwischen ihnen.«

Christine wollte nicht darüber nachdenken, ob Alex, den sie kaum kannten und vor dem sie Respekt hatten, überhaupt mit jemandem Sex hatte. Sie sagte, sie habe keine Ahnung. Doch die gesammelten Zeugnisse dieses fremden Lebens erregten unwillkürlich ihre Neugier – etwas von Alex’ Glanz fiel auch auf Juliet. Die Mädchen durchstöberten den Kühlschrank, probierten die alkoholischen Getränke, lasen die auf dem Fensterbrett zwischen den Pflanzen aufgestellten Ansichtskarten und sogar einige herumliegende Briefe; sie fahndeten in der Gestaltung der Räume nach ehelichen Geheimnissen. Es war klar zu erkennen, dass in diesem winzigen Haus zwei verschiedene Kräfte wirkten, die im Widerstreit miteinander lagen: auf der weiblichen Seite die Gläser voll Linsen und Pasta mit ihren bunt bemalten Deckeln, die Kinderzeichnungen am Kühlschrank, die indischen Stickereien auf Samt, die Pflanzen überall. Juliet verstand es, etwas zum Wachsen zu bringen. Dieser weiblichen Helligkeit und dem weiblichen Optimismus standen die schlicht eingebundenen Bücher auf den Regalen in Alex’ Arbeitszimmer entgegen, englische und französische Bücher und solche in anderen Sprachen, die sie nicht kannten, mörderisch hoch gestapelt und dick mit Staub bedeckt. Die elektrische Schreibmaschine, der Schreibtisch mit dem überquellenden Aschenbecher, die kaputte, schmutzige Jalousie, die schief vor der draußen herrschenden Dunkelheit hing, der Drehstuhl auf seinem verchromten Fuß: Das alles war betont hässlich, modern, ein nüchternes Abbild geistiger Tätigkeit. Die in den Regalen aufgestellten oder an die Wände gepinnten Schwarz-Weiß-Fotos zeigten sämtlich Männer, vermutlich andere Schriftsteller, aufgenommen in Räumen, die Alex’ Arbeitszimmer ähnlich und gleichfalls mit unordentlichen Bücher- und Papierstapeln vollgestellt waren.

Christine errötete über das Antiquierte ihrer eigenen Forschungsarbeit, ihre angestaubten liebeskranken Dichterinnen. Und sie wollte Lydia beschützen vor dem, was an Alex abschreckend wirken könnte: das ganze Gewicht einer Welt des Wissens, an der sie nicht teilhatten, ein geschichtlicher Hintergrund und ein Status in anderen Sprachen, der sie ausschloss, als provinziell und dumm entlarvte. Lydia setzte darauf, dass die Macht des Sex all diese ungeheuren Unterschiede überwinden würde. »Bist du sicher, dass Alex der Richtige für dich ist?«, fragte Christine behutsam. »Ich meine, selbst wenn er nicht verheiratet wäre. Ich glaube, er ist ziemlich kalt. Ich bewundere ihn, aber ich glaube, ich mag ihn nicht.«

Lydia stimmte ihr schicksalsergeben zu. »Er ist der völlig falsche Mann für mich. Aber es ist Liebe, da kann ich nichts machen.«

Ihren Dichterinnen zum Trotz glaubte Christine nicht recht an diese Art von Liebe. Sie selbst verliebte sich ständig, in ihren Doktorvater, in den Bruder eines ihrer Mitbewohner, sogar in einen Jungen, der im Fleischerladen arbeitete. Und gleichzeitig konnte sie ganz nüchtern zusehen, wie sie im sicheren Bewusstsein, dass sie, wenn sie wollte, augenblicklich frei sein könnte, ihre eigene Qual und Erniedrigung weiter schürte. Aber vielleicht war das, was Lydia empfand, die wahre Liebe und ihre eigene ironische Distanz eine Eigenart, die sie vom Leben ausschloss.

Als Alex und Juliet von ihrer Einladung zurückkehrten und ihre Babysitterinnen unschuldig vor dem Fernseher vorfanden, nebeneinander auf dem Sofa sitzend, hatte Alex’ Laune sich gebessert. Er scherzte mit ihnen, während Juliet in ihrer Geldbörse kramte, um sie zu bezahlen. Er fragte, ob sie noch immer Baudelaire und Rimbaud läsen. Ob sie die Dekadenz schon aufgegeben hätten? Lydia bot ihren ganzen Charme auf und plauderte eifrig, unterstrich ihre Bemerkungen mit unecht klingendem Gelächter. »O nein«, sagte sie. »Wir werden noch jahrelang dekadent bleiben!«

Doch Christine merkte, dass Alex auf diesen Charme nicht so reagierte, wie er sollte. Lydias kühne Offenheit, ihre belustigten Darbietungen mit weit aufgerissenen Augen und der Selbstgefälligkeit einer schnurrenden Katze, mit denen sie anderen Männern den Kopf verdreht hatte, machten auf ihn keinen Eindruck. Vor dem gereiften und erwachsenen Alex wirkte Lydias Raffinesse falsch und hausbacken, peinlich wie bei einem altklugen Kind.

Bald war Lydia beinahe täglich in Kensal Rise. Von Alex sah sie jedoch nicht viel; meist passte sie auf Sandy auf oder trank am Küchentisch Kaffee oder Wein mit Juliet, die alle Kümmernisse ihrer Ehe vor ihr ausbreitete. Eigentlich fand sie Juliet sogar nett. Lydia war im Grunde leicht zu beeindrucken, auch wenn sie sich so aufgeklärt und wissend gab und so entschiedene Ansichten hatte. Sie entwickelte immer eine starke Beziehung zu den Frauen, die sie kennenlernte, wollte von ihnen erfahren, wie man erwachsen wurde, was für ein Mensch man sein sollte; sie bewunderte Juliets helles kleines Haus, ihre ordentlichen Schränke, ihre Tüchtigkeit und Zähigkeit – und hatte zugleich etwas Angst vor ihr, war fasziniert von ihrer Vertrautheit mit Alex. Ein so intensives, so tiefgründiges Dasein war ihr für sich selbst unvorstellbar.

Alex sei launisch und schwierig, klagte Juliet. Er könne sich nicht amüsieren. Er liebe seinen kleinen Sohn, meine aber, er könne einfach so weiterleben wie früher, als er noch kein Kind hatte, den ganzen Tag lesen und auf seiner Schreibmaschine herumtippen oder ohne ein Wort aus dem Haus gehen und manchmal stundenlang fortbleiben. Er erwarte, dass Juliet die Hauptlast der Kinderbetreuung trage – weshalb sie nur schwer Arbeit als Schauspielerin finde, obwohl das viel mehr einbringe als seine Gedichte. Genau genommen brächten seine Gedichte überhaupt nichts ein. Juliet dürfe kein Wort darüber verlieren, wie viele Bücher er kaufe, obwohl sie so wenig Geld hätten, dass sie wochenlang nur mit Linsen und Kartoffeln kochen müsse. »Ihm ist das egal«, sagte sie. »Er nimmt ja kaum wahr, was er isst.«

Lydia ging verständnisvoll auf Juliets Mühen im Zusammenleben mit Alex ein, doch gleichzeitig machten ihn diese Geschichten noch begehrenswerter. Sie dachte, wenn sie ihn erst hätte, würde sie nicht versuchen, ihn zu bändigen, ihn festzubinden. Und überhaupt, wer würde nicht lieber Bücher kaufen statt Linsen?

»Hast du kein schlechtes Gewissen?«, fragte Christine. »Ich meine, du lässt dir das alles von Juliet erzählen und überlegst dabei ständig, wie du ihn ihr wegschnappen kannst. Willst du eine Affäre mit ihm anfangen?«

»Aber ich sehe ihn doch gar nicht! Nur das Kind ist verrückt nach mir. Der Kleine kriegt gar nicht genug von mir, will mir ständig unter den Rock oder in den BH greifen. Und er bringt mich auf die Palme mit seiner Fragerei. Erinnere mich daran, dass ich niemals Kinder haben will.«

»Bei einem eigenen wäre es was anderes.«

»Meinst du? Kann sein.«

Als Alex’ Buch erschien, vertieften sich die Mädchen gemeinsam in seine Gedichte. Lydia las sie einzeln laut vor, versuchte sie zu entschlüsseln wie einen Code, einen Zugang zu finden zu dem, was er sagen wollte. Die Gedichte waren ziemlich kurz, standen, jedes für sich, in der Mitte einer cremefarbenen Seite, und die Wörter selbst waren nicht unverständlich, es waren schlichte, alltägliche Wörter. Oberflächlich betrachtet, schienen die Gedichte von realen Gegenständen – einem Sofa, einem Kohlenschuppen, einem Brotmesser – oder von konkreten Momenten in der realen Welt zu handeln. Dennoch hatten die Mädchen trotz ihrer literarischen Bildung keine Ahnung, wie sie die Gedichte lesen oder was sie ihnen entnehmen sollten. Aus den Angaben über den Autor erfuhren sie, dass Alex’ Familie 1968, als er neun Jahre alt war, aus der Tschechoslowakei nach England gekommen war und dass sein Vater gleichfalls Schriftsteller gewesen war, Romancier. Die Gedichte erinnerten Christine an die konkreten Gegenstände in Alex’ Arbeitszimmer: nicht anmutig oder bewegend wie die Lyrik, an die sie gewöhnt war, sondern dicht und schwer auf der Seite, funktional, die Wörter so genau an Alex’ Gedanken angepasst wie durch langen Gebrauch glatt gewetzte Werkzeuge. Ihre Kraft lag darin, dass sie sich jeder schönen oder beruhigenden Lesart widersetzten.

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