Kitabı oku: «Von Zwanzig bis Dreißig»
Von Zwanzig bis Dreißig
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Erstes Kapitel
Berlin 1840
In der Wilhelm Roseschen Apotheke (Spandauer Straße)
Zweites Kapitel
Literarische Vereine. Der Lenau-Verein: Fritz Esselbach, Hermann Maron, Julius Faucher
Drittes Kapitel
Der Platen-Verein: Egbert Hanisch
»Mein Leipzig lob' ich mir«
Erstes Kapitel
Bei »Kaiser Franz«
Erstes KapitelEintritt ins Regiment. Auf Königswache. Urlaub nach England
Zweites KapitelReise nach England. Unterwegs. Der rote Doppel-Louisdor. Ankunft. Verlegenheiten, Windsor. Hampton-Court. In der Kapelle von Eduard dem Bekenner. In den Dockskellern
Drittes KapitelWieder in Berlin. Letztes halbes Jahr bei »Franz«. Auf Pulvermühlwache
Der Tunnel über der Spree
Aus dem Berliner literarischen Leben der vierziger und fünfziger Jahre
Erstes KapitelDer Tunnel, seine Mitglieder und seine Einrichtungen
Zweites KapitelMein Eintritt in den Tunnel. Graf Moritz Strachwitz
Drittes KapitelFranz Kugler. Paul Heyse. Friedrich Eggers. Richard Lucae. Wollheim da Fonseca
Viertes KapitelTheodor Storm
Fünftes KapitelLeo Goldammer. Heinrich Smidt. Hugo von Blomberg. Schulrat Methfessel
Sechstes KapitelLouis Schneider
Siebentes KapitelGeorge Hesekiel
Achtes KapitelBernhard von Lepel
Neuntes KapitelWilhelm von Merckel
Fritz, Fritz, die Brücke kommt
Erstes KapitelVerlobung. Der alte Rouanet
Zweites Kapitel»Rat Kummer«. Des alten Rouanet Enkelin
Drittes KapitelBei Professor Sonnenschein. Onkel August wieder in Berlin; seine letzten Jahre, sein Ausgang. Examen. In die Jungsche Apotheke
Der achtzehnte März
Erstes KapitelDer achtzehnte März
Zweites KapitelDer andere Morgen (neunzehnter März). Die »Proklamation«. »Alles bewilligt«. Betrachtungen über Straßenkämpfe. Leopold von Gerlachs Buch
Drittes KapitelDer einundzwanzigste März
Viertes KapitelAuf dem Wollboden. Erstes und letztes Auftreten als Politiker
Fünftes KapitelNachspiel. Berlin im Mai und Juni 48
In Bethanien
Erstes KapitelBethanien und seine Leute
Zweites KapitelZwei Diakonissinnen
Drittes KapitelWie mir die bethanischen Tage vergingen
Im Hafen
Erstes Kapitel
Impressum
Vorwort
Von »Zwanzig bis Dreißig« – unter diesem Titel gebe ich hier Autobiographisches, und zwar im Anschluß an schon früher veröffentlichte Mitteilungen, die, mit meinem zwölften Lebensjahre abschließend, sich »Meine Kinderjahre« betitelten.
Es könnte danach beinahe scheinen, als ob ich, gewollt oder nicht gewollt, eine Lücke gelassen und einen Sprung über acht Jahre fort gemacht hätte. Dies ist aber nicht der Fall, weil ich vielfach auf die zwischenliegende Zeit von Zwölf bis Zwanzig zurückgegriffen habe. Noch häufiger freilich weit darüber hinaus, was denn auch schließlich diesem Buche seinen etwas unstatthaften Umfang gegeben hat. Ich sehe darin einen Übelstand und empfinde denselben um so stärker, als ich wohl weiß, wie mißlich es ist, mit seinem Ich zu dauernd und zugleich zu weit und breit vor sein Publikum hinzutreten. Aber ich werde möglicherweise pardoniert, wenn ich an dieser Stelle schon verrate, daß ich, um ein bestimmtes Zuviel einigermaßen auszugleichen, von einer ursprünglich geplanten Weiterführung dieser meiner Erinnerungen Abstand genommen und vor mir selber diesen zweiten Teil auch zugleich als letzten proklamiert habe.
So blickt denn der momentan umdrängte Leser wenigstens in eine wolkenlose Zukunft und läßt diesen Blick ins Freie vielleicht mir und meinem Buche zugute kommen.
Berlin
Im Mai 1898
Th. F.
Erstes Kapitel
Berlin 1840
In der Wilhelm Roseschen Apotheke (Spandauer Straße)
Ostern 1836 war ich in die Rosesche Apotheke – Spandauer Straße, nahe der Garnisonkirche – eingetreten. Die Lehrzeit war wie herkömmlich auf vier Jahre festgesetzt, so daß ich Ostern 40 damit zu Ende gewesen wäre. Der alte Wilhelm Rose aber, mein Lehrprinzipal, erließ mir ein Vierteljahr, so daß ich schon Weihnachten 1839 aus der Stellung eines »jungen Herrn«, wie wir von den »Kohlenprovisors« genannt wurden, in die Stellung eines »Herrn« avancierte. Der bloße Prinzipalswille reichte jedoch für solch Avancement nicht aus, es war auch noch ein Examen nötig, das ich vor einer Behörde, dem Stadt- oder Kreisphysikat, zu bestehen hatte, und bei diesem vorausgehenden Akte möchte ich hier einen Augenblick verweilen.
Etwa um die Mitte Dezember teilte mir Wilhelm Rose mit, daß ich »angemeldet« sei und demgemäß am 19. selbigen Monats um halb vier Uhr nachmittags bei dem Kreisphysikus Dr. Natorp, Alte Jakobstraße, zu erscheinen hätte. Mir wurde dabei nicht gut zumut, weil ich wußte, daß Natorp wegen seiner Grobheit ebenso berühmt wie gefürchtet war. Aber was half es. Ich brach also an genanntem Tage rechtzeitig auf und ging auf die Alte Jakobstraße zu, die damals noch nicht ihre Verlängerung unter dem merkwürdigen, übrigens echt berlinischen Namen »Neue Alte Jakobstraße« hatte. Das noch aus der friderizianischen Zeit stammende, in einem dünnen Rokokostil gehaltene Häuschen, drin Natorp residierte, glich eher einer Prediger- als einer Stadtphysikuswohnung, Blumenbretter zogen sich herum, und ich fühlte deutlich, wie die Vorstellung, daß ich nunmehr einem Oger gegenüberzutreten hätte, wenigstens auf Augenblicke hinschwand. Oben freilich, wo, auf mein Klingeln, die Gittertür wie durch einen heftigen Schlag, der mich beinah wie mit traf, aufsprang, kehrte mir mein Angstgefühl zurück und wuchs stark, als ich gleich danach dem Gefürchteten in seiner mehr nach Tabak als nach Gelehrsamkeit aussehenden Stube gegenüberstand. Denn ich sah deutlich, daß er von seiner Nachmittagsruhe kam, also zu Grausamkeiten geneigt sein mußte; sein Bulldoggenkopf, mit den stark mit Blut unterlaufenen Augen, verriet in der Tat wenig Gutes. Aber wie das so geht, aus mir unbekannt gebliebenen Gründen war er sehr nett, ja geradezu gemütlich. Er nahm zunächst aus einem großen Wandschrank ein Herbarium und ein paar Kästchen mit Steinen heraus und stellte, während er die Herbariumblätter aufschlug, seine Fragen. Eine jede klang, wie wenn er sagen wollte: »Sehe schon, du weißt nichts; ich weiß aber auch nichts, und es ist auch ganz gleichgültig.« Kurzum, nach kaum zwanzig Minuten war ich in Gnaden entlassen und erhielt nur noch kurz die Weisung, mir am andern Tage mein Zeugnis abzuholen. Damit schieden wir.
Als ich wieder unten war, atmete ich auf und sah nach der Uhr. Es war erst vier. Das war mir viel zu früh, um schon wieder direkt nach Hause zu gehn, und da mich der von mir einzuschlagende Weg an dem Hause der d'Heureuseschen Konditorei vorbeiführte, drin – was ich aber damals noch nicht wußte – hundertundfünfzig Jahre früher der Alte Derfflinger gewohnt hatte, so beschloß ich, bei d'Heureuse einzutreten und den »Berliner Figaro«, mein Leib- und Magenblatt, zu lesen, darin ich als Lyriker und Balladier schon verschiedentlich aufgetreten war. Eine spezielle Hoffnung kam an diesem denkwürdigen Tage noch hinzu. Keine vierzehn Tage, daß ich wieder etwas eingeschickt hatte, noch dazu was Großes – wenn das nun vielleicht drin stünde! Gedanke, kaum gedacht zu werden. Ich trat also ein und setzte mich in die Nähe des Fensters, denn es dunkelte schon. Aber im selben Augenblicke, wo ich das Blatt in die Hand nahm, wurden auch schon die Gaslampen angesteckt, was mich veranlaßte, vom Fenster her an den Mitteltisch zu rücken. In mir war wohl die Vorahnung eines großen Ereignisses, und so kam es, daß ich eine kleine Weile zögerte, einen Blick in das schon aufgeschlagene Blatt zu tun. Indessen dem Mutigen gehört die Welt; ich ließ also schließlich mein Auge darüber hingleiten, und siehe da, da stand es: »Geschwisterliebe, Novelle von Th. Fontane.« Das Erscheinen der bis dahin in mal längeren, mal kürzeren Pausen von mir abgedruckten Gedichte hatte nicht annähernd solchen Eindruck auf mich gemacht, vielleicht weil sie immer kurz waren; aber hier diese vier Spalten mit »Fortsetzung folgt«, das war großartig. Ich war von allem, was dieser Nachmittag mir gebracht hatte, wie benommen und mußte es sein; vor wenig mehr als einer halben Stunde war ich bei Natorp zum »Herrn« und nun hier bei d'Heureuse zum Novellisten erhoben worden. Zu Hause angekommen, berichtete ich nur von meinem glücklich bestandenen Examen, über meinen zweiten Triumph schwieg ich, weil mir die Sache zu hoch stand, um sie vor ganz unqualifizierten Ohren auszukramen. Auch mocht' ich denken, es wird sich schon 'rumsprechen, und dann ist es besser, du hast nichts davon gemacht und dich vor Renommisterei zu bewahren gewußt.
Mit diesen Ereignissen schloß 1839 für mich ab, und das neue Jahr 40 brach an. Ich wechselte nicht, wie das gewöhnlich geschieht, meine Stellung, sondern blieb noch fast ein Jahr lang als Avancierter in meiner alten Position. Hatte dies auch nicht zu bedauern. Es war ein sehr angenehmes Jahr für mich, was in sehr verschiedenen Dingen und, so sonderbar es klingt, auch in der frischen politischen Brise, die damals gerade ging, seinen Grund hatte. Denn mit dem Sommer 1840 oder, was dasselbe sagen will, mit dem am 7. Juni erfolgten Tode Friedrich Wilhelms III. brach für Preußen eine neue Zeit an, und ich meinerseits stimmte nicht bloß in den überall um mich her auf Kosten des heimgegangenen Königs laut werdenden Enthusiasmus ein, sondern fand diese ziemlich illoyale Begeisterung auch berechtigt, ja pflichtmäßig und jedenfalls im hohen Maße gesinnungstüchtig. Jetzt denk' ich freilich anders darüber und bekenne mich mit Stolz und Freude zu einer beinah schwärmerischen Liebe zu diesem lange nicht genug gewürdigten und verehrten Könige. Während meiner märkischen Arbeiten, die mich später, durch viele Jahre hin, mit allen Volksschichten in Dorf und Stadt in Berührung brachten, bin ich der Eigenart dieses Königs in von Mund zu Mund gehenden Geschichten und Anekdoten viele hundert Male begegnet, und in immer wachsendem Grade habe ich dabei den Eindruck gehabt: Welch ein herrlicher Mann! Wie mustergültig in seiner wundervollen Einfachheit und wieviel echte wirkliche Weisheit in jedem seiner, vom bloßen Espritstandpunkt aus angesehen, freilich oft prosaisch und nüchtern wirkenden Aussprüche. Wenn überhaupt noch absolut regiert werden soll, was ich freilich weder wünsche noch für möglich halte, so muß es so sein. Ganz Patriarch. Man hat ihm den Beinamen des »Gerechten« gegeben und dann, nach Berliner Art, darüber gewitzelt; aber dies Wort »der Gerechte« drückt es doch aus, und weil es keine Phrase, sondern eine Wahrheit war, war es eine große Sache. Dazu kam noch eines: für mich hat das hohe Ansehen, das der so oft als unbedeutend erklärte König in seiner eignen Familie genoß, immer eine besondre Bedeutung gehabt, wenigstens nach der moralischen Seite hin. Der kluge Kronprinz, sosehr er dem Vater überlegen war, war doch voll Verehrung und rührendster Liebe für ihn. Und so jedes Mitglied des Hauses, die Kinder wie die Schwiegerkinder. Selbst der eiserne Nikolaus konnte dem Zauber dieses schlichten Mannes, der trotzdem ein König war, nicht widerstehn. Er dachte nicht daran, wie's damals hieß, einen »Knäs« oder »Unterknäs« aus ihm machen zu wollen, sondern hatte nur, wie wahrscheinlich für keinen andern Sterblichen, ein Hochmaß von respektvoller und zugleich herzlicher Zuneigung für ihn. Das bewies er noch in des Scheidenden letzter Stunde.
So denn noch einmal: ein König, der, wie wenige, die Liebe seines Volkes verdiente, war an jenem 7. Juni 1840 heimgegangen, aber andrerseits war zuzugestehn – und darin lag die Rechtfertigung für vieles, was geschah und nicht geschah –, daß es politisch nicht so weiter ging; die Stürme von 89 und 13 hatten nicht umsonst geweht, und so war es denn begreiflich, daß das altfranzösische »Der König ist tot, es lebe der König« in vielen Herzen mit vielleicht zu freudiger Betonung der Schlußworte gesprochen wurde. Knüpften sich doch die freiheitlichsten und zunächst auch berechtigtsten Hoffnungen an den Thronfolger. Die Menschen fühlten etwas, wie wenn nach kalten Maientagen, die das Knospen unnatürlich zurückgehalten haben, die Welt plötzlich wie in Blüten steht. Auf allen Gesichtern lag etwas von freudiger Verklärung und gab dem Leben jener Zeit einen hohen Reiz. »Es muß doch Frühling werden.« Alle die, die den Sommer 40 noch miterlebt haben, werden sich dieser Stimmung gern erinnern.
Ich zählte, so jung und unerfahren ich war, doch ganz zu denen, die das Anbrechen einer neuen Zeit begrüßten, und fühlte mich unendlich beglückt, an dem erwachenden politischen Leben teilnehmen zu können. Allwöchentlich hatte ich, neben sonstigen Freistunden, auch einen freien Nachmittag, und mit der Feierlichkeit eines Kirchgängers, ja sogar in der sonntäglichen Aufgeputztheit eines solchen, begab ich mich, wenn dieser freie Nachmittag da war, regelmäßig zu Stehely, um hier allerlei Zeitungen: die Kölnische, die Augsburger, die Leipziger Allgemeine etc. zu lesen. Dieser Wunsch wurde mir freilich immer nur sehr unvollkommen erfüllt, denn es war die Zeit der sogenannten »Zeitungstiger«, die sich unersättlich auf die Gesamtheit aller guten Zeitungen stürzten und diese, grausam erfinderisch, entweder auf dem Stuhl, auf dem sie saßen, oder unterm Arm – oder auch vorn in den Rock geschoben – unterzubringen wußten. Ein Einschreiten dagegen war nicht möglich, denn die betreffenden Herren waren nicht nur Stehelysche Habitués, sondern zugleich auch Leute von gesellschaftlicher Stellung. Es hieß also sich in Geduld fassen, und manchmal wurde man auch belohnt. Aber selbst wenn alles ausblieb, so verließ ich trotzdem das Lokal mit dem Gefühl, mich, eine Stunde lang, an einer geweihten Stätte befunden zu haben.
In gehobener Stimmung nahm ich dann andern Tages meine Arbeit wieder auf und fand es in dieser Stimmung jedesmal leichter, mit meiner Umgebung zu verkehren.
Von dieser nun zunächst ein Wort.
Da war in erster Linie der alte Wilhelm Rose selbst. Dieser – übrigens erst ein Mann in der ersten Hälfte der Vierzig – war, auf Gesellschaftlichkeit hin angesehn, nichts weniger als interessant, aber doch ein dankbarer Stoff für eine Charakterstudie.
Hätte man ihn einen Bourgeois genannt – ich weiß nicht, ob das Wort damals schon im Schwange war –, so hätte er sich einfach entsetzt; er war aber doch einer. Denn der Bourgeois, wie ich ihn auffasse, wurzelt nicht eigentlich oder wenigstens nicht ausschließlich im Geldsack; viele Leute, darunter Geheimräte, Professoren und Geistliche, Leute, die gar keinen Geldsack haben oder einen sehr kleinen, haben trotzdem eine Geldsackgesinnung und sehen sich dadurch in der beneidenswerten oder auch nicht beneidenswerten Lage, mit dem schönsten Bourgeois jederzeit wetteifern zu können. Alle geben sie vor, Ideale zu haben; in einem fort quasseln sie vom »Schönen, Guten, Wahren« und knicksen doch nur vor dem Goldnen Kalb, entweder indem sie tatsächlich alles, was Geld und Besitz heißt, umcouren oder sich doch heimlich in Sehnsucht danach verzehren. Diese Geheimbourgeois, diese Bourgeois ohne Arnheim, sind die weitaus schrecklicheren, weil ihr Leben als eine einzige große Lüge verläuft. Daß der liebe Gott sie schuf, um sich selber eine Freude zu machen, steht ihnen zunächst fest; alle sind durchaus »Zweifelsohne«, jeder erscheint sich als ein Ausbund von Güte, während in Wahrheit ihr Tun nur durch ihren Vorteil bestimmt wird, was auch alle Welt einsieht, nur sie selber nicht. Sie legen sich vielmehr alles aufs Edle hin zurecht und beweisen sich und andern in einem fort ihre gänzliche Selbstsuchtslosigkeit. Und jedesmal, wenn sie diesen Beweis führen, haben sie etwas Strahlendes.
In diese Gruppe gehörte nun auch unser Wilhelm Rose, der, während er glaubte, mit der längsten Elle gemessen werden zu können, doch schon bei gewöhnlichster Zollmessung zu kurz gekommen wäre. Vierundeinhalbes Jahr lang hab' ich ihm in die Karten sehen können. Er war der Mann der ewigen sittlichen Entrüstung, und doch, wenn beispielsweise feinere, also kostspieligere Drogen, an deren Beschaffenheit etwas hing, zu Kauf standen – ich mag hier keine Details geben –, so wurde daran nicht selten gespart, gespart also an Dingen, an denen schlechterdings nicht gespart werden durfte. Dann war er freilich auf zwölf Stunden hin in einer kleinen Verlegenheit. Aber es war nicht die richtige. Er genierte sich bloß, weil er an die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit eines Kontrolliertseins dachte.
Daß unser Wilhelm Rose nebenher auch den zweiten großen Bourgeoiszug hatte: den, alles, was von ihm ausging oder ihm zugehörte, gründlich zu bewundern, versteht sich von selbst; seine Apotheke war die berühmteste, sein Laboratorium war das schönste, seine Gehülfen und Lehrlinge waren die besten oder doch wenigstens durch sein Verdienst am besten untergebracht, und seine Kerbelsuppe (die wir jeden Mittwoch kriegten – eine furchtbare Semmelpampe) war die frühlingsgrünste, die gesündeste, die schmackhafteste. Jegliches, was seine Hand berührte, nahm schon dadurch einen Höhenstandpunkt ein, in Wahrheit aber war alles nur knappzu mittelmäßig. Entschuldigt wurde diese tief in Komik getauchte Hochschätzung freilich durch zweierlei. Zunächst dadurch, daß die ganze Zeit so war: die Scheidung in echt und unecht, in reell und unreell, in anständig und unanständig hatte damals noch nicht stattgefunden; alles, mit verschwindenden Ausnahmen, war angefleckt und angekränkelt. Es ist denn auch ein barer Unsinn, immer von der »guten alten Zeit« oder wohl gar von ihrer »Tugend« zu sprechen; umgekehrt, alles ist um vieles besser geworden, und in der schärferen Trennung von gut und bös, in dem entschiedneren Abschwenken (namentlich auch auf moralischem Gebiete) nach rechts und links hin erkenne ich den eigentlichsten Kulturfortschritt, den wir seitdem gemacht haben. Ich bin sicher, jeder, der sich auf solche Fragen und Dinge nur einigermaßen versteht, wird mir hierin beistimmen.
Aber der alte Rose, wie schon angedeutet, wurde nicht bloß durch die Zeitläufte, nicht bloß durch den allgemeinen Gesellschaftszustand entschuldigt, sondern ebensosehr oder vielleicht mehr noch durch seinen speziellen Lebensgang, will sagen durch das Milieu, darin er stand, auch, von Kindheit an, immer gestanden hatte. Sein Vater war ein ausgezeichneter Mann gewesen, und seine beiden Brüder, Heinrich und Gustav Rose, waren es noch. Unter diesen beiden Berühmtheiten bewegte er sich als ein Unberühmter, immer beinah krampfhaft bemüht, sich durch irgendwas Apartes als ein Ebenbürtiger neben ihnen einzureihn. Das führte denn natürlich zu lauter Halbheiten, unter denen sein Geschäft, sein guter Verstand und zuletzt auch sein Charakter zu leiden hatten. Er wurde mehr und mehr eine Zwittergestalt, ein Mann, der Apotheker hieß, während er doch eigentlich keiner war, weil er sich eben zu gut dafür hielt, und der nun allerlei Plänen und Aufgaben nachging, zu deren Bewältigung er weder die äußeren noch die inneren Mittel besaß. Obenan stand hier das Reisen. Er ging darin so weit, daß er sich ganz ernsthaft einbildete, etwas wie ein Entdecker oder Forschungsreisender zu sein, eine Gruppe von Personen, zu der er sich in Wirklichkeit doch nur verhielt wie ein Schlachtenbummler zu Moltke. Natürlich war er in Italien, Frankreich und England gewesen und hatte von London her – ganz charakteristisch für ihn und leider auch für unsre damaligen Gesamtzustände – die große Nachricht mitgebracht, »daß das Annähen eines Knopfes einen Schilling koste«. Da hatte man den Weltreisenden, der über einen Sechser nicht fortkonnte. Paris, London, Italien! Sein eigentlichstes Tummelfeld aber war die Schweiz. Hier bestieg er Berge bis zu 6000 Fuß und kam davon mit einer Siegermiene zurück, als habe sich etwas Ungeheuerliches zugetragen. Zu dieser Einbildung war er nun freilich bis zu einem gewissen Grade berechtigt; er litt nämlich, weil er kurzhalsig und ein Asthmatiker war, unter »Rigi« und »Schyniger Platte« ganz so, wie wenn er den Popokatepetl erstiegen hätte, und unterzog sich dieser Unbequemlichkeit auch nur deshalb, weil er nur so seine zweite, größere und weit über die Reiserei hinausgehende Leidenschaft zu befriedigen vermochte, die: vor einem aus jungen und zum Teil recht hübschen Professorenfrauen zusammengesetzten Kreise seine Reisevorträge halten zu können. Er war dann, den ganzen Tag über, in einer höchsten Aufregung, schnaufte durchs ganze Haus hin – wie denn Schnaufen überhaupt eine Haupteigenschaft von ihm war – und schleppte dabei Reliefkarten und illustrierte Werke vier Treppen hoch auf einen kleinen achteckigen Turm hinauf, der, ganz oben, mit einem mit vielen bunten Aussichtsglasscheiben reich ornamentierten Zimmer abschloß. Stieg man dann, und zwar durch eine aufzuklappende Lukentür, noch etwas höher hinauf, so hatte man, von einer umgitterten Plattform aus, einen wundervollen Überblick über Alt-Berlin. In diesem Turmzimmer, das nach Alchimie und Astrologie, nach Faust und Seni schmeckte, versammelten sich die zur Vorlesung geladenen Damen, und ich sage schwerlich zuviel, wenn ich ausspreche, daß der alte Rose in diesem Allerheiligsten die glücklichsten Stunden seines Daseins verbracht habe. Daß die Damen von einem gleichen Glücksgefühl erfüllt gewesen wären, möchte ich bezweifeln, weil der Vortragende, in Verkennung seiner Gaben, auch allerlei Witziges und Humoristisches einzustreuen liebte, will also sagen grade das, was ihm, neben Grazie, die Natur am meisten versagt hatte.
Dies alles klingt nun ein wenig lieblos und ist insoweit auch unverdient, als mein Lehrherr, gemessen an der Mehrzahl seiner Kollegen, immer noch von einer gewissen Überlegenheit war; in einem allerwichtigsten Punkt aber war er doch wirklich um ein erkleckliches schlimmer als diese. Das war, wie schon angedeutet, die tief eingewurzelte Vorstellung von seiner sittlichen Potenz, eine Vorstellung, deren ungewöhnliches Höhenmaß nur noch von ihrer Unberechtigtheit übertroffen wurde.
Soviel über König Artus selbst, woran ich zunächst nur noch ein Wort über seine Tafelrunde, will sagen seine Gehülfen und Lehrlinge, zu knüpfen habe. Diese letztren, die Lehrlinge also, waren – was sich auch später, in andren Offizinen, immer wiederholte – allerliebste junge Leute, frisch, gescheit, talentvoll, aus denen, ausnahmslos, auch was geworden ist. Daß dem so sein konnte, lag daran, daß sie sämtlich aus guten Häusern stammten, also die berühmte »gute Kinderstube« gehabt hatten. Die Bedeutung davon ist meist entscheidend fürs Leben und gar nicht hoch genug zu veranschlagen. Die altpreußische Redensart »Je ärmer, je besser« ist eine Torheit. Gäbe es eine einfache Armut, eine Armut an sich, so ließe sich über den Wert des bloßen Entbehrenlernens streiten; aber den von der landesüblichen Armut unzertrennlichen Druck, diesen und seine Wirkung – ein paar Kraftnaturen natürlich abgerechnet – werden die Durchschnittmenschen nicht wieder los. Und deshalb waren denn auch die Gehülfen ein vorwiegend minderwertiges Material, weil sie meist aus kleinen elenden Verhältnissen herkamen. Sie katzbuckelten und setzten sich dann zur Entschädigung aufs hohe Pferd, wo sie's irgendwie glaubten riskieren zu können. Scheiterten sie auch damit, so blieb ihnen immer noch das Intrigieren. Die besten waren deshalb in der Regel die, die sich schon der Karikatur näherten, und wenn sie nicht die besten waren, so waren sie doch jedenfalls die interessantesten. Unter diesen stand mein Freund Martin Döring obenan. Er war, eh er Apotheker wurde, mehrere Jahre lang in Wiesbaden oder Biebrich Soldat gewesen, weshalb wir ihn »unsren Nassau-Usinger« nannten. Er hatte ganz die Haltung eines kleinstaatlichen Unteroffiziers aus dem vorigen Jahrhundert, gradlinig und steif wie ein Ladestock, langer Rock, schwefelgelbe Weste und eine hohe schwarze Militärbinde. Martin Döring, ein guter Kerl, war wohl schon über vierzig. Unvergeßlich ist er mir durch ein besondres Malheur geworden, das eines Tages über ihn hereinbrach. Er war eigentlich sehr tugendhaft; einmal aber litt er doch Schiffbruch und kam dadurch in die Lage, sich eines Arztes versichern zu müssen. Er wählte dazu, höchst unklugerweise, den Roseschen Hausarzt, Geheimrat Dr. Bartels – Großvater des gegenwärtigen Sanitätsrats –, der ihn einfach an die Luft setzte, nachdem er ihm vorher eine Rede gehalten, in der das Wort »ungehörig« in allen möglichen und zum Teil sehr starken Schattierungen wiederkehrte. Der arme Mensch wollte sich denn auch das Leben nehmen, beruhigte sich aber wieder, nachdem er sich, in einer beneidenswert würdigen Haltung, über »Humanität« und »christliche Gesinnung«, die beide durch Bartels schwer geschädigt worden seien, gegen mich ausgesprochen hatte.
Zur selben Zeit, als wir uns dieses guten »Nassau-Usingers« erfreuten, hatten wir auch einen viven kleinen Sachsen in unsrer Mitte, der ein Bruder des damals noch unberühmten und seinen städtischen Beinamen noch nicht führenden Schulze-Delitzsch war. Dieser letztre, zu jener Zeit noch Assessor, sprach öfter bei uns vor und brachte mir seine nun wohl schon längst in Vergessenheit geratenen Dichtungen mit, an denen ich mich aufrichtig erbaute. Besonders an einem Liede, das glaub' ich »Der Verbannte« oder »Der Geächtete« hieß und mit den Worten schloß:
Frei allein sind im Walde die Vögel,
Und ich, ich bin vogelfrei...
Das erschien mir großartig, und ich war ganz hingerissen davon.
Ich habe bis hierher von den Personen im Hause gesprochen und möchte nun auch erzählen, wie das Leben darin war. Dies hatte manches Eigentümliche, was zum Teil an der lokalen Umgebung lag, zu der, wie schon eingangs erwähnt, auch die Garnisonkirche gehörte. Diese griff mannigfach in unser Leben ein. Meist um Ostern und Pfingsten herum gab es in dieser Kirche große Musikaufführungen, Oratorien von Graun, Händel, Mendelssohn, und an solchem Oratoriumstage verwandelte sich dann unsre Apotheke in eine Art Tempelvorhalle, drin die Billets verkauft wurden. Ich war jedesmal der »Mann am Schalter« und hatte dabei das Vergnügen – statt der üblichen Sommersprossenschönheiten mit krausem roten Haar, die Kurellasches Brustpulver oder Lippenpomade kauften –, ein gut Teil der vornehmen Berliner Welt an meinem Schiebefenster erscheinen zu sehn. Zum Schluß dann, wenn an weitren Billetverkauf nicht mehr zu denken war, ging ich auch wohl selber in die Kirche, blieb aber nie lange. Der erste Eindruck, wenn die Töne mächtig einsetzten, war immer groß, und ich fühlte mich wie gen Himmel gezogen; aber nach zehn Minuten schon kam eine gewisse Schläfrigkeit über mich, und ich machte dann, daß ich wieder fortkam. So ist es mir, bei großen Musikaufführungen, mein Lebelang ergangen. Man muß etwas davon verstehn, muß folgen können; kann man das nicht – und die meisten bilden sich wohl nur ein, daß sie's können –, so wird das »angenehme Geräusch« sehr bald langweilig. Ich bin überzeugt, daß gerade wirkliche Musiker mir hierin recht geben werden; es ist eben nicht für jeden. Der berühmte Satz »Kunst sei für alle« ist grundfalsch; Kunst ist umgekehrt für sehr wenige, und mitunter ist es mir, als ob es immer weniger würden. Nur das Beefsteak, dem sich leicht folgen läßt, ist in einer steten Machtsteigerung begriffen.
Unsre Apotheke war aber nicht bloß eine Verkaufsvorhalle für die Garnisonkirchenkonzerte, der alte Rose suchte auch was darin, sein Haus selbst auf eine gewisse Kunsthöhe zu heben. Ohne was von diesen Dingen zu verstehn, fand er es doch fein und seines Namens würdig, sich um alles Dahingehörige zu kümmern und innerhalb eng gezogener Grenzen sogar den Mäzen zu spielen. Er verstieg sich dabei bis zu Bilderankäufen – kleine italienische Landschaften –, und allerlei höhere Kunstleute gingen ein und aus, darunter Schinkel, der durch seine Frau ein ziemlich naher Verwandter des Hauses war. Trotz all dieser Allüren aber stand Kunst erst in zweiter Reihe; weit darüber hinaus wurde, wenigstens dem Anscheine nach, das Literarische gepflegt. W. Rose war Mitbegründer eines eine bestimmte Zahl von Professorenfamilien umschließenden Lesezirkels, und jeden dritten oder fünften Tag erschienen moderne Bücher in merkwürdig guten Einbänden, die von mir in Empfang genommen und an eine für sie bestimmte Stelle niedergelegt wurden. Aber damit war auch eigentlich alles getan. Alle diese Bücher blieben an der erwähnten Stelle liegen und wanderten nur sehr ausnahmsweise die Treppe hinauf, in die Wohn- und Familienräume. Der einzige, der wirklichen Nutzen davon zog, war ich. Mit besondrer Regelmäßigkeit erschien zu meiner großen Freude Gutzkows »Telegraph«, wahrscheinlich jedesmal ein Sammelband, der aus einer bestimmten Anzahl von Nummern bestehen mochte. Beinah alles, was ich vom »Jungen Deutschland« weiß, weiß ich aus der Zeit her, und Mundt, Kühne, Laube, Wienbarg – Gutzkows selbst ganz zu geschweigen – waren damals Haushaltworte für mich. Von Wienbarg las ich eine mich ganz hinreißende Geschichte, die den Titel führte: »Byrons erste Liebe«. Wenn dann der alte Rose spät nach Mitternacht aus einer Gesellschaft heimkam und mich über der sonderbaren Lektüre betraf, so war er damit freilich nicht recht einverstanden, unter anderm auch schon deshalb nicht, weil ich immer alle Flammen brennen ließ, also sehr viel Gas konsumierte. Daneben aber klang es in seiner glücklicherweise nicht bloß von Sparsamkeitsrücksichten, sondern auch von Eitelkeit erfüllten Seele: »Nun ja, ja, für gewöhnlich ginge das nicht, für gewöhnlich ist eben darauf zu halten, daß die jungen Leute ›den alten Hagen‹ – ein berühmtes altes Apothekerbuch – lesen. Dieser hier liest statt dessen Gutzkow. Zunächst durchaus ungehörig. Aber in der Roseschen Apotheke darf so was am Ende vorkommen: das ist eben das, wodurch wir uns von dem Gros der übrigen unterscheiden. Das Rosesche muß mit einer andern Elle gemessen werden.« Und so blieben mir die Kränkungen erspart, die sich sonst nur zu häufig an solche Dinge knüpfen.