Kitabı oku: «Von Zwanzig bis Dreißig», sayfa 7
Sein nicht ironisches, aber liebenswürdig schelmisches Wesen, das er schon in Leipzig hatte, war ihm treu geblieben. Einmal kam ich in großer Aufregung zu ihm und sagte: »Müller, ich muß dir etwas vorlesen.« Er lachte ganz unheimlich, und als ich etwas verblüfft dreinsah, setzte er begütigend hinzu: »Du wunderst dich. Aber da ist nichts zu verwundern. Lenau, so hab' ich neulich gelesen, ist verrückt geworden. Und du hast natürlich gleich ein Gedicht darauf gemacht.« Es war wirklich so, und ich glaube, daß ich nicht mehr den Mut fand, ihm meine Dichtung vorzutragen. Bald danach verließ er Berlin und ging nach Paris und von da nach England. Dort war er viel im Bunsenschen Hause, wurde Vertrauensperson und kam, wohl durch Bunsens Einfluß, als Sanskrit-Professor nach Oxford. Da war er nun fast eingelebt, als ich ihn im Herbst 1855 in London wiedersah. Er nahm sich meiner gleich freundlich an, machte mich mit diesem und jenem bekannt und führte mich bei »Simpson« ein. Das war ein Dining-Room am Strand. Solch Eingeführtwerden in ein Speisehaus wird nun manchem Kontinentalen als etwas sehr Gleichgültiges erscheinen, für mich aber war es damals eine Sache von Bedeutung, eine Lebensfrage. Gehört man nicht einem Klub an, was sehr teuer und für einen nichtdistinguierten Fremden auch sehr schwierig ist, so weiß man in London, wo's dann gleich sehr tief sinkt, wirklich nicht recht, wo man essen soll. Wenigstens war es damals so. Da dirigierte mich denn Müller, und ich war gerettet.
Er tat mir noch einen andren Liebesdienst. Davon ausgehend, daß englisches Leben viel Geld kostet und daß Deutsche nie viel Geld haben, bat er mich – diese Bitte war aber nur eine Verkleidung, eine Zartheit – , ihn bei einer Unterrichtskommission als Examinator im Deutschen vertreten zu wollen. Ich nahm es auch dankbar an, freilich zugleich zögernd, weil ich fühlte, daß ich als Examinator noch schwächer sein würde wie zeitlebens als Examinandus. Und so verlief es denn auch. Es war aber doch ein sehr interessanter Vormittag. In welchem Lokal sich alles abspielte, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch, daß ich mit einem Male, nach Durchsicht zweier kleiner schriftlichen Arbeiten, einen jungen Herrn auf mich zukommen sah, der sich mir als Mr. Pennefather vorstellte. Sein Vater war General Pennefather, den ich aus den Zeitungen her sehr gut kannte, weil er vor Sebastopol eine Gardebrigade ruhmreich befehligt hatte. Der auf mich Zukommende hatte das reizendste Gesicht, aber eine etwas schiefe Schulter und einen allzu zarten Teint, der auf schwache Gesundheit schließen ließ. Er machte mir eine graziöse Handbewegung und sagte dann in deutscher Sprache: »Mein Herr; ich biete... ich war schon einmal hier.« Das konnte nun alles mögliche heißen, aber seine freundlich verlegene Haltung gab den Kommentar, und ich stellte ihm, als wir ein paar Minuten deutsch gesprochen hatte, das denkbar glänzendste Zeugnis aus. Das vielleicht Unrichtige darin will ich gern verantworten. Ich verließ das Lokal mit dem Gefühl, ein gutes Werk getan zu haben, und empfing zwei Guineen, wenn es nicht mehr war; trotzdem war ich fest entschlossen, auf dieses heiße Eisen nicht wieder zu treten, und meine Begegnung mit Mr. Pennefather samt ausgestelltem Zeugnis ist das einzige gewesen, was ich zu Nutz und Frommen angehender englischer Kolonialbeamten getan habe.
Das Jahr darauf, Herbst 56, war ich auf Besuch bei Müller. Ich hatte vor, das »Herz von England«, jene Grafschaften, die die Midland-Counties heißen und in denen, neben so viel andrem Herrlichen, Kenilworth, Warwick, Stratford am Avon, Derby, Worcester, Fotheringhay, Newstead-Abbey, Chester etc. gelegen sind, kennenzulernen. Oxford sollte mir erste Station dazu sein. Ich war zwei Tage dort und zähle diese Tage zu meinen angenehmsten Erinnerungen. Um Müllers und dann auch um Oxfords willen. Von den Städten Westeuropas hab' ich ein hübsches Häuflein gesehn, aber keine hat so mächtig, so bezaubernd auf mich eingewirkt. Selbstverständlich bin ich mir bewußt, daß dies nach den Naturen verschieden ist. Alle die, die den Sinn für den Süden haben, werden anders urteilen, ich für meine Person aber bin ausgesprochen nicht-südlich und kann das Wort, das A. W. Schlegel auf seinen Freund Fouqué anwandte, füglich auch auf mich anwenden. »Die Magnetnadel seiner Natur«, so sagte Schlegel von Fouqué, »zeigt nach Norden.« Worin das Übergewicht Oxfords liegt, ist schwer zu sagen. Es ist keineswegs bloß seine Architektur. Diese wird von der Gotik anderer mittelalterlicher Städte, sei's an erfinderischem Genius, sei's an innerlichem Reichtum, mannigfach übertroffen, und vielleicht ist überhaupt nichts da, was man, mit Ausnahme von All-Souls- und Maudlin-College, baulich als ersten Ranges bezeichnen könnte. Auch die Landschaft, so schön sie ist, hat mindestens ihresgleichen, und was endlich drittens das Imponderable des Historisch-Romantischen angeht, so gibt es viele Punkte, die davon mehr haben. Aber in einer eigenartigen Mischung, richtiger noch Durchdringung von schöner Architektur, schöner Landschaft und reicher Geschichte steht es einzig da, vielleicht auch darin, daß nichts stört, nichts aus dem Rahmen fällt, daß alle »fooschen« Stellen fehlen. Eine Vornehmheit, wie ich sie für mein Gefühl sonst nirgends gefunden habe, drückt dem Ganzen den Stempel auf. Von Oxford aus ging ich nach Woodstock, um mir die Liebes- und Leidensstätte der von mir in einem jugendlichen Romanzenzyklus besungenen »schönen Rosamunde« anzusehen, und habe dann von dem Tag an, wo ich Oxford verließ, Müller in England nicht wiedergesehen.
Ein solches Wiedersehen fand erst viele Jahre später statt, und zwar Mitte der siebziger Jahre bei Georg Bunsen. Ich erhielt eine Einladung von diesem, in der glaub' ich nur angegeben war, daß ich einen alten Freund bei ihm finden würde. Dieser Freund war Müller. Es war um die Zeit, wo er, von Straßburg aus – wohin er sich, einem patriotischen Gefühle folgend, auf eine Reihe von Jahren als Universitätslehrer begeben hatte –, wieder nach seinem geliebten Oxford zurückkehrte. Mit ihm war seine Frau und ein reizender Junge, der nun schon seit Jahren – er war eine Zeitlang Gesandtschaftssekretär in Konstantinopel – im auswärtigen Dienst seiner Heimat steht. Die Mutter war Engländerin, und Müller selbst, trotz seines deutsch gebliebenen Herzens, politisch längst ein Engländer geworden. Übrigens sei bei dieser Gelegenheit nicht versäumt hervorzuheben, daß er, trotz dieser Zugehörigkeit zu seiner neuen Heimat, mehr als einmal, wenn schwierige Zeiten kamen, an dem guten Einvernehmen zwischen Deutschland und England gearbeitet hat. Und zwar immer mit Erfolg. Mit Erfolg, weil sein persönliches Ansehen drüben ein sehr großes war, und zum zweiten, weil ihm für das, was er schrieb – und er schrieb ein wundervolles Englisch –, jederzeit die beste Stelle zur Verfügung stand: die ›Times‹.
Im Dezember 93 feierte er seinen siebzigsten Geburtstag, und aus aller Welt Enden drängten sich die Glückwünschenden heran. Es versteht sich, daß ich mit in der Queue war. Er antwortete mir durch Übersendung einer Festschrift, in der ich auch sein Bild fand. Seinem Konterfei bin ich seitdem noch zweimal begegnet, erst in einem Bilde von G. F. Watts, dann – auf einer der Schulteschen Ausstellungen – in einem anderen von Sauter; letzteres Bild ganz ausgezeichnet und dem Müller von 41 noch immer ähnlich.
Das waren meine »literarischen Beziehungen«; so war unser Herwegh-Klub. Dichterisch kam dabei nicht viel zutage, trotzdem von unserm Klub, wie von so vielen andern Stellen in Deutschland, drei stattliche Manuskriptpakete die Wanderung nach Zürich hin antraten, zu Froebel u. Co., wo Herweghs Gedichte erschienen waren. Eins dieser Manuskripte rührte, wie kaum noch gesagt zu werden braucht, von mir her und war von einigen Einleitungsstrophen begleitet, die, nicht minder selbstverständlich, die Überschrift: »An Georg Herwegh« trugen.[Ich möchte zur Vermeidung von Mißverständnissen an dieser Stelle noch anfügen dürfen, daß alles Spöttische, was ich hier gegen die Freiheitsphrasendichtung jener Zeit ausgesprochen habe, sich wohl gegen uns Herweghianer von damals, aber nicht gegen Herwegh selbst richtet. Ich will nicht bestreiten, daß auch das, was Herwegh in Person geschrieben hat, vielfach an Phrase leidet, aber es ist durch eine ganz ungewöhnliche Fülle von Geist und Talent auf eine solche Hochstufe gehoben, daß, für mich wenigstens, die Frage »Phrase oder nicht« daneben verschwindet. »Noch einen Fluch schlepp' ich herbei« – diese das berühmte Gedicht »Gegen Rom« einleitende Zeile mahnt mich immer an den, der übereifrig Scheite zum Hus-Scheiterhaufen herbeitrug, aber es sind doch Strophen drin, die ich bis diesen Tag mit dem größten Vergnügen, jedenfalls mit einer gewissen Metierbewunderung lese. Dasselbe gilt von den Terzinen an Friedrich Wilhelm IV.:
Zu scheu, der neuen Zeit ins Aug' zu sehn
Zu beifallslüstern, um sie zu verachten,
Zu hochgeboren, um sie zu verstehn.
Wie tief gefaßt ist hier alles, wie vollendet im Ausdruck.]
Es hieß darin, nach voraufgehender Schilderung eines grenzenlosen politischen und beinah auch menschlichen Elends:
...Schon fühlt' ich meinen Blick umnachtet,
Da plötzlich zwang es mich empor,
Es schlug, wonach ich längst geschmachtet,
Wie Wellenrauschen an mein Ohr.
Und siehe, daß gestillet werde
Der Durst, woran ich fast verschied,
Durchzog ein Strom die Wüstenerde,
Und dieser Strom – es war dein Lied.
Ich habe nicht genippt, getrunken
Und seinen Wellenschlag belauscht,
Ich bin in seine Flut gesunken
Und habe drinnen mich berauscht etc.
Wir kriegten unsre Manuskripte zurück, ohne daß die Verlagsbuchhandlung auch nur einen Blick hinein getan hätte. Wie konnte sie auch! Es brach eben damals eine Hochflut über sie herein. Und alles waren Worte, Worte, Worte.
Trotzdem – und mit dieser vielleicht allweisen Betrachtung möcht' ich hier schließen – dürfen Regierungen über solche Zeiterscheinung nicht vornehm hinweggehn und all dergleichen mit der Bemerkung »elendes Phrasenwerk« abtun wollen. Es liegt den Regierungen vielmehr ob, sich die Frage vorzulegen, »ob dieser oft in ungewollte Komik verfallenden Phrasenfülle nicht doch vielleicht etwas sehr Beherzigenswertes zugrunde liegt?« Wie war damals die Situation? An das Hinscheiden Friedrich Wilhelms III. hatten sich Hoffnungen für die Zukunft geknüpft, und diese Hoffnungen erkannte man sehr bald als eitel. Die Sehnsucht nach anderen Zuständen und die tiefe, ganz aufrichtige Mißstimmung darüber, daß diese Zustände noch immer nicht kommen wollten, das war das durchaus Echte von der Sache, das war das, was Männer und Knaben gleichmäßig ergriff und durch die Phrasenhaftigkeit derer, die kindlich tapfer auf ihrer Weihnachtstrompete bliesen, nicht aus der Welt geschafft wurde.
Fünftes Kapitel
Krank. Aus der Hainstraße in die Poststraße. Mein Onkel August
Ich hatte, fast durch ein Jahr hin, in meiner Leipziger Hainstraße sehr glückliche Tage verlebt. Da mit einem Male war es vorbei damit. Ich wurde krank: Gelenkrheumatismus, der, in seiner bekannten nahen Verwandtschaft zum Nervenfieber, nichts andres war als ein Wiederaufflackern des Typhus, den ich, gerade ein Jahr vorher, bei meinem Freunde Fritz Esselbach durchgemacht hatte. Dies periodische Wiederaufleben einer nicht ganz überwundenen Krankheit ist etwas sehr Übles, und ich bin davon beinahe dreißig Jahre lang immer aufs neue heimgesucht worden. Immer wieder, gegen den Ausgang des Winters, verfiel ich in nervenfieberartige Zustände, was mir viel Leid und jedenfalls viel Störung verursacht hat.
Also ich wurde krank, etwa Mitte Februar, und lag da, von Schmerzen gequält, sechs, sieben Wochen lang auf meinem elenden Lager, mir und andern zur Pein, und hätte das Elend davon noch tiefer empfunden, wenn nicht eine seit etlichen Jahren ebenfalls in Leipzig lebende nahe Verwandte sich meiner angenommen und für allerhand Aufmerksamkeiten und kleine Zerstreuungen gesorgt hätte. Diese nahe Verwandte hieß »Tante Pinchen«. Als sich erst herausgestellt hatte, daß die Sache nicht leicht zu nehmen sei, kam die mir so wohlgesinnte Dame beinahe täglich in meine mehr als kümmerliche Krankenstube, brachte mir Apfelsinen und Gläser mit Gelee und, was noch wichtiger war, befreite mich durch stundenlange Plauderei von der entsetzlichen Langenweile, von der ich fast noch mehr als von den Schmerzen litt. Aus dem Namen »Tante Pinchen« könnte man nun vielleicht schließen, daß die sich meiner so freundlich annehmende Dame eine alte Jungfer gewesen sei, mit grauen Löckchen, einem verschlissenen Kleid und einer Hornbrille. Tante Pinchen war aber ganz im Gegenteil eine junge Frau von wenig über Dreißig, die während ihrer frühsten Jahre – und ihre Jahre hatten sehr früh begonnen – ungewöhnlich hübsch gewesen sein sollte. Was auch wohl zutraf. Ich kannte sie schon an die zehn Jahre, und diese Leipziger Beziehungen waren weiter nichts als ein Wiederanknüpfen an lang zurückliegende Berliner Tage, von denen ich weiterhin erzählen werde. Tante Pinchen hatte mancherlei Tugenden, half gern und tat es auch wohl aus gutem Herzen; aber das eigentlich treibende Motiv ihres Tuns war doch ein schauspielerischer Zug, ein unbezwingbarer Hang, sich als rettender Engel in Szene zu setzen. Sie gab sich auch dementsprechend, war immer einfach, aber äußerst sauber gekleidet und trug ein italienisches Spitzentuch, das ziemlich kokett über das aschblonde Haar gelegt und unter dem Kinn in einen zierlichen Knoten geschlungen war. Sie machte mir die Apfelsinen – immer Pontac-Apfelsinen, für die ich eine Vorliebe hatte – mit vieler Geschicklichkeit zurecht und unterhielt mich mit noch größerer Virtuosität, wiewohl sie nicht eigentlich interessant war und das, was sie davon hatte, durch eine gewisse Gespreiztheit jeden Augenblick wieder in Frage stellte. Lieblingsthema war ein auf ihrer Seite wenigstens diplomatisches Paralleleziehn zwischen den Berliner und Leipziger Freunden, und weil ich die einen wie die andern gut kannte, so half ich ihr immer mit ziemlich deutlichen Worten nach, während sie selber absichtlich undeutlich sprach, um sich auf diese Weise jederzeit eine Rückzugslinie zu sichern. An meiner Deutlichkeit richtete sie sich aber ordentlich auf und nickte und schmunzelte dazu. Was ich zu jener Zeit gesagt, wird wohl auch heute noch einigermaßen Geltung haben, und so mag der Versuch gestattet sein, es hier aus dem Gedächtnis noch einmal auszusprechen. Alles, was ich damals aus mittleren Bürgerkreisen in Leipzig kennengelernt hatte, schien mir nicht nur an Umgangsformen und Politesse, sondern auch in jener gefälligen und herzgewinnenden Lebhaftigkeit, die die Person der Sache zuliebe zu vergessen weiß, unsrer entsprechenden Berliner Gesellschaftsschicht erheblich überlegen, wogegen die Berliner Bürgerkreise, so philiströs beengt sie zu jener Zeit waren, doch in dieser ihrer Philistrosität immer noch hinter dem, was die Leipziger auf diesem Gebiete leisteten, zurückblieben. Dem allen stimmte Tante Pinchen mehr oder weniger befriedigt zu, und wenn wir uns erst im Prinzip geeinigt hatten, gingen wir – das heißt ich – sofort tapfer weiter vor, um die befreundeten Einzelexemplare nach Herzenslust durchzuhecheln.
All das ging so durch Wochen. Als sich aber Ende März herausstellte, daß es mit meinem Zustande nicht besser werden wollte, machte mir meine gütige Pflegerin eines Tages den Vorschlag, mein wie eine Typhusbrutstätte wirkendes Zimmer in der Hainstraße zu verlassen und in ihre Wohnung in der Poststraße zu übersiedeln, wo trockne, helle Räume waren. Das leuchtete mir denn auch ein, und da man im Neubertschen Hause froh war, einen Kranken, der sich doch nicht erholen konnte, mit guter Manier loszuwerden, so zog ich in den ersten Apriltagen in die Poststraßen-Wohnung.
Aber eh' ich berichte, wie mir's da erging, muß ich, um eine ganze Reihe von Jahren zurückgreifend, zuvor noch ein Genaueres von meinem rettenden Engel »Tante Pinchen« erzählen und vor allem von ihrem Manne, meinem »Onkel August«.
Mein »Onkel August«
Onkel August und Tante Pinchen waren ein sehr merkwürdiges Paar, dem ich mich, trotzdem ich nicht viel Rühmliches von ihnen zu vermelden habe, persönlich doch zu großem Danke verpflichtet fühle. Solche Gegensätze beziehungsweise Gefühlskonflikte sind nichts Seltenes. Als ich im Oktober 1870 als Kriegsgefangener nach der Insel Oléron gebracht wurde, begleitete mich dienstlich ein Gendarmeriebrigadier, mit dem ich mich in jener freien Weise, drauf sich die Franzosen und nun gar erst die französischen Soldaten so gut verstehen, über Louis Napoleon unterhielt. Ich hob alles hervor, was diesem im eigenen Lande vorgeworfen wurde, worauf mein Vis-à-vis mir antwortete: »Ja, das sagt man, und es wird wohl auch richtig sein; aber gegen uns war er gut.« Diese Worte drängen sich mir in dem Augenblick, in dem ich über Onkel August – der die Hauptperson in dem Drama ist – berichten will, wieder auf, und auch ich sage mit dem Gendarmeriebrigadier: »Gegen mich war er gut.«
Aber freilich daneben...!
Onkel August war 1804 aus einer zweiten Ehe meines Großvaters – der immer sehr verständig heiratete und es schließlich bis auf drei Frauen brachte – geboren. Ebendieser Großvater, Pierre Barthélemy, von dem ich an andrer Stelle – in dem Buche »Meine Kinderjahre« – manches erzählt habe, war bei der Geburt dieses jüngsten Sohnes schon beinah fünfzig, Grund genug, diesen Jüngsten zu verziehen. Aber dieser Grund war doch nur der kleinere, der größere und verzeihlichere war, daß dieser Spätling ein überaus reizender Junge war, hübsch, heiter, gutmütig, talentvoll. Er hatte was, um dessentwegen ihm alle Welt gern zu Willen war, am meisten der eigene Vater, und nur in einem gab Pierre Barthélemy nicht nach, wenigstens nicht gleich. Das war, als es sich um den einzuschlagenden Beruf handelte. Der Sohn wollte Künstler werden, aber damit drang er bei dem Vater nicht durch, der aus eigner Erfahrung wußte, wie wenig dabei herauskomme. Statt dessen also kam mein Onkel August bei Quittel in die Lehre, bei Quittel, was damals ein großer Name war, der Inbegriff alles Feinen, etwa wie heute Gerson oder Treu und Nuglisch oder Lohse. Quittel besaß ein Putzgeschäft unter der Stechbahn, wo Hof, Adel und vornehme Fremde ihre Einkäufe machten. Es war keine Frage, daß Onkel August wundervoll dahin paßte, schon weil er hübsch, flink und verbindlich und noch mehr, weil er im Französischen fest und sicher war. Aber er seinerseits war nicht zufrieden, weil er den Wunsch, ein freier Künstler zu werden, nie aufgegeben hatte. So kam schließlich, was trotz aller vorausgehender Weigerung des Vaters kommen mußte: Quittel wurde quittiert und mit Professor Wach vertauscht; an die Stelle von Putzgeschäftkartons traten Atelierkartons. Das war nun zunächst ein großes Glück, denn um Professor Wachs Haupt wob sich ein kleiner Heiligenschein; Wach war ein schöner Mann, bester Porträtmaler, Liebling des Hofes und der Damen und noch besonders geschätzt, weil er die Befreiungskriege mitgemacht hatte. Alles ließ sich gut an, und Onkel August malte verschiedenes, zuletzt auch ein Porträt seines Vaters. Es war, ich hab' es oft vor Augen gehabt, ein ganz vorzügliches Bildnis, aber Wach selbst hatte wohl die Hauptsache daran getan, und niemand wußte dies besser als der, unter dessen Namen es ging: Onkel August selbst, der übrigens inzwischen ein neues Talent in sich entdeckt hatte. Natürlich das des Bühnenkünstlers, und zwar des Schauspielers und Sängers zugleich. Er setzte seinen Professor von dieser Neuentdeckung in Kenntnis, und Wach, der wohl nur darauf gewartet hatte, gab sofort seinen Segen, der Vater, wohl oder übel, auch, und Onkel August verließ Berlin, um in Magdeburg als Bonvivant und bei sich darbietender Gelegenheit auch in der komischen Oper aufzutreten. Er sang flottweg den Figaro in »Figaros Hochzeit«. Unzählige Male habe ich ihn später allerhand Überbleibsel aus jener Sängerzeit her am Klavier vortragen hören. Er sah dann immer ganz verklärt aus, Beweis, daß jene Sängertage seine schönsten gewesen waren.
Es war 1826, daß er in Magdeburg eintraf, wo er sich bald danach für eine junge, kaum siebzehnjährige Bühnendame zu interessieren begann. Diese junge Dame, Philippine Sohm, das schon mehr genannte »Tante Pinchen«, war die Tochter des ehemaligen Theaterdirektors Sohm, der ein ziemlich merkwürdiges Leben hinter sich hatte. Sohm, etwa 1770 geboren, war Göttinger oder Hallenser Student gewesen und hatte, nach allerhand Scheiterungen, schließlich seinen Unterschlupf beim Theater gefunden. Er war ein guter Schauspieler. Dies und vielleicht mehr noch das Imponierende seiner Persönlichkeit eroberten ihm auf ein halbes Jahrzehnt hin eine glänzende Lebensstellung: Er wurde, gleich nach Ernennung Jérômes zum König von Westfalen, als Hoftheaterintendant oder vielleicht auch bloß als Direktor nach Kassel berufen. »Morgen wieder lustick sein« – an dieser Maxime hielt er geradeso wie sein königlicher Herr fest und nahm die guten Tage mit, solange der Mummenschanz dauerte. Während dieser Zeit, mutmaßlich 1809, verheiratete er sich auch. Er verfuhr dabei ganz in dem Stil, der am Jérômeschen Hofe herrschte. Nach einer Festaufführung, in der auch ein dreizehnjähriger Backfisch mitgewirkt und ihn durch Übermut entzückt hatte, nahm er dies junge Ding beim Schopf und sagte: »Du sollst meine Frau werden.« Es war ihm auch Ernst damit, und das kleine Fräulein wie ein Taufkind auf seine beiden Arme legend, trug er es vom Theater in seine Wohnung hinüber. Tags darauf war Trauung, und bald nachdem das junge Ding vierzehn Jahre geworden war, wurde eine Tochter geboren. Diese Tochter erhielt den Namen Philippine, Seraphine wäre vielleicht richtiger gewesen, denn man merkte, daß es eines Kindes Kind war. Philippine war so klein und zart, daß man die Lebensfähigkeit des Kindes bezweifelte und zu ganz ungewöhnlichen Prozeduren schritt. Man wickelte das kleine Wesen in Watte, tat dies Paket in ein großes Glas und stellte es in eine Ofenröhre. Die Wärme mußte für Nachreife sorgen. Das Kind gedieh auch. Aber es blieb doch sehr zart. Das alles war 1810. Drei Jahre später war es mit dem Königreich Westfalen vorbei, Jérôme wurde flüchtig, und auch sein Hoftheaterdirektor ging in die Welt, von Stadt zu Stadt ziehend. Es kamen nun die sieben magern Jahre, und als sie um waren, kamen neue. Die Sohmsche Familie war inzwischen angewachsen und bestand, außer dem Ehepaare, noch aus drei Kindern: älteste Tochter, ein Sohn und wieder eine Tochter. Da kam dem alten Sohm der geniale Gedanke, diese fünf Personen als eine »Truppe« anzusehen, mit der es sich vielleicht verlohne, sein Glück selbständig zu versuchen. Er brauchte dann wenigstens keine Gagen zu zahlen. Alles kam darauf an, ein gutes Repertoire zusammenzustellen: einaktige Schwänke, Szenen aus größeren Schau- und Trauerspielen und kleinere Deklamationsstücke, deren Aufführung sich mit Hülfe dessen, was ihm an Requisiten zu Gebote stand, leicht ermöglichte. Sein Vertrautsein mit diesen Dingen ließ auch alles glücklich zustande kommen, und so zog er denn mit seiner Familie, die zugleich seine »Truppe« war, aufs neue durch die deutschen Lande. Ganz kleine Städte, bis zu zweitausend Einwohnern, erwiesen sich als bestes Aktionsfeld, und seine Tochter Philippine, die mittlerweile zehn oder zwölf Jahr alt geworden war, war zugleich Wunderkind und Gegenstand der Teilnahme. Dichtungen, in denen das Rührsame vorherrschte, bildeten ihre Spezialität. Auf diese Tochter stellte sich schließlich alle Hoffnung, und als sie sechzehn Jahr alt war, rechnete sich der Alte heraus, daß ein Engagement dieses seines ältesten Kindes an irgendeinem Hof- oder Stadttheater doch wohl einträglicher sein würde als das Ziehen und Wandern von Ort zu Ort. Er faßte dies immer ernster ins Auge, und 1826 sah er seine Bemühungen in Erfüllung gehn: Philippine wurde seitens des Magdeburger Theaters engagiert, dessen gutmütiger Direktor den Rest der Familie – Vater Sohm war als »alter Moor« und ähnliches immer noch ganz gut zu verwenden – mit in den Kauf nahm.
Es war dies so ziemlich um dieselbe Zeit, wo sich auch mein Onkel August in Magdeburg eingefunden hatte. Die Sohmschen Damen, Mutter und Tochter – die Mutter selbst erst dreißig Jahre alt –, begriffen sofort die Situation und kamen den bald sich einstellenden Huldigungen des jungen Berliners freundlichst entgegen. Nur der Alte zeigte sich kühl; so herunter er auch war, so war er doch an Charakter und Klugheit der Überlegene und erkannte mit dem scharfen Blick eines Mannes, der gerade in seinen tollen Jahren viel gesehen und erlebt hatte, woran es dem Umwerber seiner Tochter gebrach. Er sah ganz deutlich, daß es ein Haselant war, ein Redensartenmensch, der alles haben mochte, nur nicht Charakter und Gesinnung. Andrerseits war Papa Sohm aber auch gescheit genug einzusehen, welche Vorteile solche äußerlich gute Partie nicht bloß seiner Tochter, sondern der ganzen Familie bringen mußte. So gab er denn schließlich, trotz aller Bedenken, nach und forderte nur das eine, daß es mit der Schauspielerei vorbei sein müsse. »Glaub Er mir, Er ist gar kein Schauspieler und dank' Er Gott, daß Er keiner zu sein braucht – Er war ja wohl mal Kaufmann; fang Er doch wieder so was an, dann will ich Ihm meine Tochter geben.« Etwas von der Richtigkeit dieser Worte dämmerte wohl auch in dem glücklich Unglücklichen, an den sie sich richteten, und die Liebe zu der seraphinischen Philippine, die klug genug war, sich sehr reserviert zu halten, tat das übrige. Der Liebhaber ging auf alles ein, was der Alte gefordert hatte, der Schauspielerei wurde Valet gesagt, an die Verlobung schloß sich bald die Hochzeit, und 1828 zog das neuvermählte Paar in seine mittlerweile gemietete Berliner Wohnung ein. Diese Wohnung befand sich Burgstraße 18, in einem reizenden, neben der Kriegsakademie gelegenen kleinen Hause; zwei Treppen hoch waren die Wohnräume, parterre das Geschäftslokal. Onkel August war nämlich wirklich wieder Kaufmann geworden, und zwar in Ausführung eines an und für sich sehr glücklichen Gedankens. Sich seiner Malerzeit erinnernd und dabei klug in Rechnung stellend, daß die beim alten Wach verlebten Jahre ihn in Berührung mit der ganzen Berliner Künstlerwelt gebracht hatten, hatte er ein großes Malerutensiliengeschäft etabliert, wie Berlin damals nur ein einziges besaß – das Heylsche –, und seiner gewinnenden Persönlichkeit gelang es denn auch, dies unter glücklichen Auspizien ins Leben gerufene Geschäft auf drei, vier Jahre hin auf eine wirkliche Höhe zu heben. Vielleicht schien es aber auch bloß so, vielleicht ging alles von Anfang an schief, und er wußt' es nur geschickt und mit einer ihm eigenen Bonhommemiene zu verschleiern. Denn ein so schlechter Komödiant er gewesen war, im Leben war er ein sehr guter Schauspieler.
Alles bis hierher von meinem Onkel Erzählte spann sich in Jahren ab, in denen ich ihn noch gar nicht persönlich kannte; was ich aber des weiteren aus seinem damaligen Leben zu berichten habe, das hab‘ ich miterlebt, ja, direkt unter Augen gehabt. Ich erzähle davon in dem folgenden Kapitel.
Sechstes Kapitel
Mein Onkel August (Fortsetzung). Übersiedlung nach Dresden. Rückkehr von Dresden nach Leipzig
Etliche Jahre nach meines Onkels Geschäftsetablierung in der Burgstraße, womit ich das vorige Kapitel abschloß, kam ich nach Berlin, da mein Vater beschlossen hatte, mir statt einer Gymnasialbildung, in deren ersten Anfängen ich stand, eine Realschulbildung, und zwar auf der seit kurzem erst gegründeten Klödenschen Gewerbeschule, zu geben. Das Resultat dieses unterbrochenen Schulganges war, daß ich, anstatt eine Sache wirklich zu lernen, um alles richtige Lernen überhaupt kam und von links her die Gymnasialglocken, von rechts her die Realschule habe läuten hören, also mit minimen Bruchteilen einerseits von Latein und Griechisch, andrerseits von Optik, Statik, Hydraulik, von Anthropologie – wir mußten die Knochen und Knöchelchen auswendig lernen –, von Metrik, Poetik und Kristallographie meinen Lebensweg antreten mußte.
Daß das mit dem Lernen so bis zum Lachen traurig verlaufen würde, davon hatte ich, als ich Herbst 33 in Berlin eintraf, natürlich keine Vorstellung. Ich freute mich nur, von meiner Ruppiner Pension aus, wo der alte hektische Superintendent immer – auch bei Tisch – ein großes Hustenglas neben sich stehen hatte, nach Berlin gekommen zu sein und noch dazu zu meinem »Onkel August«, der – soviel wußt' ich von gelegentlichen Ferienbesuchen her – immer so fidel war und immer so wundervolle Berliner Geschichten erzählte. Mitunter sogar unanständige. Das mußte nun ein reizendes Leben werden!
Und in gewisser Beziehung ging mir das auch in Erfüllung. Nur zeitweilig ergriff mich, in beinahe schwermütiger Stimmung, ein Hang nach Arbeit und solider Pflichterfüllung, mein bestes Erbstück von der Mutter her. Von dem allem aber existierte nichts in meines Onkel Augusts Hause. Da war alles auf Schein, Putz und Bummelei gestellt; medisieren und witzeln, einen Windbeutel oder einen Baiser essen, heute bei Josty und morgen bei Stehely, nichts tun und nachmittags nach Charlottenburg ins Türkische Zelt fahren – das war so Programm. Wo das Geld dazu herkam, erworben oder nichterworben, war gleichgültig, wenn es nur da war.
Aber ich greife vor. All das hier Angedeutete kam mir erst viel, viel später zu bestimmtem Bewußtsein. Um die genannte Zeit, wo ich damals meinen Einzug hielt, lag noch Sonnenschein, echt oder unecht, über dem Hause. Mir tat dieser Sonnenschein wohl, und wie dies, bei all seinen Mängeln, mit viel Hübschem und Apartem ausgestattete Haus in seinen Einzelheiten war, davon will ich hier zunächst erzählen.
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