Kitabı oku: «Angelus Mortis», sayfa 2
Drittes Kapitel
Als der Oberst Nachricht davon erhielt, dass seine Schwester das eheliche Haus verlassen hatte, zögerte er nicht länger; er machte sich Vorwürfe, nicht schon früher abgereist zu sein, und gab sich selbst einen Teil der Schuld an dem Fehler, den seine Schwester begangen hatte. Jetzt musste so schnell wie möglich Hilfe geleistet werden, und nachdem er Helene um Rat gefragt hatte, die völlig seiner Meinung war, begab er sich nach Prag, von wo er mit Extrapost weiter nach Stettin eilte. Er reiste ganz allein und ließ zum Schutz für seine Frau und Kinder den rechtschaffenen und furchtlosen Werner zurück, den er in allem, was das Interesse seiner Familie betraf, als sein zweites Selbst betrachten konnte. Helene musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um beim Abschied von ihrem Gatten die Fassung zu bewahren, zumal es die erste Trennung von ihm war. Doch es gelang ihr, den Schmerz in sich zu verschließen und nur so viel davon zu zeigen, wie sie zurückzuhalten nicht imstande war.
»Ach, Geliebter!«, rief sie unter einem Strom von Tränen. »Kehre bald wieder zu mir zurück! Erst jetzt wird mir dieser Ort hier wirklich wie eine Einöde vorkommen; ich werde mich völlig alleine fühlen, sobald du nicht mehr bei mir bist.«
Alfred versuchte, der zärtlichen Helene einigen Trost zu spenden. Schon befand man sich im Monat September und er versprach ihr, spätestens im Dezember zurückzukehren; hinzusetzend, dass sie auf seine Liebe vertrauen solle, durch die er selbst nichts sehnlicher wünsche, als noch weit früher in ihre Arme zurückzukehren, wenn es nur irgend möglich sei. Aber wie vergeblich sind alle Trostbekundungen in dem Augenblick der Trennung! Man fühlt nichts als das gegenwärtige Übel, welches einen niederdrückt. Die Zukunft ist in solcher Stimmung belanglos, die Hoffnung verliert all ihren Zauber und man kennt nur die Qual der Gegenwart.
In den ersten Tagen nach Alfreds Abreise war Helene wie in einem Zustand der Bewusstlosigkeit. Ihr Geist, von vielen ängstlichen Gedanken angegriffen, wurde für eine abergläubische Furcht empfänglich, und nur mit einem geheimen Schauder ging sie des Abends die Treppe hinauf und durch den großen Saal. Die Einbildungskraft, die stets bereit ist, alles herbeizuziehen, was uns zu ängstigen vermag, nahm an Lebhaftigkeit noch stetig zu, was zur Folge hatte, dass bald schon die geringste Kleinigkeit genügte, um sie in Furcht zu versetzen. Oft blieb sie plötzlich zitternd stehen, weil sie glaubte, ein sonderbares Geräusch gehört zu haben, oder sie machte ihre Augen zu, aus Scheu, irgendeine fürchterliche Erscheinung zu erblicken. Die Gesellschaft ihrer Kinder reichte an den Abenden, die schon lang zu werden begannen, nicht mehr aus, um sie zu beruhigen; sie rief nach dem treuen Werner und nach Lisette, der Köchin, einem guten, aber höchst abergläubischen, furchtsamen Mädchen, und behielt beide stundenlang unter dem Vorwand bei sich, ihnen Befehle für den folgenden Tag geben zu wollen oder sich Rechenschaft darüber geben zu lassen, was sie den Tag über getan hatten.
Es mag auf dem Land auch noch so einsam sein, die Häuser mögen auch noch so weit voneinander entfernt liegen, so führt dies alles doch nicht dazu, die Neugierde der Landbevölkerung zu vermindern. Für diesen Menschenschlag ist schon das gewöhnlichste Ereignis etwas Besonderes. Sie geben auf die geringste Kleinigkeit acht und alles wird den Nachbarn getreulich weitererzählt. So war es auch bei der Ankunft der Familie Lobenthal im Schloss R… Was für übertriebene Dinge erzählte man sich von ihr, was für lächerliche Märchen wurden auf ihre Kosten verbreitet! Aber die Zeit verfloss und ein und derselbe Gesprächsstoff kann nicht ewig zur Unterhaltung dienen; daher schien die Familie Lobenthal, nachdem fünfzehn Monate vergangen waren, bei den Einheimischen völlig als eingebürgert und dazugehörig zu gelten, und man trat sogar mit der Dienerschaft in freundschaftliche Verhältnisse, sodass es nun häufiger vorkam, dass die Männer im Stall mit Werner und die Frauen in der Küche mit Lisette Unterhaltungen anknüpften und ihnen erzählten, was sie sonntags vor der Kirchtür Neues gehört hatten.
Lisette und Werner erzählten, sofern Gelegenheit dazu war, ihrer Herrin gerne wieder, was sie gehört hatten, und Helene errötete innerlich über das seltsame Vergnügen, das sie dabei genoss, ihnen zuzuhören; denn Zerstreuung war ihr während der Abwesenheit ihres Mannes sehr nötig, und ganz gleich, welchen Gegenstand man vor ihr zur Sprache brachte: sie zog das albernste Geschwätz immer noch der Einsamkeit vor.
Schon war der Oberst seit mehr als einer Woche nicht mehr im Schloss, als Lisette eines Abends mit so wichtiger Miene ins Zimmer trat, dass Helene nicht daran zweifeln konnte, gleich eine außerordentliche Neuigkeit mitgeteilt zu bekommen. Sie irrte sich nicht; sobald das gute Mädchen sich bei der Lampe niedergesetzt hatte, die ihr zu ihrer Abendarbeit leuchtete, fing sie zu erzählen an:
»Von nun an, Frau Oberstin, werden wir nicht mehr so ganz allein in dieser Gegend sein; das Land hier wird immer mehr bevölkert, die Anzahl der Fremden vermehrt sich; und wenn das so weiter geht, wird man bald, wie man im Dorf sagt, montags einen Markt auf unserm Schlossplatz abhalten können.«
»Ja, mein Gott«, antwortete Helene erstaunt, »wer sind denn die zahlreichen Leute, die sich in der Gemeinde angesiedelt haben?«
»Um die Wahrheit zu sagen, Frau Oberstin, sind es noch nicht wirklich viele, aber das wird noch kommen. Fürs Erste ist es nur ihre Familie und dann eine Dame, deren Geschichte und Herkunft man noch nicht kennt, und die das kleine Haus dort unten im Tal, mitten im Wald, gekauft hat.«
»Da hat sie sich aber eine sehr einsame Wohnung gewählt, und entweder muss sie viel Mut besitzen oder ein großes Gefolge bei sich haben, wenn sie ohne Furcht in diesem Haus bleiben kann.«
»Dieser Meinung ist auch das ganze Dorf, und dennoch ist sie ganz allein; denn ihr alter Bedienter kann hier gar nicht mitgezählt werden, weil er so abgelebt, so bleich und hinfällig aussieht, dass er weniger einem lebendigen Menschen als eher einem Bewohner der anderen Welt gleicht. Was die Dame betrifft, so sagt man, dass sie schön sei, obgleich ihre Miene etwas ganz Außerordentliches haben soll. Ich kann übrigens nichts Näheres darüber sagen, weil ich sie noch nicht gesehen habe; doch ich müsste schon sehr krank sein, sollte ich am nächsten Sonntag in der Kirche fehlen. Die Dame wird doch ohne Zweifel dort sein, und dann will ich sie genau betrachten, damit ich ihnen einen gründlichen Bericht abstatten kann, falls es ihnen selbst nicht möglich sein sollte, sie mit eigenen Augen zu sehen.«
»Ich bezweifle nicht, Lisette, dass du sie dir genau ansehen wirst; aber was erzählt man sich denn im Dorf von ihr? Weiß man, aus welchem Grund sie sich gerade jetzt, wo es schon auf den Winter zugeht, eine so wenig angenehme Wohnung genommen hat? Ist sie aus Prag? Ist sie Witwe oder unverheiratet?«
»Man hat all diese Fragen schon ihrem Bedienten gestellt, ohne auch nur die kleinste Antwort darauf zu bekommen; denn dieser Bediente soll ein mürrischer und äußerst grober Mensch sein. Seine Antworten sind: ja, nein, vielleicht: das geht euch nichts an; was er kauft, bezahlt er, ohne dabei irgendetwas zu sagen, und wenn er fertig ist, entfernt er sich auch sogleich wieder. So viel scheint jedoch schon sicher zu sein, dass diese Leute keine Deutschen sind; denn sie haben eine ganz seltsame Aussprache und bedienen sich untereinander fremder, unverständlicher Worte.«
»Ist diese Dame denn schon länger hier?«, fragte Helene, in der bereits die Hoffnung keimte, dass ihr die Fremde eine Gesellschafterin sein könnte, mit der zugleich einige Abwechslung in ihr einfaches, gleichförmiges Leben käme.
»Sie ist an demselben Tag hier angekommen, an dem der Herr Oberst abreiste. Anfangs stieg sie bei dem Schäfer Paul ab und fragte ihn, ob nicht in der Nähe irgendein Haus zu mieten oder zu kaufen sei. Paul erwiderte, dass die Gebrüder Gierschmann das kleine Haus im Wald verkaufen wollten; sie ließ sie sogleich herbeiholen, handelte mit ihnen den Preis aus und schlief schon in derselben Nacht in ihrem neuen Zuhause. Paul und die beiden Gierschmanns haben aus diesem Verkauf anfangs ein Geheimnis gemacht, wahrscheinlich, weil sie der armen Dame eine übermäßig hohe Summe für das Haus abgenommen haben. Aber am Ende kommt doch alles heraus: Die Geschichte wurde bekannt, und ich bin nicht die Letzte, die sie erfahren hat. Vor einer Stunde habe ich sie von der Frau des Nachtwächters gehört, und ich würde gegen meine Pflicht gehandelt haben, wenn ich ihnen nicht sogleich alles erzählt hätte.«
Helene dankte Lisette durch eine Verneigung des Kopfes für ihren guten Willen und nahm sich vor, so bald wie möglich Bekanntschaft mit der fremden Dame zu machen.
Während dieses langen Gesprächs schwieg Werner, der ebenfalls zugegen war, und schüttelte nur von Zeit zu Zeit den Kopf. Diese Bewegung und sein Stillschweigen fielen der Oberstin auf und daher fragte sie ihn, ob er Misstrauen gegen die unbekannte Dame hege.
»Nun ja«, erwiderte Werner, »ich sehe nicht gerade etwas Gutes darin, das sie in dieser Gegend erschienen ist. Eine junge Frau, die auch hübsch sein soll, wie man sagt, kommt mit einem einzigen Bedienten hierher, um sich in ein abgelegenes Haus einzuschließen: Sollte das nicht zu denken geben? Hat sie einen Mann? Wo ist ihre Familie? Könnte sie vielleicht eine Abenteurerin sein? Ich habe ehemals genug von diesen geheimnisvollen Prinzessinnen bei unseren Offizieren gesehen, die anfangs alle Blicke scheuten und sich unnahbar verhielten, bis sie irgendeinen Fang gemacht hatten. Dann erschienen sie am helllichten Tage und zeigten ihre Reize, ihre Pracht und ihr schlechtes Benehmen; hatten sie nun die Frucht gänzlich ausgesogen, verschwanden sie plötzlich wie die Irrwische, die wir oft dort unten auf dem Morast erblicken.«
»Ich kann mir vorstellen«, antwortete Helene, »dass man solche unglücklichen Geschöpfe in einer großen Stadt antrifft, die, um einen desto besseren Handel mit ihren Reizen zu machen, die Neugierde durch das Dunkel anzufachen versuchen, mit dem sie sich umhüllen; aber hier in R…, mein guter Werner, was sollte eine solche Person hier suchen? Wo ist hier der reiche Junggeselle, den sie verführen könnte? Ich kenne in der ganzen Gegend nur Familien, die in der vollkommensten Eintracht leben und zudem in Kürze das Land bis zum künftigen Sommer verlassen werden. Kann es nicht vielmehr sein, dass diese Dame Schicksalsschläge erlitten hat? Oder schämt sie sich vielleicht, in der Welt auf einem niedrigeren Fuße zu leben, als ihr früher ihrem Rang nach zukam? Und wird wohl eine heutige Sirene mitten im Wald, fern von jeder Straße ihren Aufenthalt wählen? Wird sie sich nicht vielmehr den Orten nähern, die häufig von Reisenden besucht werden? Nein, mein lieber Werner, dein Verdacht ist ungerecht; man sollte von seinem Nächsten nichts Übles denken, solange keine triftigen Gründe dazu vorhanden sind.«
Werner erwiderte nichts, aber er schien keineswegs überzeugt zu sein. Ihm diente seine Erfahrung als Richtschnur, wonach er alles beurteilen zu können glaubte, was ihm begegnete.
Der folgende Tag war außerordentlich schön. Gegen Abend gingen die Kinder unter Werners Aufsicht spazieren, und der Zufall führte sie zum nahe gelegenen Wald, während Helene selbst sich nicht so weit vom Schloss entfernte, sondern nur bis zum Dorf hinunterging, wo sie mit den Landbewohnern, denen sie begegnete, von der nahe bevorstehenden Ernte plauderte. Alle erzählten ihr aber von der fremden Dame; ihre Ankunft hatte die allgemeine Neugier gereizt und man beobachtete daher jeden ihrer Schritte. Man wusste, dass sie gegen Abend ihre Wohnung verließ, um in der Umgegend spazieren zu gehen; solange aber die Sonne noch am Himmel stand, zeigte sie sich nur höchst selten. Den ganzen Tag brachte sie in einem Zimmer ihres oberen Stockwerks zu, wo niemand sie zu sehen bekam. Ihr alter Bedienter verrichtete sämtliche Geschäfte des Hauswesens, aber er sah stets so mürrisch aus, dass man keine Lust verspürte, eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen, wenn er dann und wann ins Dorf kam, um etwas einzukaufen.
Je mehr Helene über die Unbekannte hörte, desto fester nahm sie sich vor, sie kennenzulernen; denn trotz all ihrer vortrefflichen Eigenschaften war die Frau Oberstin doch immer noch eine Tochter unserer gemeinsamen Stammmutter Eva. Allerdings wusste sie ihren geheimen Wunsch unter einer scheinbar großen Gleichgültigkeit zu verbergen, und als es finster zu werden begann, kehrte sie zum Schloss zurück.
Sobald ihre Kinder sie erblickten, liefen sie ihr voller Freude entgegen. »Ach, Mutter, liebe Mutter!«, riefen beide zugleich. »Wir haben die schöne unbekannte Dame gesehen und mit ihr gesprochen. Sie hat uns diese schönen Blumenkränze geschenkt. Ach, wie gut und wie hübsch sie ist!«
Dieses unverhoffte Zusammentreffen und die Worte ihrer Kinder reizten Helenes Neugierde noch mehr. »Still, liebe Kinder«, sagte sie, »sprecht nicht beide zugleich; eines von euch soll mir erzählen, was vorgefallen ist, und das andere kann dann nachholen, was das erste vielleicht vergessen hat.«
Dieser Vorschlag war zwar ganz angemessen, aber nicht frei von Schwierigkeiten, was seine Ausführung anging. Julie, ein höchst lebhaftes, niedliches Mädchen, schien nicht geneigt, ihrem Bruder das Wort zu überlassen, der seinerseits wieder das Recht des Älteren in Anspruch nahm, um der Erzähler des kleinen Abenteuers zu sein. Hieraus entstand ein ernsthafter Streit. Helene versuchte anfangs vergebens den Weg der Güte: Sie drang nicht durch, weil Julie sprechen und Wilhelm nicht schweigen wollte. Die Mutter sah sich endlich genötigt, ihre ganze Autorität zu gebrauchen, und ein bestimmter Befehl legte dem kleinen Mädchen Stillschweigen auf. Julie nahm nun eine schmollende Miene an und setzte sich in einen Winkel des Zimmers, wo sie ihr niedliches Gesichtchen in den Händen verbarg und dabei versicherte, dass ihr Bruder falsch erzähle, dass sie aber gewiss den Mund nicht öffnen werde, um ihn zu berichtigen.
Wilhelm, stolz auf die Auszeichnung, die ihm seine Mutter zuteilwerden ließ, stellte sich lächelnd vor sie hin und fing nun seine Erzählung an: »Ich hatte Lust, liebe Mutter, in das Tal hinabzugehen, um einige von den schönen Blumen, die dort so reichlich auf der Wiese wachsen, zu pflücken. Ich bat daher unseren Werner, uns dorthin zu führen, und er willigte ein; wir waren aber kaum einige Augenblicke da, so lief auch schon Julie, die niemals ruhig bleiben kann, mit allen Kräften auf den Wald zu.«
»Das ist nicht wahr!«, rief Julie, voll Ärger über die Beschuldigung ihres Bruders. »Ich verfolgte einen schönen, bunten Schmetterling und du tatest dasselbe. — Siehst du wohl, liebe Mutter, dass du von Wilhelm nichts Ordentliches erfahren wirst? Daher will ich dir lieber erzählen, was geschehen ist, denn mit mir hat ja die Dame zuerst gesprochen.«
»Ich habe dir befohlen zu schweigen«, antwortete die Mutter sanft, aber ernsthaft; »und ich will, dass du mir gehorchst. Dass ich also meinen Befehl nicht zum dritten Mal wiederholen muss!«
Die Strenge dieser Worte, die doch so wenig der Liebe Helenes zu ihrem niedlichen Töchterchen entsprach, verursachte der Kleinen so viel Schmerz, dass Julie in einen Strom von Tränen ausbrach und ihrer Mutter ihre kleinen Arme um den Hals warf. Helene sah nun ein, dass sie sich zu streng gezeigt hatte, und ohne ein Wort zu sagen, streichelte sie mit ihrer Hand die schönen blonden Locken ihrer Tochter und drückte dann einen Kuss auf ihre Stirn, worauf sich die Heiterkeit bei derselben sogleich wieder einstellte. Indessen fuhr Wilhelm in seiner Erzählung fort. Er berichtete, wie die fremde Dame plötzlich vor seinen erstaunten Blicken erschienen sei, während er gerade seiner Schwester habe nacheilen wollen, die mitten ins dickste Gebüsch gelaufen sei; wie Julie die Hand der fremden Dame gehalten habe und diese sich dann zu ihren Spielen gesellte, »obgleich sie«, bemerkte der Knabe, »die Fröhlichkeit nicht gerade zu lieben scheint. Sie war immer ernsthaft, und das laute Gelächter Julies, womit sie immer sehr freigebig ist, schien ihr sogar ein gewisses Unbehagen zu verursachen. Aber sie behandelte uns mit einer außerordentlichen Güte. Werner, der eigentlich schon längst mit uns nach Hause zurückkehren wollte, musste sich noch sehr gedulden, denn die Fremde wollte gar nicht damit aufhören, immer noch einige Blumen zu den Kränzen hinzuzufügen, die sie für uns wand. Sie ist wirklich erstaunlich geschickt; nur weiß ich nicht, warum sie beständig einen Handschuh an der linken Hand trägt; das muss ihr doch sehr beschwerlich sein. Julie wollte ihn ihr abziehen, aber sie hinderte sie mit einer sehr heftigen Bewegung daran und warf ihr zugleich einen Blick zu, der mich und meine Schwester in Schrecken versetzte; so böse schien er uns zu sein.«
Diese Erzählung wurde in allen Punkten von dem kleinen Mädchen bestätigt, das sich nun beeilte, das Wort zu ergreifen. Julie fügte noch eine Menge Einzelheiten hinzu und erzählte ihrer Mutter, dass die hübsche Dame ihr mitten im Gebüsch so plötzlich erschienen sei, als wenn sie aus der Erde hervorgekommen wäre.
»Ich erschrak anfangs sehr«, fuhr Julie fort, »und als die Dame es bemerkte, schien sie darüber sehr bekümmert zu sein. Sie kam dann lächelnd auf mich zu und ihre freundlichen Worte machten mich bald mutiger. Übrigens hat sie mir nicht einmal die kleinste Frage gestellt, was doch sonst eigentlich alle tun, die mich zum ersten Mal sehen; sie sprach nur von unseren Spielen und Vergnügungen und wie sehr sie meine Freundin zu werden wünschte. Dich und Papa hat sie mit keinem Wort erwähnt.«
Werner, der nun ebenfalls befragt wurde, bestätigte alles, was die Kinder gesagt hatten. Aber über seinem ganzen Wesen schien eine große Verwirrtheit zu liegen, die er vergebens zu verbergen versuchte; sie wurde gegen seinen Willen so sichtbar, dass Helene aufmerksam werden musste.
»Nun, Werner«, sagte sie, »wie es scheint, bist du nicht so sehr für die fremde Dame eingenommen wie Wilhelm und Julie. Hegst du noch immer dein früheres Misstrauen gegen sie oder hast du sie vielleicht gar wiedererkannt?«
»Ich, sie wiedererkannt haben?«, rief der alte Soldat, dessen Gesicht in diesem Augenblick alle Farbe verlor. »Ich wüsste nicht, Frau Oberstin, wie mein Betragen sie zu solch einer Vermutung veranlassen könnte. Ich kenne diese Person nicht; aber dennoch bleibe ich bei meiner Meinung, dass ihr Erscheinen an diesem Ort und zu dieser Jahreszeit zu ungewöhnlich ist, um sich etwas Gutes davon zu versprechen. Wenn Sie meinem Rat folgen wollten, würden sie ihren Kindern nicht erlauben, bekannter und vertrauter mit ihr zu werden. Was die Erlaubnis betrifft, dass diese Unbekannte ihren Fuß über die Schwelle des Schlosses setzt, wissen Sie selbst, was sie zu tun haben. Doch wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich nicht einmal zulassen, dass sie auch nur den Hof überschreitet.«
»Um so streng mit ihr zu verfahren«, erwiderte Helene, »müsste ich überzeugt sein, dass ihre Gesellschaft ganz und gar unpassend für mich ist, was durchaus sein kann. Aber da du sie heute zum ersten Mal gesehen hast, da deine Abneigung ihr gegenüber gar keinen triftigen Grund hat, werde ich mich in meinem Verhalten ganz von den üblichen Gepflogenheiten leiten lassen. Dennoch bin ich fest entschlossen, mein lieber Werner, auf deinen Rat zu hören, falls du irgendetwas über diese Dame weißt, was einem Umgang mit ihr entgegenstehen könnte.«
Werner schien einen Augenblick lang unsicher zu sein, was er der Oberstin antworten sollte; plötzlich hörte diese Unsicherheit jedoch auf, und er versicherte darauf mit fester Stimme, dass seine Furcht nur auf Vorurteilen beruhe, die fremde Dame ihm völlig unbekannt sei und seine Herrschaft jegliches Recht habe, zu handeln, wie es ihr beliebe.
Helene kannte die edle Freimütigkeit des alten Soldaten und zweifelte nicht an der Wahrheit dessen, was er sagte. Sie schrieb sein Misstrauen der natürlichen Bedächtigkeit derjenigen zu, die in der Welt viel gesehen und erfahren haben; das Böse hat sich ihnen in allen Gestalten gezeigt, und sie fürchten stets, es da anzutreffen, wo der Anschein es am wenigsten vermuten lässt. Nur in der Zurückgezogenheit lernt das menschliche Herz, sich einem Vertrauen zu überlassen, das noch durch nichts getäuscht wurde; der häufige Umgang mit Menschen lehrt es jedoch, sie zu fürchten.