Kitabı oku: «Das Leben sein lassen», sayfa 4
„Ätsch, falsch gegriffen!“
Dumm ist nur, dass ich offenbar die Orientierung verloren habe und auch beim zweiten Versuch nur Wasser ziehe. Für einen dritten reicht mein Kleingeld nicht mehr. Gehe ich also mit Wasser ins Bett.
Vielleicht sollte ich endlich zur Klarheit meines Anliegens zurückfinden, deute ich im Bett liegend die Fehlkäufe, die jetzt auf meinem Nachttisch stehen. Offensichtlich bin ich bereits in einem vernebelten Zustand und brauche dazu kein Bier mehr. Diesen Hinweis meiner Seele versuche ich jetzt zu verstehen und zu akzeptieren.
Vor dem Einschlafen taucht eine Erinnerung an ein Erlebnis auf dem Jakobsweg in mir auf, das mich sehr beeindruckt hat. Ich sehe noch den roten Mohn vor mir, rieche den üppig blühenden gelben Ginster auf dem Weg über Estella nach Villamayor. Dort habe ich am Rotweinbrunnen der Bodega Irache eine Zwischenpause eingelegt, um mich zu stärken. Anschließend genehmigte ich mir einen Viertelliter des kostenlos abzufüllenden leichten Rotweins.
Bei meiner Ankunft an der Bodega musste ich warten, bis eine Schar von Touristen wieder in den Bus eingestiegen war. Sie hatten sich, nach meinem Gefühl unberechtigterweise, mit dem kostenlosen Wein ihre mitgebrachten Flaschen und Behälter gefüllt. Die dahinter zu vermutende Raffgier hat mich ziemlich geärgert.
Am Nachmittag bin ich in Villamayor angekommen und habe in einer Herberge Quartier gefunden, die von einer freikirchlichen Gemeinde aus den Niederlanden betrieben wurde. Ich glaube, dass mich weniger das Beten vor der Abendmahlzeit und die Meditation beeindruckten, sondern vielmehr ein kleines Heftchen, das mir in die Hand gedrückt wurde. Es war das Johannesevangelium und es verkündete mir auf der ersten Seite, dass das Licht alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.
„Du hast verstanden, dass das göttliche Licht gemeint war, und dieses Verstehen ging über deinen Verstand bis tief in dein Herz. An diesem Punkt deines Weges hatte sich für dich etwas verändert.“
„Ich kann das mit Worten nur unzureichend beschreiben. Es war eine tiefe Erkenntnis, sogar eine Gewissheit, dass auch ich für dieses Licht bestimmt bin, dass ich selbst Teil dieses Lichtes bin und dass es eigentlich nur darum geht, dies zu erkennen.“
„Das Erkennen ist die eine Seite der Wahrheit. Die andere Seite ist es, dieses Erkennen zu leben, das Licht in deinem Dasein sichtbar werden zu lassen. Fühle, ob dies die Bestimmung ist, zu der dich auch dieser Pilgerweg führen will.“
Ich weiß es, und ich fühle es jetzt sehr deutlich. Mit diesem Fühlen ist eine Gewissheit verbunden, die mich ruhig und sicher sein lässt. In diesem Frieden kann ich mich leicht in den Schlaf gleiten lassen.
Am Morgen wache ich erfrischt und gestärkt auf. Der Regen kann meinen unerschütterlichen Willen vorwärts zu kommen nicht aufhalten. Ich frühstücke in aller Ruhe und verabschiede mich von der Pension in der festen Absicht, heute Mittenwald zu erreichen. Das ist natürlich nicht mit dem Fahrrad möglich. Aber anstatt irgendwo herumzusitzen und zu warten, dass der Regen aufhört, kann ich auch die Bahn benutzen. Zudem habe ich über die Nachrichten im Fernsehen mitbekommen, dass auch am Alpenrand schwierige Wetterverhältnisse herrschen und der Straßenverkehr davon beeinträchtigt wird.
Da es beim Losfahren in Pitzling vorübergehend zu regnen aufgehört hat, bin ich guter Laune. Die verlässt mich auch nicht, als das Tropfen wieder einsetzt. Heute kenne ich mein Ziel. Ich muss allerdings anhalten, mir den knallgelben Regenponcho überstülpen und mich gegen den Wind, der sich boshaft in ihm verfängt, durch einen langgestreckten Park vorwärts kämpfen. Den Bahnhof erreiche ich nach einer halben Stunde, in der ich trotz Poncho ganz schön durchnässt bin. Es gibt einen Zug nach Mittenwald, den ich über München-Pasing erreiche. Mir wird jetzt bewusst, wie nah ich an München bin.
Auch die Fahrt nach Mittenwald dauert nicht lange. Kurz nach Mittag steige ich dort aus dem Zug. Jetzt regnet es nicht mehr, es gießt in Strömen. Da muss ich einfach eine Weile abwarten. Ein Kaffee wärmt mich auf, und der Regen lässt tatsächlich etwas nach. Nachdem ich mich nach dem Weg zur Jugendherberge erkundigt habe, strample ich die acht Kilometer bergauf. Dabei werde ich doppelt durchfeuchtet: unter dem Cape vom Schweiß, den mir die stattliche Steigung aus allen Poren treibt, und darüber vom Regen, der ununterbrochen auf mich niedergeht. Telefonisch hatte ich mich bereits vergewissert, dass ein Bett für mich frei ist. Beim Einchecken lege ich mich noch nicht fest, ob ich eine oder eventuell zwei Übernachtungen benötige. Die Wetteraussichten sind nicht sehr rosig, es ist außerdem lausig kalt geworden.
Am Abend sehe ich im Wetterbericht, dass der Brennerpass eingeschneit ist. Endlosstau durch die vielen Autos mit Sommerreifen. „Wer denkt schon Ende Mai an Schnee? Na, vielleicht bleibe ich doch zwei Tage hier.“
In der Jugendherberge frühstücke ich exzellent. Ein leckeres Buffet lädt mich zum Zulangen ein. In dem Bewusstsein, nicht gleich wieder etwas zu essen zu bekommen, zieht sich mein Frühstück hin.
Dabei versuche ich, mir Klarheit darüber zu verschaffen, was ich tun soll: Weiterfahren oder hierbleiben? Mein Bauch sagt mir weiterfahren, also wieder mit der Bahn.
Doch zuvor will ich mich von meinen durchgeweichten, in Auflösung begriffenen Sportschuhen verabschieden, die für Sonne und Wärme gedacht sind und den Dauerregen nicht aushalten. Ich kaufe mir in Mittenwald für teures Geld ein paar grundsolide leichte Berg-Halbschuhe. Damit fühle ich mich sofort wohler und überlasse dem Schuhgeschäft das Entsorgen der alten Turnschuhe. Sie haben ihren Dienst getan.
Meine eiskalten Finger am Lenker erinnern mich daran, dass ich bei der Alpenüberquerung noch ein paar hundert Meter höher hinaufkomme. Da ist die Luft nicht nur dünner, sondern auch kälter, vermutlich deutlich kälter als jetzt vor dem Bahnhof in Mittenwald. Ich mache mich auf die Suche nach Handschuhen. Was mir die einschlägigen Bergausrüster anbieten können, ist dürftig und teuer. Kein Mensch rechnet jetzt noch damit, dass Handschuhe gekauft werden.
Nur im Fahrrad-Spezialgeschäft ist man auf alle Eventualitäten vorbereitet. Ich erstehe dort zu einem ebenfalls sündhaften Preis ein paar gefütterte Handschuhe. Die Verkäuferin versichert mir, dass sie auch wasserdicht sind. Wie weise diese Ausgabe ist, soll ich allerdings erst am nächsten Tag erfahren.
„Du hast dich äußerlich den veränderten Bedingungen deines Weges gut angepasst. Wie sieht der innere Fortschritt aus? Fühlst du dich dem nahe, der diese Reise unternimmt? Oder bist du mehr auf die Form fixiert, auf die äußeren Bedingungen, die deine ganze Aufmerksamkeit binden?“
„Eine unangenehme Frage. Ich bin hier als Pilger ziemlich allein unterwegs. Da ist die Gefahr natürlich groß, dass ich mich mehr im Außen bewege. Als ich vor vier Jahren nach Santiago ging, war ich vom ersten oder zweiten Tag an in einem besonderen Energiefeld des Bewusstseins, das durch den Weg und die vielen Pilger erzeugt wurde.“
„Dennoch hast du selbst etwas Maßgebliches zum Gelingen dieses Weges beigetragen.“
„Weil ich den Weg nicht mit Franz fortgesetzt habe, mit dem ich die beiden ersten Tage zusammen war? Für den Start in Saint-Jean-Pied-de-Port und insbesondere für die Überquerung des Pyrenäenkamms war seine Begleitung hilfreich. Aber nach meiner zweiten Übernachtung in Larrasoaña war mir beim Erwachen schon klar, dass mein Weg von mir fordert, allein zu gehen. Ich hätte sonst weiter das Gefühl gehabt, auf einer touristischen Wanderung unterwegs zu sein, mit einem netten Schwatz und der unverbindlichen Freundlichkeit, die durch ein gemeinsames Ziel entsteht. Doch das wollte ich ja nicht. Mit mir allein und niemand anderem wollte ich verbindlich auf dem Weg sein. Ging es mir doch nahezu um das gleiche Anliegen, das mich auch diesmal auf den Weg gebracht hat.“
Es geht richtig los
Wie komme ich darauf, jetzt an Weihnachten zu denken und an den Dichter jenes Liedes, das ich sofort ohne zu zögern nennen könnte, wenn ich nach dem bekanntesten deutschen Weihnachtslied gefragt würde? Jener Dichter liegt in einer kleinen, österreichischen Dorfkapelle begraben. Deshalb ist Österreich für mich auch das Weihnachtsland und es scheint, als wollte es jetzt diese Sicht bestärken.
Ich sitze im Zug von Mittenwald nach Innsbruck, vergewissere mich anhand meines Smartphones, dass heute der einundzwanzigste Mai ist und betrachte kopfschüttelnd und verwundert die weiße Winter-Weihnachts-Landschaft zu beiden Seiten der Zugstrecke.
Dankbar sitze ich im Zug, warm und trocken. Nach meiner kurzen telefonischen Rückfrage in der Jugendherberge in Innsbruck darf ich hoffen, dort unterzukommen.
Doch zunächst steige ich, am Mittag angekommen, mit meinem Rad am Hauptbahnhof in Innsbruck aus. Ein Aufzug bringt mich auf die untere Ebene und ich sehe einen Informationsstand, an dem ich einen kostenlosen Stadtplan erhalte. Die Jugendherberge ist gut vom Zentrum aus erreichbar. Da ich dort erst 17 Uhr empfangen werde, unternehme ich zunächst einen ausführlichen Bummel durch die Altstadt. Ich finde einen Platz in einem Café unter den Arkaden, von dem aus ich mein vollbepacktes Fahrrad im Blick habe. „Na klar, sicher ist sicher!“
Zufrieden genehmige ich mir einen Pott Kaffee und ein Stück Kuchen. Solchermaßen gestärkt radle ich danach langsam durch die Innenstadt bis zum Dom St. Jakob. Von ihm weiß ich, dass er bereits im Mittelalter Ausgangs- und Sammelpunkt für Pilgerreisende war, die zum Heiligen Grab nach Santiago, aber auch nach Rom und Jerusalem pilgern wollten.
Im Dom gibt es unter der Erde einen Gebetsraum, einen Raum der Stille und Besinnung. Den suche ich jetzt auf.
„Es wird dir guttun, in die Stille zu gehen. Die letzten beiden Tage war dein Vorwärtskommen ausschließlich auf das Außen gerichtet. Dies ist die Gelegenheit, in dich zu gehen und dich zu spüren. Dein Fortkommen soll dein inneres Wachstum betreffen, was unabhängig von dem äußeren Fortschritt ist, der dich gefangen nimmt. Es geht nicht darum, etwas nachzuweisen, ein äußeres Ziel zu erreichen, so schön es sich auch anfühlen mag. Es geht um das Wie, das Gewahr-Sein deiner selbst, in der du deine Verbundenheit zu mir findest. Ich bin deine Seele, und in mir erkennst du dich als der, der du wirklich bist.“
„Die Trennung von dir habe ich deutlich gefühlt. Mein Wunsch, sie zu überwinden, hat mich hierher geführt, an diesen Ort, der durch die Gebete vieler Menschen über lange Zeiten hinweg zu einem besonderen Ort der Kraft geworden ist. Hier fällt es mir leichter, mich von dem zu befreien, der mich antreibt und mir Ziele vorgibt, mit denen er sich identifiziert, von meinem Verstand. Ich erkenne, wie sehr er mich noch beherrscht. Es ist meine Vorstellung zu glauben, ich würde bestimmen können, was er denkt. Doch indem ich meinen Verstand beobachte, kann ich erkennen, dass ich damit einem Wunschbild aufsitze.
Ich danke dir für deine Gegenwärtigkeit, Heiliger Elterlicher Geist, dass ich sie in mir wahrnehmen kann und mich dir verbunden fühle. Meiner tief empfundenen Bitte nach deinem Segen für meinen Weg bist du nachgekommen, noch bevor ich sie in Worte fassen konnte. Jetzt fühle ich mich eins mit dir, und meine Vorstellungen und Wünsche, wie sich mein Weg gestalten sollte, beginnen sich aufzulösen. Es ist ein heiliger Moment vollständigen Einverstanden-Seins, in dem ich mich jetzt befinde und von dem ich mir wünsche, dass er nicht endet.“
„Das zu erfahren ist der alleinige tiefere Grund, der dich auf diese Pilgerreise gebracht hat. Die dauerhafte Verbundenheit zu dem, der du in der Tiefe deines Wesens bist, ist der kostbare Schatz, der von dir entdeckt werden will. Ihn in das Licht deines Bewusstseins zu bringen, ist die Aufgabe, die dich durch dein Leben begleitet und für die dir eine Verantwortung obliegt. Zu erfahren, wer du bist, ist der tiefere Sinn deines Daseins.
Dass dich dein Verstand immer wieder davon abbringt, sollte dich nicht beunruhigen. Es zeigt dir lediglich, dass du noch nicht dort bist, wo es dich hinzieht. Du bist deshalb zu einer ständigen Auseinandersetzung mit deiner Unbewusstheit herausgefordert. Sie ist es, die dich aus dem Frieden immer wieder herausfallen lässt, in dem du jetzt bist, den du aber nicht festhalten kannst, so sehr du dir das auch wünschst.
Du kannst diesen Frieden gerade nicht mit dem Verstand herbeiführen. Er stellt sich ein, sobald du erkennst, dass du nicht dein Verstand bist. Dazu bedarf es des Abstands, den du als Beobachter deiner selbst erschaffst. Damit distanzierst du dich von deinem Verstand. Das ist der entgegengesetzte Vorgang zur Identifikation mit ihm.
Die Identifikation bewirkt, dass du dich selbst für deinen Verstand hältst und nach deinem Verstand handelst. Da sich dein Verstand aber ausschließlich aus deinen vergangenen Erfahrungen speist, kann er den gegenwärtigen Augenblick nicht als den wahrnehmen, der er ist. Er sieht nur das, was er sich selbst zurechtlegt, indem er den Augenblick auf dem Hintergrund der Vergangenheit interpretiert und beurteilt. Das hat meist wenig mit der Wirklichkeit dieses Augenblicks zu tun.“
„Du kannst es mir nicht oft genug sagen, worum es geht und ich danke dir dafür und auch für deine Geduld. Ich weiß, dass mir das Verurteilen nichts bringt. Es geht vielmehr darum zu lernen, dass ich aus meiner Identifikation auch immer wieder aussteigen kann, um dich zu erfahren und den Frieden, der mit dir verbunden ist. Dabei geht es nicht einmal um dich, sondern darum, dass ich mich selbst auf der tiefsten Ebene fühlen und als der erkennen kann, der ich bin.“
„Das ist das Wunder, das mit dir verbunden ist und das du als solches immer wieder erfahren darfst. Die ständige Präsenz in diesem Zustand des Wunderbaren ist das, was dir als Begriff bereits bekannt ist, ohne dass du dir bisher etwas darunter vorstellen konntest, die Erleuchtung. Sie bleibt ein Begriff, ein Hinweis auf etwas, was sich nicht beschreiben lässt. Erst im Zustand des ‚Im-Licht-Seins‘ kann Erleuchtung für dich zur tatsächlichen Erfahrung werden. Du bist für sie bestimmt.“
Ich kann die Stille und den Frieden jetzt, in diesem Gebetsraum des Jakobsdoms, sehr deutlich in mir fühlen. Ein Gefühl der Tiefe und Geborgenheit trägt mich in diesem Augenblick vollständiger Verbundenheit und ich wünsche mir, für immer in ihm zu verbleiben. Ich glaube, dass mich dieses Gefühl, dieser Zustand, in dem Moment wieder erreichen wird, in dem ich meinen Körper verlassen werde. Ich erlebe mich darin als völlig frei von Angst.
Ohne ein Gefühl für die Zeit zu haben, das mich sonst unablässig begleitet, stehe ich auf und bewege mich langsam auf den Ausgang zu. Was mir wie ein seliger Augenblick erschien, hat fast ein Stunde in Anspruch genommen, ohne dass ich es wahrgenommen habe. In einer Seitenkapelle finde ich, an einem Schreibpult angebunden, den Pilgerstempel, den ich jetzt in meinen Pass drücke. Er ist ein kleines Kunstwerk, das drei Jakobsmuscheln zwischen gekreuzten Pilgerstäben zeigt, umrahmt von der Aufschrift „Dom St. Jakob Innsbruck“.
Auf meinem Weg zur Herberge schaue ich mich nach einem Supermarkt um. Da ich auf einer Hauptstraße fahre, muss ich nicht lange auf den nächsten warten. Dort kann ich mein Fahrrad unterstellen, denn es regnet wieder einmal. Ich kaufe etwas für mein Abendessen ein, das ich in der Jugendherberge zubereiten will. Wieder im Regen fahre ich langsam die Reichenauer Straße entlang und halte Ausschau nach der Nummer 147. Dort muss die Jugendherberge sein.
Ich finde sie auf der linken Straßenseite. Mein Rad kann ich im Fahrradstall der Herberge einschließen, was ich sehr praktisch finde. Mit dem Gepäck suche ich im ersten Stock mein Mehrbettzimmer auf. Die Hoffnung, dass es nicht voll belegt sein wird, erfüllt sich leider nicht. Von den sechs Betten, angeordnet in Form von drei Doppelstockbetten, sind fünf bereits belegt und ich muss mit dem letzten freien vorlieb nehmen, einem oberen Bett. Es gibt ein Kleiderfach, in dem ich mein Gepäck einigermaßen unterbringe. Nach meinem ausgiebigen Abendessen in der Selbstversorger-Küche der Herberge gehe ich in mein Bett und einer unruhigen Nacht entgegen.
Nachts pinkeln zu müssen, ist ohnehin eine Störung. Sie wird jedoch zum Problem, wenn ich aus dem Bett herunter und im Dunkel über die Gepäckstücke hinwegsteigen muss, die verstreut in dem schmalen Gang des Zimmers stehen, der sich zwischen den Doppelstockbetten ergibt. Aber ich bewältige diese Herausforderung, schlafe wieder ein und wache erneut auf, weil der Vietnamese unter mir fürchterlich laut schnarcht. Schließlich schrecke ich noch einmal hoch. Der Koreaner gegenüber beginnt seine Koffer zu packen. Er hat offensichtlich vor, im Morgengrauen zu verschwinden. Meine Einsicht, dass es besser gewesen wäre, ein Einzelzimmer gebucht zu haben, kommt jetzt eindeutig zu spät.
Heute, am zweiundzwanzigsten Mai, ist es soweit. Ich verspüre so etwas wie das Gefühl eines Neustarts, als würde der eigentliche Weg erst jetzt beginnen, als wären die zurückliegenden Tage nur die Vorbereitung für den Start an diesem heutigen Freitag gewesen. Gleichzeitig kann ich die Herausforderung wahrnehmen, die sich nach den gestrigen Bildern der Winterlandschaft im Fernsehen in mir festgesetzt hat. Dennoch drängt es mich zum Losfahren und dem zu begegnen, was mich erwartet.
Zunächst muss ich nochmal ein Stück durch Innsbruck fahren, in südlicher Richtung. Unter der Autobahnabfahrt geht eine Landstraße hindurch, die mich nach Vils führen soll. Ziemlich entspannt gelange ich auf die andere Seite der Autobahn, lese auf dem blauen Hinweisschild die weißen Buchstaben „Vils“ und „Igls“ und weiß, dass ich in der richtigen Richtung unterwegs bin. Dass die Igler Straße jetzt auch ansteigt, überrascht mich nicht. Das Erwartete wird jetzt Wirklichkeit. Mit zunehmender Steigung schalte ich runter, immer weiter, bis auf den vorletzten Radkranz. Trotzdem wird das Treten in die Pedale immer mühsamer. Den Regenponcho streife ich ab, der feine Nieselregen macht mir nun nichts mehr aus. Ich schwitze schon und gestatte mir deshalb, abzusteigen und zu schieben.
Die erste Steigung bis Igls habe ich bewältigt und mache oben angekommen ein Foto. Hier fahre ich bereits im Wolkendunst, durch den ich rechts und links vereinzelte weiße Flächen entdecke, die sich nach oben zu den Gipfeln hin zu einer zusammenhängenden Schneedecke verdichten. Meine Hände sind kalt, trotz der warmen, wasserdichten Handschuhe, ohne die ich den Lenker weder anfassen noch festhalten könnte. Dafür sind meine Füße warm und ich bin mir jetzt sehr dankbar dafür, mir diese festen und wunderbar warmen Schuhe gekauft zu haben.
Am Straßenrand halte ich kurz an. Ich vermute in der Frau mit der Einkaufstasche eine Einheimische, die ich nach dem Weiterweg frage. Von ihr erfahre ich von der alten Römerstraße, für die ich auch bald einen Wegweiser finde. Auf ihr soll schon der Abt Albert von Stade über die Alpen gezogen sein und das im Jahre 1236.
„Wie mag sein Weg ausgesehen haben? Welche Gedanken und Vorsätze haben ihn wohl bewogen, diese lange und gefährliche Reise nach Rom zu unternehmen? War er beruflich zu seinem obersten Dienstherren unterwegs?“
Ich werde es nicht erfahren. Aber ihm verdanke ich aber den Pilgerführer, den ich als eine Neuauflage seiner Reisenotizen gern annehme. Danke diesem Mann, der schon 800 Jahre tot ist und jenem, der noch lebt und den heutigen Pilgerführer geschrieben hat, Ferdinand Treml4. Diese Gedanken bewegen mich, während ich auf halber Höhe am Hang über der Brennerstraße mein Fahrrad in Richtung Brennero schiebe. Rechts bewundere ich die kühn geschwungenen Betonkonstruktionen der Autobahnbrücken, auf denen der Verkehr wieder rollt. Meine Straße ist nass, aber frei von Schnee. Der liegt aufgetürmt am Straßenrand, als wollte er das bereits vorübergegangene Verkehrschaos bezeugen, das ein solcher Schneefall im späten Frühling auszulösen vermag.
Über eine steile Abfahrt gelange ich von der alten Römerstraße auf die Brennerstraße und nach Matrei, den Ort, den auch der Abt aufgesucht hatte.
„Ob ihn dort auch ein Pfefferminztee aufgewärmt hat?“
Mit Sicherheit nicht in dem Bistro, in dem ich jetzt das Glas mit dem Teebeutel noch einmal mit dem kochenden Wasser aus dem Samowar nachfüllen lasse. Die freundliche Bedienung sieht mir offensichtlich an, dass ich das nötig habe. Schließlich hole ich mir an der Selbstbedienungstheke einen Kartoffelsalat mit Fleischkäse und denke daran, dass ich die verbrannten Kalorien irgendwie ersetzen muss. Wahrscheinlich kann ich gar nicht so viel essen, wie ich bei den Anstrengungen der Berg- und Talfahrt verbrauche. Also zehre ich von den Reserven, mit denen ich nicht gerade üppig gesegnet bin.
Dank meiner synthetischen Kleidung bin ich in der knappen Stunde Rast in der Imbissstube fast vollständig getrocknet. Vor mir liegen noch einige Kilometer Fahrt bergauf, die ich mit frischem Mut und dem Schwung meiner guten Laune angehe.
Trotzdem der Nieselregen aufgehört hat, ziehe ich meinen gelben Regenponcho wieder über. Seine Farbe hat Signalwirkung. Damit werde ich auf der engen Straße mit dem stärker werdenden Verkehr nicht so schnell übersehen. Außerdem schützt er mich gut vor dem nasskalten Wind, der mir jetzt entgegenbläst.
Immer wieder fahre ich durch den nebeligen Dunst tief hängender Wolkenfelder. Es sind wohl noch gut zwanzig Kilometer bis Brennero. Aber auch diese Strecke lege ich mit Ausdauer und Geduld tretend und schiebend zurück, bis ich endlich am zeitigen Nachmittag oben am bekannten Grenzübergang ankomme.
Ich bin in Italien und kann es noch nicht richtig begreifen. Zur Begrüßung sind weder die örtliche Feuerwehr noch der Gesangsverein angetreten. Das Willkommen muss ich mir selbst organisieren und ich begrüße mich mit einem echten, tiefschwarzen italienischen Kaffee. Leider ist das nur ein Schluck, oder vielleicht sind es auch zwei kleine. Die aber sind von unvergleichlichem Genuss. Jetzt bin ich wirklich in Italien angekommen.
Von Brennero aus geht es munter bergab, zunächst auf einer schönen, ausreichend breiten Asphaltstraße, dann auf einem parallel zu dieser Straße verlaufenden Radweg. Der frische Nordwind pustet mir Rücken und Beine kalt. Ich steige ab, um meine inzwischen ebenfalls eiskalten Hände zu reiben, damit die Finger wieder etwas beweglich werden. Schließlich muss ich bei dieser Talfahrt ziemlich kräftig die Bremshebel ziehen.
„Vorsichtig fahren, nicht zu viel riskieren!“, ermahne ich mich selber. Unvermittelt ist auch noch der Radweg gesperrt. Ich halte das für eine überflüssige Spinnerei. Irgendwie werde ich schon durchkommen, folglich fahre ich weiter. Aber ich komme nicht durch. Der Tunnel ist mit Metallgittern so perfekt gesperrt, dass ich aufgebe und zurückradle, nunmehr wieder auf die Straße. Meine Überheblichkeit bezüglich der nicht ganz ernst genommenen Ausschilderung bekam den verdienten Dämpfer.
So rolle ich mit angezogenen Bremsen weiter bergab. Die Kälte kriecht in meinen Körper, meine Gliedmaßen. Mir ist, als würde ich feingefroren. So kann das nicht weitergehen, zumal meine Finger beginnen, ihren Dienst zu versagen. Ich spüre sie nicht mehr. Die nächste Ausfahrt soll mich erlösen, beschließe ich: Gossensaß.
Langsam lasse ich mich in den kleinen Ort hineinrollen, finde das einzige Hotel an der Hauptstraße und bekomme dort sogar ein Zimmer. Hier sprechen die Leute noch deutsch. So erfahre ich mühelos, nach einer ausgiebigen heißen Dusche, wo ich etwas einkaufen kann. Das Abendbrot nehme ich vor dem Fernseher ein, nicht ohne ein schlechtes Gewissen. Zu Hause geht das nicht, denn da will ich kein Fernsehen. Der Reiz des Seltenen bewirkt jedoch, dass ich heute mal eine Ausnahme mache.
Inzwischen stelle ich fest, dass das Zimmer nicht geheizt wird. Offenbar wird im ganzen Haus nicht mehr geheizt und mich fröstelt schon wieder. Abhilfe könnte die elektrische Kochplatte schaffen, so meine originelle Idee. Doch die löst nach dem Einschalten lediglich den FI-Schalter aus und ich sitze ganz im Dunklen. Meine Stirnlampe hilft mir, den Schaltkasten mit den Sicherungen zu finden. Ich drücke den FI-Schalter wieder rein. Mit der zweiten Kochplatte gelingt der Versuch besser, das Licht bleibt an. Jetzt rücke ich ganz dicht an die heiße Platte heran, auf der ich Wasser für einen Tee zum Kochen bringe. Am Ende des Tages doch noch leidlich durchgewärmt, schlüpfe ich in mein Bett. Es gelingt mir, neben der Hingabe an die wohlige Bettwärme, ein Gefühl von Dankbarkeit in mir wahrzunehmen, ehe ich in den tiefen Schlaf hinübergleite, der mich von dem anstrengend schönen Tag erlöst.
Am Samstagmorgen scheint das ganze Hotel noch zu schlafen. Ich höre keinen Mucks und bin mir nicht mehr darüber im Klaren, ob mir noch ein Frühstück zusteht.
„Sicher ist sicher!“, denke ich beim Anrühren meines bewährten Frühstücksmüslis. Ein Apfel ergänzt das Mahl. Ich packe ein, was nicht lange dauert, und versuche an der Rezeption, jemanden zu erreichen, benutze die Klingel, die bereitsteht. Endlich erscheint der Hotelier, dafür halte ich ihn, und weist mich freundlich darauf hin, dass im benachbarten Restaurant das Frühstück für mich bereitsteht. Diesen Raum hatte ich vorher nicht entdeckt. Er ist über einen Durchgang und ein paar Türen zu erreichen.
Nun sitze ich also doch noch vor dem Frühstück und bedauere, nicht all die angebotenen Köstlichkeiten hinreichend würdigen zu können, da sich nunmehr recht schnell ein Sättigungsgefühl bei mir einstellt. Ich mache mir ein Brötchen zum Mitnehmen und stecke unauffällig ein Stück Obst dazu ein.
Es wird neun Uhr dreißig, ehe ich mein Fahrrad aus dem Hof des Hotels herausschiebe und feststelle, dass es aufgehört hat zu regnen. Dank der hervorragend ausgeschilderten Radwege in Tirol komme ich ohne Orientierungsschwierigkeiten nach Sterzing. An der Heiliggeist-Kirche halte ich an. Sie ist offen und lädt mich zum Verweilen ein.
„Ich habe dich zur Besinnung eingeladen. Du solltest nicht in Rom ankommen, ohne dir bewusst zu sein, wie das geschah. Achte den Augenblick, erlebe dich selbst und das, was du wahrnimmst. Das bedarf einer gewissen inneren Haltung, zu der du noch nicht gefunden hast.“
„Deine Einladung ist zwingend. Ich muss einfach anhalten und finde eine offene Tür an dieser Kirche vor. Der Raum, in den ich gelange, erscheint mir ungewöhnlich still. Ich bin allein unter der bemalten Holzdecke, nehme die Bilder und Symbole wahr, ohne den Versuch, sie zu verstehen oder zu interpretieren. In dieser Stille fühle ich mich aufgenommen und werde zu einem Teil von ihr.“
„Du bist diese Stille. Sie ist deine Essenz, deine tiefste Wahrheit. Lass dich von ihr berühren und entdecke sie in dir. Um deine innere Stille zu erfahren, musst du dich auf die äußere Stille einlassen. Indem du dich ihr hingibst, wird sie zur Erfahrung deines inneren Raumes.“
Ich bin in dieser Erfahrung gegenwärtig. Sie löst Gelassenheit und Freude in mir aus. Mein Bedürfnis, in dieser Stille zu verweilen, lässt mich die Zeit vergessen. Sie besitzt keine Bedeutung mehr in diesem Moment des Innehaltens, in dem ich selbst Teil dieses Augenblicks werde und mich verbunden fühle. Womit? Ich kann es nicht benennen. Vielleicht mit dem inneren Raum, den ich jetzt deutlich in mir wahrnehmen kann.
Erst als die harte Kirchenbank Reaktionen meines Ischiasnervs hervorruft, muss ich aufstehen. Erstaunt stelle ich fest, dass fast eine Dreiviertelstunde vergangen ist. Angefühlt hat es sich wie gerade mal fünf Minuten, für die ich mit dem Verebben meines Gedankenstroms in dieses wunderbare Stillhalten eingegangen bin.
„Wenn das auch beim Sterben so ist, freue ich mich drauf!“, kommt mir unvermittelt die Erkenntnis.
„Sterben ist der unumkehrbare Übergang in die Stille, die du jetzt in der Tiefe deines Seins erfahren hast. Aus der Stille bist du gekommen und du wirst wieder in sie eingehen. Doch gibt es einen Unterschied zwischen der Bewusstheit, mit der du in deine vorübergehende menschliche Form gekommen bist und jener, mit der du gehen wirst. Dein Bewusstsein ist Teil des Bewusstseinsfelds dieser Erde. Mit der Zunahme deines Bewusstseins trägst du folglich zur Anhebung des globalen Bewusstseinsfelds bei. Das ist deine Aufgabe und um ihr gerecht zu werden, bist du als menschliche Form in dieser polaren Welt inkarniert. Du erlebst dich dort zunächst in der Unstille. Sie bildet den notwendigen Kontrast, ohne den du die Stille nicht erfahren kannst. Dir ihrer bewusst zu werden bedeutet, dir deines Ursprungs bewusst zu werden, so wie es dir eben geschehen ist.“
Ich fühle mich gesegnet, jetzt, da ich die Kirche wieder verlasse, um auf mein Fahrrad zu steigen. Langsam radle ich aus Sterzing hinaus, immer dem gut asphaltierten Fahrradweg mit seiner informativen Ausschilderung folgend. Ich will weiter nach Brixen und dahin führen mich diese Wegweiser.
Gegen Mittag treffe ich dort ein und lasse mich vom Duft einer Pizzeria anziehen, vor der ich mein Fahrrad anschließe. Ich merke nicht sofort, dass das Gekicher zweier junger Mädchen im Eingang der Pizzeria mir gilt. Ich grüße sie freundlich, was ihr Gackern noch verstärkt. Offensichtlich amüsiert es sie, mich alten Knochen in so sportlichem Outfit und mit dem schwer beladenen Fahrrad als Rompilger entdeckt zu haben und sie sprechen mich an. Ich bestätige, dass ich nach Rom will und dass ich ein Deutscher bin. Vielmehr kriegen wir aber an Kommunikation in Englisch und Italienisch nicht hin, was die Beiden nicht daran hindert, ihr Kichern fortzusetzen. Ich gönne ihnen ihre Belustigung und bestelle meine Pizza und einen Tee und lasse mir beides im dichtgefüllten Gastraum schmecken.
Warum fällt mir gerade jetzt ein altes Kinderlied ein? „Die Tiroler sind lustig, die Tiroler sind froh. Sie haben keine Betten und schlafen auf Stroh!“ Ich hatte als Fünfjähriger keine Ahnung, wo Tirol liegt, und erst recht nicht, ob es stimmt, was ich da so hingebungsvoll gesungen habe. Es könnte tatsächlich etwas dran zu sein, auch wenn mir der Text heute politisch nicht ganz korrekt zu sein scheint.
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