Kitabı oku: «Der letzte Prozess», sayfa 3

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Er sah zuerst Schröder und dann einem nach dem anderen kurz in die Augen, stellte aber keinen Widerspruch fest. »Gut. Sie, Frau Gladow, zeigen mir mein Büro und machen uns eine Verbindung mit der Rechtsmedizin. Meiner Erfahrung nach kann es nicht schaden, den Brüdern da etwas Druck zu machen. Alles klar so weit? – Keine weiteren Fragen? – Prima. Dann, Kollegen, an die Arbeit!«

»Entschuldigung, aber hat Kriminaldirektor Heitkamp nicht gesagt, dass Sie erst am Montag anfangen?«, wandte Schröder angriffslustig ein.

»Der Kriminaldirektor und ich haben es uns eben auf dem Flur anders überlegt.« Lenz’ Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er keinen weiteren Widerspruch duldete und auch nicht bereit war, die Veränderung näher zu erläutern. »Kommen Sie, Frau Gladow?«

Er ließ der Kollegin den Vortritt und folgte ihr, ohne sich weiter um Schröder zu kümmern. Wenn von Anfang an klar war, wer das Sagen hatte, würde die Zusammenarbeit in Zukunft umso besser klappen. Die Zügel lockern konnte er später immer noch. Das jedenfalls war Lenz’ Erfahrung. Und warum sollte, was überall gültig war, in Paderborn nicht funktionieren?

5

Die A 44 war dicht. Auf der ganzen Strecke vom Kreuz Wünnenberg-Haaren bis hinter Soest hatten Lkw die rechte Spur blockiert und jetzt, in der Baustelle vor dem Kreuz Werl, ging auch links absolut nichts mehr. Fabian Heller fluchte. Wäre er doch über Bielefeld und die A 2 in Richtung Dortmund gefahren. Aber davor hatte ihn der Verkehrslagebericht auf WDR 2 gewarnt. Von dem Stau auf der 44 war nicht die Rede gewesen. Auf nichts war mehr Verlass.

Da er also zum Stillstand verurteilt war, während in der Gegenrichtung jenseits der Mittelleitplanke der Verkehr reibungslos floss, nutzte er die Zeit, um den Prozessverlauf noch einmal zu rekapitulieren. Das würde ihm nachher beim Schreiben des Berichtes Zeit sparen.

Dieser Reinhold Hanning war also – mutmaßlich – an 170.000 Morden beteiligt gewesen. Er hatte gewusst, was passierte, und das Verbrechen aus eigener Entscheidung unterstützt. Zum ersten Mal hatte Heller jemanden live erlebt, der zu den Rädchen im Getriebe des Holocausts zählte. Und dann wirkte ausgerechnet dieser Mann so harmlos und überhaupt nicht wie eine Bestie. Offenbar war das Bild, das Heller aus dem Geschichtsunterricht und all den Hollywood-Filmen von den Naziverbrechern hatte, nicht so realitätsnah, wie es ihm bislang erschienen war. Vielleicht waren diese Massenmörder ja im Wesentlichen gar keine teuflischen Monster, sondern tatsächlich Menschen wie du und ich – genauso simpel, genauso armselig, genauso feige und hinterhältig, überhaupt nichts Besonderes.

Hanning war Jahrgang 1921. In den Anfangsjahren des Dritten Reichs war er im HJ-Alter gewesen und mit der braunen Milch gesäugt worden. Aber war das Erklärung genug? Andere junge Leute waren unter demselben Einfluss aufgewachsen und nicht zu Massenmördern geworden, auch nicht zu Hilfswillis der Henker. Hellers Eltern zum Beispiel. Was war bei denen anders gelaufen als bei Hanning?

Auf diese Frage konnten seine Eltern ihm nicht mehr antworten. Sein Vater war seit Langem tot und seine Mutter vor sechs Wochen gestorben. Er hatte die Chance verstreichen lassen, sie über ihre Kindheit auszufragen. Das war das Schicksal heute: Die Zeitzeugen starben langsam aus. Nach ihnen würde es keine Möglichkeit mehr geben, Fragen zu stellen und Antworten aus erster Hand zu bekommen. Genau deshalb waren Prozesse wie der gegen Reinhold Hanning ja so wichtig, weil sie eine letzte Chance darstellten und quasi in letzter Sekunde stattfanden.

Bei Heller zu Hause hatten sie früher nur sehr selten über die Kindheit der Eltern gesprochen, allenfalls wenn die Großmutter zu Besuch gekommen war. Die hatte oft von den Bombennächten erzählt, von der Flucht in den Hochbunker mit dem kleinsten Kind, Fabians Mutter, an der einen und dem Koffer mit den wichtigsten Papieren in der anderen Hand, während die größeren Kinder schon vorwegliefen und einen Platz im dicht besetzten Bunker sicherten. Und von den Verwandten in Medebach im Sauerland hatte die Großmutter geschwärmt, weil da keine Bomben gefallen und die Kinder dort im letzten Kriegsjahr sicherer gewesen waren.

Heller erinnerte sich an Fotos aus den Kindertagen seiner Mutter. Sie hatte wie ein unbeschwertes, glückliches Mädchen darauf ausgesehen. Während um sie herum die Nazis ihr mörderisches System errichtet und einen Vernichtungskrieg geführt hatten, hatte sie mit ihren Freundinnen genauso unschuldig gespielt, wie Kinder es heute taten. Das Bild eines kleinen Mädchens mit langen blonden Zöpfen tauchte vor Heller auf – in Schwarz-Weiß. Die Fotos gab es noch. Sie mussten sich in Alben irgendwo in den Schränken seiner Mutter befinden. Im Stau vor dem Kreuz Werl beschloss Fabian Heller, nicht in seine Wohnung, sondern zum Haus seiner Mutter zu fahren, um das er seit sechs Wochen einen großen Bogen gemacht hatte, und danach zu suchen.

6

Für den Landgerichtsbezirk Paderborn war das Institut für Rechtsmedizin in Münster zuständig. Allerdings musste der Leichnam nicht dorthin transportiert werden, sondern die Obduktion wurde, wie in solchen Fällen üblich, im Sektions­saal des Johannisstifts in Paderborn durchgeführt. Die Gerichtsmediziner aus Münster reisten normalerweise extra zu diesem Zweck an. Da Hermann-Josef Stukenberg aber bereits zum Tatort gerufen worden war, war er gleich vor Ort geblieben und hatte umgehend mit der Obduktion begonnen, wie Gina Gladow telefonisch erfahren hatte.

Als Lenz und seine junge Kollegin den Sektionssaal des Johannisstifts betraten, hatten Stukenberg und sein Gehilfe den Leichnam bereits der Länge nach aufgeschnitten und beugten sich gerade über das Innenleben des menschlichen Körpers. Der Gerichtsmediziner blickte nur kurz auf und nickte dem Kriminalbeamten zu.

Lenz stellte sich als neuer Leiter des Kommissariats vor, worauf Stukenberg schmunzelte und, ohne den Blick von ihm zu nehmen, sagte: »Sieh an, das Wunder ist tatsächlich geschehen?«

Was meint er?, bedeutete Lenz’ Blick an seine Kollegin, die aber nur mit den Schultern zuckte und die Lippen zusammenkniff. Mit dem Gefühl, dass hier etwas hinter seinem Rücken stattfand, das nicht unbedingt freundlich sein musste, erkundigte sich Lenz kurz angebunden nach ersten Untersuchungsergebnissen. »Oder seid ihr noch nicht so weit?«, schob er angriffslustig nach.

»Oh doch«, entgegnete Stukenberg, in dessen Gesicht dieses süffisante Schmunzeln eingemeißelt zu sein schien. »Wir haben sogar schon eine ganze Menge, sofern Sie mit äußeren Tatmerkmalen zufrieden sind. Die Sektion der Organe dauert noch etwas. Ich schicke euch dann den Bericht. Allerdings glaube ich nicht, dass wir da eine Überraschung erleben werden. – Kommen Sie mal einen Schritt näher, dann wird das alles für Sie deutlich plastischer.«

Stukenberg schob seinen Mitarbeiter sanft zur Seite. Nun wurde für Lenz das ganze eklige Ausmaß der Arbeit eines Rechtsmediziners sichtbar. Nicht nur, dass der Leichnam keinen Kopf mehr hatte – der bunte Mischmasch in einer schmalen Stahlwanne an dessen Stelle musste das sein, was Stukenbergs Männer vom Kopfsteinpflaster gekratzt hatten –, auch der Rest des Körpers sah einfach nur blutig, rissig und teilweise blau-schwarz verfärbt aus. Zudem hatten die Rechtsmediziner dem Körper bereits einige Organe entnommen, so dass der Brustraum einer blutigen Schüssel aus organischem Material glich.

»Lecker«, murmelte der Hauptkommissar.

»Nicht wahr?«, freute sich Stukenberg. »Wäre das hier ein Fernsehkrimi, hätte ich auch noch eine deftige Leberwurststulle in der Hand, aber das bleibt euch in der Realität zum Glück erspart. Also: Die Todesursache ist eindeutig, nämlich grobe Gewalteinwirkung mittels eines Felsbrockens auf den Schädel des Opfers, das zweifellos sofort tot war. Vorher wurden ihm aber noch beide Hände mit schweren Stiefeln zerquetscht und zwar, indem die Sohlen mehrfach auf dem Handrücken und den Fingern hin und her gedreht wurden. Spätestens der damit verbundene Schmerz dürfte dem Opfer gnädig die Sinne geraubt haben.«

Lenz hatte den Eindruck, dass der Rechtsmediziner einen ganz eigenen Spaß an seinem Beruf hatte.

»Anschließend ist der Täter auf den Rücken des Opfers gesprungen. Wirbelsäule mehrfach gebrochen, sämtliche Rippen zerborsten und in die inneren Organe gebohrt.« Er deutete auf unzählige weiß-gelbe Splitter, die in der blutigen Brühe schwammen. »Da hat sich einer so richtig ausgetobt. – Wie Sie unschwer erkennen können, handelt es sich übrigens um eine männliche Leiche.« Stukenbergs behandschuhter Zeigefinger wies auf die schrumpeligen Genitalien. »Der Mann dürfte etwa neunzig Jahre alt gewesen sein, eher noch etwas älter. Wir haben uns die äußerlichen Verletzungen genauer angesehen. Es gibt mehrere Altersstufen. Die jüngsten sind diese Risse hier, die vermutlich von einer mehrsträngigen Lederpeitsche herrühren.« Stukenberg drehte den Oberkörper etwas auf die Seite, ohne auf die Sauerei zu achten, die er damit auf dem Stahltisch anrichtete, und deutete auf Striemen, die aussahen, als wäre die Haut regelrecht aufgeplatzt. »Stofffetzen in den Wunden belegen, dass das Opfer sein Oberhemd trug, als es ausgepeitscht wurde. Dann haben wir aufgeplatzte Hautstellen, die von Stockschlägen herrühren, wobei das Opfer dabei offensichtlich nackt war. Unterschiedlich verkrustete Wunden dieser Art befinden sich auf dem Gesäß des Toten und im Bereich des unteren Rückens. Der Mann dürfte über einen Zeitraum von etwa drei Tagen immer wieder diesen Schlägen ausgesetzt gewesen sein, wobei die Haut auf unnatürliche Weise gespannt gewesen sein muss, denn sie ist über eine größere Länge regelrecht aufgeplatzt.«

»Das heißt, das Opfer wurde etwa drei Tage lang mit Stock- und Peitschenschlägen gefoltert«, fasste Lenz zusammen, »bevor es schließlich mit dem Stein erschlagen wurde.«

»Richtig. Und in dem Zusammenhang sind Fesselspuren an den Hand- und Fußgelenken von Bedeutung. Dabei handelt es sich nicht um übliche Fesselungsmaterialien wie Seile oder Kabelbinder, sondern um etwa zehn Zentimeter breite Lederriemen.« Stukenberg hielt eine Hand hoch, von der zerquetschte Fingerreste herabbaumelten, und deutete auf die blau angelaufenen Einblutungen am Handgelenk. »So etwas kennen wir sonst nur von den Fixierungen in psychiatrischen Anstalten. Das Opfer hat heftig an den Fesseln gezerrt, möglicherweise während es geprügelt wurde. Entsprechend finden sich in den Wunden an Hand- und Fußgelenken Lederpartikel, die aber auch erst noch genauer untersucht werden müssen.« Stukenberg ließ diese Erkenntnisse einen Moment im Raum stehen, als wollte er sicher sein, dass Lenz sie auch vollständig verarbeitet hatte, bevor er fortfuhr: »Kommen wir nun zur Tatwaffe: Der Stein ist etwa fünfzehn Kilogramm schwer und trägt ein paar Fingerabdruckfragmente, die ausschließlich vom Opfer stammen. So viel konnten wir aus den zertretenen Fingern noch abnehmen.«

»Moment«, unterbrach Lenz, »heißt das, das Opfer hat den Stein selbst an den Tatort getragen?«

»Genau das heißt es«, bestätigte Stukenberg. »Sofern wir nicht davon ausgehen wollen, dass die Abdrücke entstanden sind, als er sich selbst erschlagen hat.« Der Rechtsmediziner lachte trocken auf. »Und jetzt halten Sie sich fest, denn es kommt noch dicker: Der Stein stammt eindeutig vom Berghang unterhalb der Burg. Das Opfer hat ihn den ganzen Weg hinaufgeschleppt, was für einen Mann in dem hohen Alter eine fast übermenschliche Anstrengung gewesen sein muss. Allerdings hat er das nicht freiwillig gemacht. In der Zusammenschau mit den anderen Wunden liegt es nahe, dass er von Peitschenhieben den Weg hinaufgetrieben worden ist. Oben hat er den Stein dann fallen gelassen und ist selbst einige Minuten vor der Burgmauer am Boden liegen geblieben. Die Blutlache dort belegt das. Doch dann ist er auf allen vieren an der Mauer entlang bis zum späteren Auffindeort der Leiche gekrochen. Der Stein ist folglich vom Täter hinterhergetragen worden. Es finden sich schwarze Glattlederreste darauf, was auf Handschuhe hindeutet. Am Ende der Mauer hat der Täter dem Opfer in der vorhin beschriebenen Weise die Hände zermalmt und ihm zum guten Schluss den Stein aus etwa zwei Metern Höhe auf den Kopf geworfen. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich nicht um einen Riesen gehandelt hat, der den Brocken aus zwanzig Metern Höhe fallen gelassen hat, hat er ihn über seinen Kopf gehoben und dann mit Schwung nach unten geschleudert. Blutspritzer und Gehirnmasse waren rundherum auf dem Kopfsteinpflaster und an der Mauer verteilt. Man kann das wohl letztlich als Hinrichtung bezeichnen.«

Ein paar Minuten blieb es still zwischen Stukenberg, Lenz und Gina Gladow. Zu fürchterlich waren die Schilderungen des Leidensweges selbst für die beiden diensterfahrenen Männer. Wie traumatisch mussten sie also erst für die junge Kommissarin sein?

Entsprechend erstaunt war Lenz, als ausgerechnet sie sich als Erste wieder zu Wort meldete, und das auch noch in einem vollkommen unbeeindruckten Tonfall: »Können Sie uns noch etwas über die Bedingungen während der mehrtägigen Folter sagen?«

Stukenberg nickte. »Der Mageninhalt muss noch untersucht werden, aber viel hat der alte Mann nicht zu essen bekommen. Es gibt Anzeichen von beginnender Auszehrung. Nur mit Wasser ist er offenbar gut versorgt worden, sonst hätte er die Tortur den Berg hinauf nicht geschafft.«

»Keine Hinweise auf den Ort, an dem er gefangen gehalten wurde?«

»Nein.«

»Habt ihr euch die alte Mühle unterhalb der Burg an der Alme näher angesehen?«

»Haben wir. Nichts.«

»Gibt es Besonderheiten bei der Kleidung?«, klinkte sich Lenz wieder ein, dem die Befragung des Mediziners zu sehr an sich vorbeilief.

»Übliche Straßenkleidung eines Herrn gehobenen Alters: eine beigefarbene Stoffhose von Gardeur, dunkelbraune Strümpfe von Seidensticker, hellbraune Halbschuhe von Clarks, ein weißes Oberhemd von Boss. Sehr gediegen, das alles.«

»Gehobene Preislage also«, stellte Lenz fest. »Kein Sakko oder Mantel?«

»Wir haben nichts dergleichen gefunden.«

»Bei der Kälte heißt das, dass das Opfer von seinem Gefängnis direkt zur Burg gebracht worden sein muss«, schloss Gina Gladow.

Lenz nickte.

»So, das war’s«, beendete der Rechtsmediziner abrupt das Gespräch und gab seinem Gehilfen, der die ganze Zeit über schweigend abseits gestanden hatte, ein Zeichen, mit der Arbeit fortzufahren. »Mehr kann ich im Moment noch nicht sagen. Alles Weitere entnehmt ihr dann meinem Bericht.«

»Eine letzte Frage noch«, sagte Lenz. »Gibt es irgendwelche besonderen Kennzeichen, die uns bei der Identifikation des Mannes helfen könnten?«

»Nein.« Stukenberg zuckte bedauernd mit den Schultern. »Das heißt, eine Narbe haben wir gefunden, die nicht von den Misshandlungen stammt. Sie ist einige Jahrzehnte alt und befindet sich auf der Innenseite des linken Oberarms. Da muss dem Mann mal etwas wegoperiert worden sein. Ob Ihnen das allerdings weiterhilft, weiß ich nicht. Die Stelle ist nur sichtbar, wenn man besonders darauf achtet.«

»Vielen Dank, Herr Stukenberg.« Lenz war ehrlich beeindruckt. »Das war weit mehr, als in der Kürze der Zeit zu erwarten war.«

»Jederzeit wieder«, entgegnete der Gerichtsmediziner. »Man freut sich ja, wenn man nicht immer nur Nullachtfünfzehn-Leichen auf den Sektionstisch bekommt. – Und grüßen Sie den Kollegen Schröder von mir.«

Das Lachen des Mannes schien noch im Raum zu hängen, als die Kriminalbeamten bereits auf dem Weg nach draußen waren.

7

Den Vorgarten des eingeschossigen Flachdach-Bungalows in der Max-Planck-Straße im Hammer Stadtteil Berge konnte man ohne Übertreibung als die Visitenkarte des eintausend Quadratmeter großen Grundstücks bezeichnen. Allerdings war keine Horde von Gärtnern durch die Anlagen gerobbt und hatte sie akribisch von jedem unerwünschten Pflänzchen befreit, sondern Fabian Hellers Mutter hatte hier einen fast zwanghaften Gartenarbeitstrieb ausgelebt und dem Unkraut den Kampf angesagt. Dabei hatte sie die Haut der Erde immer wieder aufs Neue mit der Harke aufgekratzt und sich arbeitserleichternde Hilfsmittel wie etwa Rindenmulch verbeten. Nun aber, sechs Wochen nach ihrem Tod, deutete das ungehemmt durchbrechende Grün an, wer am Ende in der Natur immer den längeren Atem hatte.

Heller ging langsam und gegen seinen inneren Widerstand kämpfend über die Waschbetonplatten auf die große weiße Haustür aus Holz zu. Zwei Stufen führten hinauf. Als Kind hatte er sie mit einem Sprung genommen, jetzt fiel ihm jeder Schritt schwer, weil er ihn einer Konfrontation mit der Vergangenheit näherbrachte, die er lieber gemieden hätte.

Selbst das Schloss schien nicht einverstanden, als Heller nun mehrfach vergeblich versuchte, den hakenden Schlüssel zu drehen. Er rüttelte leicht daran und stemmte sich schließlich mit der Schulter gegen das Holz des feststehenden Flügels, während er an dem Schlüssel zog. Plötzlich gab das Schloss mit einem Ruck nach und die Tür schwang nach innen auf. Der muffige Geruch unbewohnter Räume schlug Fabian Heller entgegen, als er den kleinen Windfang betrat. Von hier führte eine Tür nach rechts zur Gästetoilette, eine nach links zu seinem alten Jugendzimmer und die geradeaus in den langgezogenen Flur.

Heller ließ die Haustür hinter sich laut krachend zufallen. Das Echo lief dumpf vibrierend durch den Bungalow und machte die Totenstille, die ihn direkt nach dem Betreten umfangen hatte, noch unheimlicher. Dem finsteren Flur vorerst noch ausweichend, betrat er als Erstes sein altes Jugendzimmer mit der breiten Alu-Fensterfront zur Straße hin, der hellbeigen Textiltapete und den weißen Hartfaser-Kassetten unter der Decke.

Hier schien die Zeit eingefroren. Nichts hatte sich verändert, nachdem er vor über zwanzig Jahren während seines Studiums ausgezogen war. Seine Mutter hatte sogar den alten Limba-Schreibtisch mit dem vorsintflutlichen Atari-Computer darauf penibel von Staub freigehalten. Neben dem schmalen Jugendbett stand der beige IKEA-Freischwinger, in dem er als Jugendlicher an verregneten Nachmittagen nach der Schule so oft gesessen und gelesen hatte. Er fühlte den ruhigen Stunden nach, die ihm jetzt fremd und wie aus einem anderen Leben erschienen. Den Kieferntisch mit Glasplatte zierte ein beiger Tischläufer, der ihm unbekannt vorkam. Sicher war er nach seinem Auszug der Vollständigkeit halber hinzugekauft worden und verstärkte nun den musealen Charakter des Raumes. Auf dem Ausziehsofa an der Wand daneben lag eine ebenfalls beige Tagesdecke sorgsam zusammengefaltet.

Sogar die uralte Kompaktanlage von Nordmende mit Platten­spieler, Radio und Doppel-Kassetten-Deck, mit dem er jeden Mittwochabend seine Mitschnitte aus Mal Sondocks Hitparade für seine Freunde kopiert hatte, stand staubfrei auf dem Plattenschrank rechts neben der Tür. Darunter reihten sich in einem Fach die alten Vinyl-Scheiben von Abba, Smokie, Sweet und Queen – mit dreizehn hatte Fabian Heller das Zeug gehört und BRAVO-Starschnitte gesammelt – und im zweiten Fach The Undertones, Sting und Fischer Z neben Konstantin Wecker, BAP, Hannes Wader und Wolf Biermann, die Musik einer umwelt- und friedensbewegten Generation. So nostalgisch er sich daran zurückerinnerte, so verschwendet schien ihm die damals eingesetzte Energie heute angesichts der zahlreichen Kriege, in die selbst Deutschland wieder involviert war. Die Welt schien in Zeiten ungehemmter Rüstungsexporte und eines nicht nur in der Flüchtlingshilfe auseinanderdriftenden Europa unsicherer denn je. All die Friedenscamps mit Solidaritätsbekundungen an die Unterdrückten überall in der Welt waren für die Katz gewesen. Schwerter zu Pflugscharen? Das Gegenteil schien der Fall zu sein.

Fabian Heller atmete tief durch und trat zurück in den Windfang. Mit einem unbestimmten Druck auf der Brust öffnete er die bleiverglaste Tür zum Flur, der ihn düster empfing mit seinem dunkelroten Teppichboden, der breiten Garderobenwand aus dunklem Nussbaum, der dunklen Nussbaum-Deckenvertäfelung und der braun-beigen Textil­tapete. Hier war einfach alles nur finster. Wie ein enger Schlauch führte der Flur, einmal im rechten Winkel geknickt, durch das ganze Haus. Bleiverglaste Türen gingen zum Wohnzimmer, zum Esszimmer und zur Küche ab; dazu je eine geschlossene Holztür zum Bad, zum Büro seiner Mutter, zum Elternschlafzimmer und zum alten Jugendzimmer seines Bruders. Einhundertsiebzig Quadratmeter auf einer Ebene, dasselbe noch mal als Keller untendrunter.

So fremd ihm nun alles erschien, so glücklich waren doch Kindheit und Jugend gewesen, die Fabian Heller in diesem Haus verbracht hatte. Wie oft hatten er und sein Bruder den langen Flur genutzt, um mit ihren Pantoffeln als Schläger und einem Tennisball auf den Knien Hockey zu spielen! Und bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatten sie sich dabei in die Wolle gekriegt. Die lebhaften Jahre mit den immer überarbeiteten Eltern und den ständigen Streitereien mit seinem Bruder standen in krassem Gegensatz zu der bedrückenden Atmosphäre, die das leere Haus mit seinen dunklen Möbeln jetzt gefangen hielt.

Heller betrat das großflächige Wohnzimmer, das wegen seiner Tiefe immer etwas schummerig wirkte, obwohl die gesamte Gartenseite aus hohen Aluminium-Fenstern bestand. An der gegenüberliegenden Wand schluckte ein fünf Meter langer Schrank aus Nussbaum das letzte Restlicht, das die dunkle Holzdecke, das dunkelbraune Cordsofa – eine sogenannte Rundecke – und der niedrige Nussbaumtisch in der Mitte des Raumes noch übrigließen.

Heller mied die Schranktüren, hinter denen, wie er wusste, Unmengen von Gläsern für jede Gelegenheit aufgereiht waren. Auch das Barfach mit dem ihm vertrauten Vorrat an Kräuterlikör, Apfel-, Kirsch- und Weizenkorn mied er. Er musste den Trauerschub ja nicht herausfordern. Außerdem gab es noch genügend Schranktüren, hinter denen sich all das verbarg, von dem seine Mutter sich nicht hatte trennen können, weil es für sie mit der Zeit verbunden war, als Fabian und sein Bruder noch Kinder gewesen waren und ihr Mann noch gelebt hatte, der viel zu früh – mit achtundvierzig Jahren – an Lungenkrebs verstorben war. Heller erkannte mit einem Mal, was ihn die ganze Zeit über schon so bedrückte: In diesem Haus war ein vergangenes Menschenleben zu einer Momentaufnahme eingefroren. Und dieses Leben hatte dem Menschen gehört, mit dem er naturgemäß am engsten verbunden gewesen war.

In den Schubladen fanden sich das gute Silberbesteck und eine braune, geflochtene Ledermappe mit Papieren, die Heller herausnahm und auf den Tisch legte. Dann flüchtete er aus der emotionalen Enge des Wohnzimmers durch den Flur ins Büro, weil er sich durch das geschäftsmäßige Ambiente wieder etwas mehr Distanz versprach.

Aber auch hier war seine Mutter allgegenwärtig: in den sauber angespitzten und parallel aufgereihten Bleistiften auf dem Schreibtisch ebenso wie in den per Hand beschrifteten Aktenordnern im Regal. Der alte Schrank mit den Glasscheiben – der erste Wohnzimmerschrank seiner Eltern von vor über fünfzig Jahren – enthielt die Heidi-Bücher aus der Kindheit seiner Mutter. Dieser Raum zeichnete mehr als alle anderen im Haus ihr gesamtes Leben nach. Als dann noch Fabians Blick auf Fotos seiner Eltern an der Wand fiel, war es um ihn geschehen. Er ließ sich auf den Bürostuhl fallen und flennte wie ein kleines Kind. Dabei hatte er sich selbst bei der Beerdigung seiner Mutter auf dem Friedhof als herzlos beschimpft, weil er nicht hatte weinen können. Mit einem Schlag wurde ihm nun bewusst, dass mit seiner Mutter die Letzte aus der Generation vor ihm verschwunden war. Ein Gefühl von Verlassensein und Einsamkeit sorgte dafür, dass sich alle Schleusen öffneten.

Schließlich wischte er sich die Tränen ab und wandte sich dem alten Schrank zu. Was nützte es? Irgendwann musste er sich den Tatsachen stellen und je eher er es tat, desto schneller war es überstanden. In einem der Fächer fand er, was er gesucht hatte: die Fotoalben, deren verschossene hellblaue und orangene Leinenbezüge darauf hindeuteten, dass sie sehr alt waren. Ein erstes zaghaftes Durchblättern bestätigte das, denn es handelte sich auf den von transparentem Seidenpapier getrennten Seiten überwiegend um Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern in vergilbten Fotoecken. Auf einigen Bildern war das kleine Mädchen zu sehen, an das er sich vorhin im Stau auf der Autobahn erinnert hatte. Glücklich und unbeschwert lächelte es in die Kamera und präsentierte stolz ihre Zöpfe, die bis zu den Hüften hinunterreichten.

Schnell schlug Heller das Album wieder zu, weil er in Sachen Emotionen heute für nichts mehr garantieren konnte. Stattdessen wandte er sich den Schubladen zu und entnahm ihnen alles, was nach wichtigen amtlichen Unterlagen aussah. Zuletzt fand er noch neben einem alten Gesangbuch und einem Rosenkranz aus Holz, die er unberührt ließ, ein in Seidenpapier eingeschlagenes langes Päckchen. Er zog es hervor, wunderte sich über die Flexibilität des Inhalts und wickelte es vorsichtig aus. Es enthielt Zöpfe – die Zöpfe seiner Mutter, die er eben noch auf den Fotos gesehen hatte. Warum verwahrte eine Frau ein Leben lang die Zöpfe ihrer Kindheit? Fabian Heller schüttelte verständnislos den Kopf und wickelte die blonde Haarpracht wieder ein. Dann griff er nach einer großen, stabilen Stofftasche, steckte das Seidenpapierpäckchen, die Papiere und die Fotoalben hinein und ging zurück ins Wohnzimmer, um auch die dort auf dem Tisch deponierten Unterlagen dazu zu stopfen.

Er blickte sich noch einmal um, fühlte die Enge in seinem Brustkorb und kämpfte wie schon seit Wochen immer wieder mit der Frage, was er mit dem Haus machen sollte. Einziehen würde er hier sicher nicht. Sein Bruder schon gar nicht, denn der lebte in Berlin. Also verkaufen? Sich endgültig davon trennen? Was war das nur, das ihm die Antworten so schwermachte? Was stieß ihn hier so ab, dass er den Aufenthalt in diesem Haus nicht ertrug? Und was fesselte ihn gleichzeitig so sehr, dass er den sauberen Schnitt nicht schaffte?

Heller beschloss, heute nichts mehr zu beschließen und überhaupt keine Entscheidung zu treffen, solange er sich in emotionaler Schieflage befand. Er würde sich mit etwas Abstand Gedanken darüber machen, wie es mit dem Haus weitergehen sollte.

Derart vorerst einer Entscheidung enthoben, verließ er das Mausoleum seiner Kindheit.

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25 mayıs 2021
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