Kitabı oku: «Liebesbrief an Unbekannt»
Thomas Brezina:
Liebesbrief an Unbekannt
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 edition a, Wien
Cover und Satz: Isabella Starowicz
Lettering: Typejockeys
ISBN 978-3-99001-366-3
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Für Carmen und ihre liebevolle Weisheit
Lieber Wer-immer-du-bist,
hier schreibt dir Emma, deine zukünftige Traumfrau, die allerdings derzeit eine Alptraumfrau ist.
Eigentlich sollte ein so hoffnungsloser Mensch wie ich alle Hoffnung aufgegeben haben, aber irgendwas in mir schreit: Tu es nicht, tu es nicht.
Warnung: Ich bin die totale Versagerin und habe in den vergangenen drei Jahren meines Lebens so ziemlich alles verhaut, was ich nur verhauen konnte.
Ich sehe weder großartig aus, noch kann ich irgendetwas besonders gut (außer die falschen Männer wählen). Aber meine neue Freundin Patricia hat mir geraten, meinem zukünftigen Traummann Briefe zu schreiben, auch wenn ich nicht den Schimmer einer Idee habe, wer du sein könntest.
So sitze ich, Katastrophen-Frau Emma, an meinem Schreibtisch, der nicht einmal mir gehört. Ich schreibe mit dem Füller, den ich mir heute geleistet habe (obwohl ich eigentlich kein Geld dafür habe), und bei jedem Wort denke ich mir, du musst mich für völlig verrückt halten, weil ich das tue.
Je länger ich schreibe desto mehr spüre ich aber, dass es so vieles gäbe, was ich dir erzählen möchte. Natürlich ist das einfach Wahnsinn, denn wie gesagt bin ich dir noch nie begegnet, und normale Menschen erzählen nicht einfach in die Luft hinein irgendwelche Geschichten aus ihrem Leben.
Aber als normal kann man mich ohnehin nicht bezeichnen. Das hängt aber nicht mit den unfassbaren Fehlern zusammen, die ich in der Vergangenheit gemacht habe. Mein Wahnsinn hat damit zu tun, dass ich noch immer daran glaube, dass es Männer mit Herz, Hirn und Verstand gibt, die ehrlich und aufrichtig sind. Männer, die mich nicht ausnehmen oder ausnützen, mit denen ich offen reden und herzlich lachen kann.
Männer, die zärtlich sind und mich einfach nur im Arm halten, wenn ich mich danach sehne, und die sogar bereit sind, Schwäche zuzugeben und sich an mich anlehnen.
Männer, die beste Freunde sein können.
Männer, die mich wollen, aber nicht brauchen und nicht an mir hängen wie tonnenschwere Kletten.
Ich bin so völlig geisteskrank, daran auch weiterhin zu glauben, dass es diese Kategorie von Männern gibt. Für mich selbst bräuchte ich nur ein einziges Exemplar davon, und das sollst du sein, an den ich diesen Brief schreibe.
Obwohl ich keine Ahnung habe, wo du bist und wie es dir geht. Aber natürlich müsstest du auch wollen und vor allem – das ist der größte Haken an der Sache – müssten wir uns begegnen. Damit das möglich wird, schreibe ich dir. Patricia behauptet, es wäre möglich, auf diese Weise den Herzmann zu finden, ihn »ins Leben zu ziehen«, wie sie das nennt.
Allerdings raucht Patricia auch etwas, das mehr high macht als Marihuana und verdient ihr Geld mit Wahrsagen. (Sie muss erfolgreich sein, weil sie regelmäßig für einen Fernsehsender den Ausgang von Wahlen vorhersagt und in fast allen Fällen Recht behalten hat.)
Das hier ist mein erster Brief an dich, mein erster Versuch, und ich fürchte, er scheitert so kläglich, wie die gefühlten 50 anderen Briefe, die ich schon begonnen habe…
1
Zerknüllt landete auch dieser Brief im übervollen Papierkorb und fiel zu Boden, der mit weiteren Papierbällen übersät war. Emma beschloss für diesen Abend aufzugeben. Seit fast einer Woche versuchte sie, diese völlig verrückten Briefe zu schreiben, aber sie hatte noch keinen fertig bekommen. Nie war sie ganz zufrieden.
War sie schon so verzweifelt und fertig, dass sie solche Tricks nötig hatte?
Sie streckte die Arme und den Rücken und blickte durch die große Scheibe des Erkers in die Nacht hinaus. Der leicht orangegelbe Schein der Straßenlampen fiel auf die zerkratzte Holzplatte, die direkt in den Erker eingebaut war. Emma machte die Füllfeder zu und beschloss, noch einen Spaziergang zu machen. Sie brauchte frische Luft.
In der Diele nahm sie ihre Jacke vom Haken, schlüpfte hinein und trat aus der Haustür in den langen Windfang. Er machte hier in Brighton und so nahe am Meer an manchen Tagen seinem Namen alle Ehre. Sie schritt nach vor zu den vier Stufen, die hinunter zur Straße führten.
Durch die Dunkelheit kam das Geräusch des Rollens der Wellen vom nahen Strand, und in der Luft lag der Geruch von Tang und Salz.
Sofort meldete sich die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf: »Emma, Salz kann man nicht riechen.«
Egal. Die Luft hier in Brighton war so herrlich anders. Für Emma roch sie nach Freiheit und Weite, und tief in ihr war da die leise Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Blöde Idee, das mit den Briefen an den zukünftigen Traummann, dachte Emma, sauer auf sich selbst. Sie hätte die Zeit besser nützen können als mit dem Schreiben von Briefen, die sie ohnehin alle weggeworfen hatte.
Besser nützen. Aber wie eigentlich? Mit Putzen? Oder Saugen? Oder Lernen, wie man ein echtes Englisches Frühstück zubereitet, ohne Toast und Eier anbrennen zu lassen? Oder vielleicht sollte sie trainieren, die Betten der Gästezimmer schneller zu machen und die Decke wirklich glatt zu streichen. Der einzige Gast an diesem Wochenende hatte bei der Abreise spitz bemerkt, dass sein Bett am Abend ausgesehen hätte, als hätte schon jemand darin gelegen.
Allerdings war er ein Mann der Sorte, die nur glücklich sind, wenn sie an allem herumnörgeln können. Auf solche Typen konnte Emma wirklich verzichten.
Einen Mann, einen echten, liebenswerten Mann wie durch Magie ins Leben ziehen, wie sollte so etwas möglich sein? Wenn nirgendwo dort draußen einer lebte, der an ihr interessiert war? Wenn es nur Psychos gab, von denen sie wirklich die Nase voll hatte?
»Vergiss es einfach«, sagte sie sich. »Vergiss es und lebe jeden Tag wie eine Perle auf einer langen Kette.« Das war auch ein Rat von Patricia, und er klang einfach realer.
Wenig später saß sie aber wieder am Schreibtisch im Erker. Emmas Füller flog nur so über das Papier.
Lieber Wer-immer-du-bist,
ich kann es nicht lassen. Ich hatte wirklich fest beschlossen diese Briefeschreiberei bleiben zu lassen, weil sie nutzlos und sinnlos ist. Aber was ist die Alternative?
Ich kann in die Glotze schauen.
Ich kann auf Netflix Serien Binge gucken. Mein Rekord liegt bei neun Folgen an einem Tag. Fünfzig-Minuten-Folgen meine ich, nicht diese Fürzchen von Sitcoms wie »The Big Bang Theory«.
Ich könnte natürlich auch ein gutes Buch lesen, aber im Regal hier stehen nur Bücher, deren Titel ich nicht einmal verstehe. Die Bücher gehören meiner Tante Nell. Sie ist das, was man »intellektuell« nennt und statt Sex hat sie mit Männern wahrscheinlich nur spirituellen Gedankenaustausch, der zu einem geistigen Orgasmus führt. Tante Nell und vor Lust stöhnen sind zwei Dinge, die ich mir nicht zusammen vorstellen kann (und will). ;-)
Siehst du, es geht schon los. Denke ich nur: Ich will mir das nicht vorstellen, geht die Vorstellung nicht mehr aus meinem Kopf raus.
Tante Nell stöhnt sicherlich: »Oh, Henry, flüstere mir schmutzige Dinge ins Ohr. Zum Beispiel die Relativitätstheorie von Einstein.«
Oder: »Oh, Henry, lies mir Nietzsche vor, denn das macht mich so an.«
Oder: »Henry, ja, gib’s mir! PHI-LO-SO-PHIE mich! THE-O-RIE mich! THE-O-tiefer! Aaaaaa!«
Ich hoffe, du bekommst ein Bild, wieso die Bücher, die in diesem Haus stehen, mich nicht wirklich begeistern. Denk aber nicht, dass ich nie etwas lese. Ich tue es doch. Aber mehr Krimis oder Romane mit viel Herz und Schmerz, in denen sich die beiden Hauptpersonen am Ende kriegen.
Tante Nell hat mich nach meiner Lieblingslektüre gefragt, ich habe ehrlich geantwortet, und ihre naserümpfende Reaktion war: »Herz-Schmerz-Romane also. Ach ja. Wahrscheinlich als scheinbares Trostpflaster für das, was du im Leben nicht hast. Du flüchtest dich da in eine Scheinwelt, Emma, die ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit gibt. Romane dieser Art sind wie ein Esslöffel Zucker in eine Tasse Tee, weil man denkt, er wäre sonst zu bitter. Solche Romane verkleben den Geist und die Sinne.«
Ach ja, ist das so? Nell fährt voll auf Nietzsche ab. Daher hat sie auch ungefähr zwei Meter Bücher von ihm. Aber ist das nicht der Philosoph, der gesagt haben soll: Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht? Der Mann ist entweder auf Dominas gestanden oder aber er war Sadist. In Nells Augen ist er natürlich realer als jeder Liebesroman mit Happy End.
Kein Wunder, dass sie nie verheiratet war und selbst Papa einmal angemerkt hat, seine Schwester hätte bei Männern einen etwas eigenartigen Geschmack.
Ich schreibe dir, den ich nicht kenne, weil ich das Gefühl habe, es tut mir einfach gut.
Ich will dich wirklich nicht zumüllen mit meinem emotionellen Schrott und den Verbänden, die ich auf alle Wunden gelegt habe, die mir in den vergangenen Monaten geschlagen worden sind.
Das klingt sehr dramatisch. In Wahrheit ist die ganze Sache noch wesentlich schlimmer.
Da du diesen Brief nie wirklich lesen wirst, gestehe ich dir etwas, das ich sonst nie aussprechen würde: Als ich vor drei Wochen in Brighton angekommen bin, stand am nächsten Tag in der Zeitung ein Bericht vom Sohn eines Rockstars, der hier lebt. Der Bursche ist im Drogenrausch von den Klippen gesprungen und war tot.
Damals habe ich mir gedacht: Der hat es gut…
2
Emma richtete sich auf. Ihr tat der Rücken weh, weil sie so schief über das Papier gebeugt gesessen hatte. Sie erhob sich und ging ein paar Schritte im kleinen Arbeitszimmer auf und ab.
Auf dem Regalbrett, zwischen den Ordnern, stand ein gerahmtes Foto der Berge von Salzburg. Es hatte sie schon in das Wohnheim bei der Uni nahe von London begleitete, als sie Tourismus und Hotelmanagement studiert hatte. Das Bild zeigte den Blick aus ihrem Kinderzimmer, und es hatte immer eine beruhigende Wirkung auf sie.
Nun war sie also in Brighton gelandet. Emma, studierte Tourismusfachfrau, ziemlich gescheitert, beruflich wie privat, Vertretung für ihre Tante Nell, der das B&B gehörte. Als sie es vor ein paar Wochen von ihr übernommen hatte, ließ Tante Nell wenig Zweifel, dass Emma für sie eine Notlösung war, weil der Nachbar, der es eigentlich hätte leiten sollen, frisch verliebt war und lieber Freizeit wollte.
»Aber jetzt im März und April kommen ohnehin kaum Gäste«, hatte Tante Nell gesagt. »Du kannst dich also einleben.«
Wovon Emma leben sollte, hatte sie nicht gesagt. Keine Gäste hieß nämlich kein Einkommen. Emma war sehr knapp bei Kasse. Die Saison, so hoffte sie wenigstens, würde Ende Mai beginnen, also in zwei oder drei Wochen. Bisher hatte sie aber praktisch keine Reservierungen bekommen.
Genug gegrübelt, entschied sie. Frische Luft würde ihr nun wirklich gut tun. Sie trat aus dem Arbeitszimmer, das gleich neben dem Eingang lag und schlüpfte noch einmal in die blaue Regenjacke aus dem Secondhand-Laden einer Wohltätigkeitsorganisation. Emma nahm die Hausschlüssel aus der Schale auf dem Ablagebrett in der Diele und verließ das Haus.
Auf der obersten Stufe blieb sie stehen und blickte über den länglichen Platz. Sein Name war New Steine, eine seltsame Mischung aus Englisch und Deutsch, die ihr noch keiner hatte erklären können. Die Häuser waren in zwei gegenüberliegenden Zeilen angeordnet, alle mit drei oder vier Stockwerken, einer Kellerwohnung und Dachzimmern. Die meisten waren weiß, dazwischen aber gab es ein blitzblaues und ein pfefferminzgrünes Haus. Das Haus von Emmas Tante Nell war gelb mit weißen Fenstern.
In der Mitte des langen Platzes befand sich ein Streifen Rasen, natürlich eingezäunt und am Abend abgesperrt. Sie hatte als Anrainerin einen Schlüssel.
Die meisten Häuser waren winzige Hotels und wurden von den Besitzern betrieben. Zu dieser Jahreszeit kamen noch nicht so viele Touristen nach Brighton, aber mit Juni fing die Hochsaison an. Emma hoffte auf viele Gäste, da sie Geld verdienen musste.
Die Nacht war windstill. Das war eine willkommene Abwechslung nach den Stürmen der vergangenen Wochen. Für den nächsten Tag war auch schon wieder starker Wind vorhergesagt.
Mehrere Male atmete Emma tief durch und füllte ihre Lungen mit der Meeresluft. Sie stieg die Stufen hinunter und ging nach links Richtung Strand.
Selbst auf der Marine Parade, der Straße, die 25 Meter über dem Strand entlang der Küste verlief, war um diese Tageszeit nicht mehr viel los. Sie musste nur ein paar Autos und ein Motorrad abwarten, dann konnte sie die Straße überqueren. Eine lange Treppe verlief im Zickzack an der steilen Mauer nach unten zum Meer.
Mit der Hand strich sie über das Metallgeländer, das von vielen Lackschichten überzogen war. Es trotzte Salz und Seeluft, aber der Rost kämpfte sich trotzdem durch und mischte sich mit dem gebrochenen Weiß. Emma stieg die steinernen Stufen hinunter und erreichte das Ende der Treppe, das unter Arkaden führte.
Sie mochte diese Stelle nicht sehr. Erstens hing hier immer der Gestank von altem Öl der Fish&Chips-Bude in der Luft, und zweitens war es ein wenig düster. Um schnellstens auf die untere Uferstraße zu gelangen, lief sie los. Am Ende des Handlaufs gab es eine Metallkugel, und aus einer Laune heraus packte Emma sie mit einer Hand, stieß sich ab und wirbelte herum Richtung Meer, so wie sie früher als kleines Mädchen manchmal gesprungen war.
Für eine halbe Sekunde fühlte sie sich so leicht und so befreit wie schon lange nicht mehr. Sie hatte das Gefühl zu fliegen, keinen Boden mehr unter den Schuhen. Die Schwerkraft holte sie schnell wieder zurück nach unten.
Emma landete auf dem Boden, prallte aber gleichzeitig gegen ein Hindernis, das sie dort nicht vermutet hatte. Sie kippte zur Seite und fiel.
Hinter sich hörte sie ein Aufstöhnen. Sie kämpfte sich in die Höhe, aber beim Versuch, mit dem linken Fuß aufzutreten, schoss ihr ein brennender Schmerz durch den Knöchel. Sie musste ihn sich verstaucht haben. Gegen wen oder was war sie da gesprungen?
Als sie sich umdrehte sah sie am Ende der Treppe jemanden stehen. Es war ein Mann in einer Jacke mit aufgestelltem Kragen. Sie konnte nicht viel von ihm erkennen, nur dichtes Haar, das ihm in die Stirn hing, und einen Vollbart. Sein Gesicht lag im Schatten.
»Habe ich Ihnen wehgetan?«, fragte sie stotternd.
»Nicht so schlimm.«
»Das tut mir leid. Entschuldigen Sie bitte.«
»Sie sind zum Glück nicht schwer.«
Emmas Tante hatte sie vor Drogensüchtigen und Obdachlosen gewarnt, die hier in der Nacht herumlungerten.
»Sie haben so aufgestöhnt, wenn ich Sie verletzt habe, dann kann ich Sie ins Krankenhaus bringen…« Emma kam näher auf ihn zu.
Schnell drehte der Mann den Kopf weg, als wollte er nicht, dass sie sein Gesicht sah.
»Wirklich kein Problem«, hörte Emma ihn murmeln. Er wandte sich ab, und als er ein paar Schritte machte, konnte Emma sehen, dass er leicht hinkte. Trotz der Schmerzen in ihrem Knöchel humpelte sie ihm hinterher, bis sie auf gleicher Höhe mit ihm war.
»Ich habe Sie wirklich nicht verletzt, oder?«
»Lassen Sie mich in Frieden!« Schroff stieß er sie weg. Emma stolperte erneut, und ihr Knöchel erinnerte sie mit einem heftigen Schmerz, dass er Schonung wollte.
»Ich habe mir nur Sorgen um Sie gemacht«, rief sie aufgebracht. »Kein Grund, so unfreundlich zu sein.«
Der Mann blieb stehen, kehrte ihr aber den Rücken zu. Emma fielen die Ermahnungen ihrer Tante ein, und sie wich zurück. Wenn er sich auf sie stürzte, sie niederschlug oder vergewaltigte? Hörte es hier jemand, wenn sie schrie?
Es sah aus, als wollte der Mann noch etwas sagen, aber dann überlegte er es sich anders. Kopfschüttelnd stapfte er nach vorne gebeugt, die Hände in den Jackentaschen, davon.
Armer Kerl, dachte Emma.
Sie überlegte, ob sie zurückgehen sollte, oder den Madeira Drive überqueren und noch ein wenig über den Kiesstrand schlendern.
Der Mann war in der Dunkelheit verschwunden. Sie blickte die lange untere Uferstraße hinauf und hinunter. Es waren nicht einmal Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern unterwegs. Was für eine einsame Nacht.
Eine Nacht, die ihrer Grundstimmung sehr entsprach.
Der Strand fiel in einer kleinen Stufe ab, die hoch genug war, um sich zu setzen. Die auslaufenden Wellen leckten über die Kiesel, und Emma hörte das Platzen der Schaumblasen. Sie ließ sich nieder und blickte hinaus zum Horizont, wo sich winzige Lichtpunkte bewegten. Es waren die Lastschiffe, die von Frankreich nach England unterwegs waren, wie man Emma erklärt hatte.
Zu ihrer en, nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt, erstreckte sich der berühmte Pier hinaus in das Meer. Es war ein langer Finger, ein Steg, an dessen Ende Achterbahnen und andere Rummelplatzattraktionen aufragten. Brighton Pier bedeutete Spaß, Fish&Chips, Popcorn, Eiscreme, Spielhallen, in denen jeder mit nur ein paar Pennys dabei sein konnte. Lachende Kinder, vergnügte Familien und Liebespaare, die ständig Selfies von sich machten.
Nur einmal war Emma zum Pier gegangen. Es war vor drei Wochen gewesen, und sie war durch die lärmerfüllten Spielhallen gewandert, bis zur letzten Achterbahn. Sie hatte sich sogar einen Token gekauft und war in einen der kleinen Wagen gestiegen. Wenige Sekunden später sauste sie durch die Kurven und den Looping, immer das Meer unter sich und mit einem Gefühl, als würde sie im nächsten Augenblick ins Wasser stürzen.
Sie schrie, wie sie es auch als kleines Mädchen auf dem Rummelplatz gemacht hatte. Aber nun hielt sie die Stange vor sich mit beiden Händen fest umklammert und streckte die Arme nicht mehr übermütig in die Höhe, wie sie das früher getan hatte.
Ihr Übermut war schon lange verschwunden und einer Niedergeschlagenheit gewichen, die einfach nicht mehr weggehen wollte. Lange war sie nicht am Pier geblieben, da sie die Ausgelassenheit der anderen Leute und vor allem die verliebten Pärchen nicht ertragen hatte.
Der Pier war in dieser Nacht bereits geschlossen, die Lichter auf die Hälfte gedimmt. Der Spaß schien zu schlafen und neue Kräfte für den nächsten Tag zu sammeln.
Sie konnte die Augen nicht von dem langen Steg nehmen, und bei der Erinnerung an ihre bedrückte Stimmung, während sie mit der Achterbahn gefahren war, kam ihr ein Gedanke: Sie würde nie wieder die Arme in die Luft strecken und aus voller Kehle kreischen. Ihr fehlte dazu das Vertrauen.
Sie musste sich überall anklammern, um nicht erneut so schrecklich zu fallen. Ihr ganzes Leben war ein einziges Festhalten geworden, bis ihre Hände schmerzten und die Fingerknöchel weiß hervortraten.
Sie hatte das Vertrauen verloren, in sich und darin, dass sie auf den Beinen bleiben konnte.
Vor allem aber war in ihr ein tiefes Misstrauen in den Fluss des Lebens, in die Gerechtigkeit und die Möglichkeit, wenigstens für Tage wieder etwas wie Leichtigkeit, Glück und Liebe zu fühlen.
Emma beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie, legte das Gesicht in die Hände und schluchzte. Es war kein befreiendes Weinen, es war ein trockenes, verzweifeltes, fast würgendes Schluchzen, das schmerzte.
Zuerst dachte sie, das Meerwasser wäre hochgespritzt, als sie etwas Kühles auf ihrem Handrücken fühlte. Sie spreizte die Finger und spähte durch.
Vor ihr stand jemand, der sie angefasst hatte.
3
Überfall, war Emmas erster Gedanke. Oder ein Betrunkener, der sie vergewaltigen wollte.
Emma fuhr in die Höhe und trat der Person mit voller Wucht in den Unterleib. Sie hörte ein gequältes Aufstöhnen und sah mit Befriedigung, wie sich die Gestalt vor ihr krümmte.
Der Selbstverteidigungskurs, den sie als 16-Jährige absolviert hatte, machte sich zum ersten Mal bezahlt. Die Bewegungen, Schläge und Tritte zur Abwehr von Angreifern hatte sie damals so viele Male geübt, dass sie in Fleisch und Blut übergegangen waren. Emmas Bein bewegte sich wie durch eine Feder betätigt, ihre Hände fuhren auseinander, und die Handkanten schnellten wie zwei Beile links und rechts gegen den Hals des Mannes, der noch immer vorgebeugt dastand.
Wieder ein Stöhnen, der Angreifer geriet ins Wanken. Sie packte seinen Kopf unter dem Arm und drehte sich, als wollte sie dem Unbekannten das Genick brechen. Er schrie erschrocken auf, und um dem Schmerz zu entkommen, ließ er sich zu Boden fallen.
Genau das war Emmas Ziel gewesen. Es war ein Mann in einer dunklen Jacke und Jeans. Er lag auf dem Bauch, Emma war sofort über ihm, riss seinen linken Arm hoch und verdrehte ihn auf den Rücken. Sie kniete halb über dem Mann und hatte ihn jetzt unter Kontrolle. Wenn er sich bewegte, musste sie nur den Arm leicht nach oben drücken, schon würde er aufgeben.
Schlagartig fühlte sich Emma stark. Sie war über ihre Reaktionsgeschwindigkeit und Kraft selbst überrascht. Zugetraut hätte sie sich nichts davon.
»Polizei!«, rief Emma. Das heißt, sie wollte es rufen, aber die Aufregung schien in ihrer Kehle zu stecken. Sie brachte keinen Ton heraus.
Der Mann bewegte sich und versuchte den Kopf zu heben. Sofort verdrehte Emma seinen Arm fester, worauf er stöhnte und sich wieder sinken ließ. Sie räusperte sich kräftig und holte Luft. Ein neuer Versuch, um nach Hilfe zu rufen.
»Ich tue dir doch nichts. Ich bin Eric, vom Lucky Beach.«
Nein, das konnte jetzt nicht wahr sein. Emma fühlte sich wie in einem schlechten Film. So etwas passierte nur ihr, das war wieder typisch. Der Funke Selbstvertrauen, der aufgeglüht war, erlosch, als wäre eine Welle darüber gerollt. Um ganz sicher zu gehen, beugte sich Emma etwas vor. Der Mann hatte den Kopf zur Seite gedreht, und obwohl sein Gesicht schmerzverzerrt war und nur vom schwachen Mondlicht beleuchtet wurde, konnte sie das frech vorspringende Kinn von Eric erkennen, sowie das tiefe Grübchen, das sie irgendwie sexy fand.
Sie ließ ihn augenblicklich los und sprang von ihm.
»Entschuldigung. Tut mir wirklich leid. Ich… ich wusste nicht, dass du es bist. Ich dachte…«
Ächzend stützte sich Eric auf die Ellbogen und richtete sich langsam auf. Er hielt die Hand in seinen Schritt, als müsste er seine Geschlechtsteile vor Emma schützen.
»Was bist du im normalen Leben? Leibwächterin? Rauswerferin? Auftragskillerin?«
»Nein, nein, es tut mir wirklich leid.« Emma klopfte seine Raulederjacke ab, als könnte dort Sand kleben, den es aber am Kiesstrand von Brighton an dieser Stelle nicht gab.
Eric hustete. Noch immer konnte er nicht aufrecht stehen.
»Wenn ich mit dir keine Kinder mehr bekommen kann, ist das deine Schuld.«
»Kinder? Ich glaube, ich bin nicht talentiert für Kinder.«
»Emma, es war ein Scherz.« Eric blickte sie von unten mit einem sehr gequälten Lächeln an.
»Wieso hast du mich angefasst? Ich dachte, es ist ein Überfall. Jemand will mich vergewaltigen.«
»Hier? Wo es alle sehen können?« Eric schüttelte stumm den Kopf. »Emma, was guckst du für Serien?«
»Aber wieso hast du dich angeschlichen?«
»Habe ich doch nicht. Ich habe dich dreimal gerufen, aber du hast nicht reagiert. Hast du geweint? Es hat nämlich so ausgesehen, und ich wollte nur fragen, was los ist.«
»Ach, lange Geschichte«, sagte Emma ausweichend.
Eric musterte sie nachdenklich, stellte aber keine weitere Frage. Stattdessen sagte er: »Ich habe mein Moped bei den Arkaden geparkt und dich zum Wasser staksen gesehen. Du warst unsicher auf den Beinen.«
»Ich habe mir vorhin den Knöchel angeknackst. Darum hinke ich.«
»Zuerst wollte ich dich in Ruhe lassen, aber dann habe ich noch schnell eine geraucht, und du bist auf einmal eingesunken, als wäre dir übel geworden.«
»Nein, nein, das hat nur so ausgesehen. Unkraut verdirbt nicht«, sagte Emma mit wenig Überzeugung.
Eric konnte endlich wieder gerade stehen. Noch immer aber hatte er die Schultern leicht hochgezogen und sah verkrampft aus.
»Geht es wieder?«, erkundigte sich Emma.
»Wahrscheinlich bin ich dort unten blau.«
»Eric, es tut mir wirklich…«
»Wenn du mich schon brutal niederschlägst, dann spendierst du mir jetzt wenigstens einen Drink.«
»Gut. Einverstanden.«
»Wir nehmen mein Moped und fahren zum Fitzherbert.«
Das Fitzherbert war eine Bar in der Fußgängerzone, nicht weit vom Theater und vom Brighton Dome entfernt, wo Emma eine Ausstellung angesehen hatte. Der Eintritt war frei gewesen, und aus Langeweile war sie hineingegangen. Die Bilder waren alle wilde Farbklecksereien, nicht uninteressant, aber trotzdem hatte sie die Kunst darin nicht ganz sehen können. Das lag aber vielleicht auch an ihr.
»Hast du einen zweiten Helm für mich?«
»Du nimmst meinen. Ich riskiere mein Leben.«
»Das kann ich nicht verantworten.«
»Aber mich krankenhausreif zu prügeln schon?«
»Ich habe im Haus einen Helm. Den hat einer von Nells Gästen einmal vergessen und nie abgeholt. Ich gehe zu Fuß, und du holst mich ab. New Steine. Das Cherry Tree.«