Kitabı oku: «Der Corona-Tote Nr. 9.243»

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Thomas Chius

Der Corona-Tote Nr. 9.243

Facetten einer Pandemie

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

NICHT ALLEINGELASSEN

JEDEM DAS SEINE

EINE KORRIGIERTE ANSICHT

DIE EINE REINE WAHRHEIT

ES IST EIN HOHES GUT

DER FLUCH DER GUTEN TAT

FREI UM FAST JEDEN PREIS

SATIRE

RE-FOKUS

GUT GEMEINT BIS ZUM ENDE

IN EIN ANDERES LAND

EPILOG

Impressum neobooks

Prolog

Der Corona-Tote Nr. 9.243

Facetten einer Pandemie

Thomas Chius

„Mann, das sieht aber lecker aus!“, ruft Gitta begeistert. Claus hat einen riesigen Picknickkorb angeschleppt und breitet nun seine Schätze aus. Er ist als letzter an der vereinbarten Stelle im Park angekommen, da er sich nicht getraut hat, mit dem schweren Korb Fahrrad zu fahren. Tragen wollte er ihn aber auch nicht, und so hat er ihn auf dem Rad so gut es ging festgebunden. Es sind gut eineinhalb Kilometer von ihrer Wohnung zum Treffpunkt, und die hat er nun, das Fahrrad schiebend und den Korb ausbalancierend, ziemlich mühevoll hinter sich gelassen.

„Hier, nimm erst mal einen Schluck, du bist ja krebsrot“, lacht Fryco, und reicht ihm ein Bier rüber, das er allerdings bereits halb ausgetrunken hat.

„Ne, ne, ne; ich möchte schon ´ne neue Flasche“, lehnt Claus freundlich aber bestimmt das Angebot ab.

„Verstehe, noch so ein Angsthase, der denkt, dass er sich so mit Corona ansteckt“, brummt Fryco.

„Nichts für Ungut, das würde ich zwar nicht generell ausschließen wollen“, entgegnet Claus grinsend, „aber mir geht es hier ausschließlich um zwei deutlich wichtigere Aspekte: ich will erstens ein kaltes Bier, da aus der Kühlbox, und ich will zweitens eine ganze und nicht eine halbe Flasche.“

Und damit schnappt er sich sein Fläschchen und lässt sich neben Ula auf den Rasen sinken, nimmt einen tiefen Schluck und streckt sich aus. „Mann, tut das gut!“

„Sag mal, Claus“, Fred hat Gitta geholfen, den Korb zu leeren, und stochert mit einer Gabel missmutig in der großen Salatschüssel herum, „hier gibt es ja gar keine Sauce.“

„Also erstmal heißt das nicht Sauce, sondern Dressing“, verbessert Claus freundlich, „und zweitens mischt man natürlich das Dressing unter den Salat erst ca. 5 Minuten, bevor man ihn isst, sonst wird das Ganze ja ein einziger matschiger Brei“.

„Wieder was gelernt“, freut sich Fred, „und wo ist nun das Dressing?“

„Wenn du mal genau hinschauen würdest, dann würdest du in der vorderen inneren Seitentasche des Korbs fündig werden“, sagt Claus, und ohne die Augen zu öffnen nimmt er noch einen Schluck Bier.

„Hm, ich schau vielleicht nicht genau genug, aber alles, was ich sehe, sind leere Taschen, eine Situation, die ich übrigens aus meinem Alltag zu gut kenne, um mich hier zu irren.“

Mit einem Ruck sitzt Claus senkrecht „Shit, die Flasche mit dem Dressing steht wohl doch noch zuhause im Kühlschrank.“

„Na bravo.“ Harry sieht von seinem Tablet auf, in das er die ganze Zeit etwas hineingetippt hat; er ist der einzige, der eine Maske unterm Kinn trägt; er wolle sie immer griffbereit haben, meinte er einmal auf fragende Blicke seiner Mitbewohner. „Salat ohne Öl und Essig schmeckt scheiße“, stellt er nun fest.

„Ein bisschen gepflegtere Wortwahl, Herr Journalist, wenn ich bitte darf“, weist ihn Fred grinsend zurecht, und fügt hinzu: „Aber wenn du Öl brauchst, ich kann gern so 100 ml aus meiner Enfield ablassen, das verkraftet die“. Dabei wandert sein Blick liebevoll über seine letzte Restaurierungsbemühung; er hatte das Motorrad auf einem Trödel erworben und reichlich viel Zeit im letzten Semester auf die Instandsetzung verwendet, und zwar mit wahrscheinlich besserem Erfolg, wie er einmal sagte, als wenn er stattdessen in dieser Zeit die Hausarbeit geschrieben hätte, der er sich eigentlich so langsam mal hätte widmen sollen.

Gitta verdreht die Augen und verschließt die Salatschüssel wieder. „Den essen wir heute Abend oder morgen. Schließlich haben wir genug andere leckere Sachen“, und damit drückt sie Harry ein Wrap mit Hänchen und Gemüse in die Hand und beißt selbst, immer noch seinen Arm haltend, davon ab.

„Ist genießbar, kannst du essen“, strahlt sie ihn an, und er wirft einen zärtlichen Blick zurück, bevor er sich wieder seinem Tablett widmet und mit vollem Mund und einer Hand den Satz zu Ende schreibt.

Claus greift sich ebenfalls zwei Wraps und bietet Ula eins davon an. Gedankenverloren nimmt sie es und schüttelt den Kopf: „seht euch bloß mal die Mutter mit den beiden Zwergen da drüben an.“

In einiger Entfernung versucht ein Elternpaar, offensichtlich mit gemischtem Erfolg, ihren beiden Kindern das Fahrrad-fahren beizubringen. Die Kleinen machen das schon sehr gut, und radeln, ohne Hilfe zu benötigen, auf die Stelle zu, an der der Weg leicht abschüssig wird. Die Mutter läuft die ganze Zeit neben ihnen her und ruft ununterbrochen, dass sie nicht so schnell fahren sollen, während der Vater langsam hinterher trottet und seinerseits seiner Gattin zuruft, sie sollte die Kinder doch mal ihre Erfahrungen machen lassen. Es kommt, wie es kommen muss: das kleinere der beiden Kinder fällt jetzt hin und beginnt zu schreien. „Siehst du, habe ich es dir nicht gesagt? Du sollst langsam fahren!“, ruft die Mutter außer sich; dann schreit sie ihren Mann an: „Lass sie doch, lass sie doch, so ein Quatsch. Jetzt siehst du, was du angerichtet hast.“ Unterdessen ist der Kleine schon wieder auf sein Rad gestiegen und radelt fix seinem Brüderchen hinterher. „Nicht so schnell!“, ruft die Mutter noch. Der Mann schüttelt den Kopf und geht weiter hinterher.

„Mütter!“, echauffiert sich Ula, „wie kann man nur so gluckig sein! Will sie die kleinen Blagen die ganze Zeit in Watte packen? Die müssen doch ihre Erfahrungen machen.“

„Sehe ich auch so“, meint Fryco grinsend, „wir haben eh zu viele Menschen auf der Erde“.

„Na sag mal“, spielt Gitta die Entrüstete, stößt Fryco in die Seite und tut ganz so, als ob sie seine Worte für bare Münzen nimmt, aber nur um dann sofort ins gleiche Horn zu stoßen: „Wie kannst du nur so etwas sagen, die armen Kleinen. Wenn schon welche abtreten müssen, dann doch wohl eher die alten, die uns doch nur auf der Tasche liegen.“

„Sieh es mal nicht so negativ“, nimmt Fred den Faden auf, „die sorgen immerhin für jede Menge Arbeitsplätze, zum Beispiel in den Pflegeberufen, den Altersheimen und die rüstigen sogar in der Touristikbranche.“

Damit ist die Frotzelei durch und Gitta, nun wieder ernsthaft geworden, hat beschlossen, sich auf die Seite der Mutter zu schlagen: „Also, ich kann die Mutter verstehen. Wenn sich der Kleine da nicht so schnell berappelt und sich vielleicht sogar ernsthaft verletzt hätte, dann wäre er vielleicht aus Angst die nächste Zeit nicht mehr aufs Rad gestiegen, und der Nachmittag wäre für die ganze Familie gelaufen gewesen“.

„Ja, schon“, gibt ihr Fryco recht. „Aber wie soll denn der Kleine lernen, was er sich zutrauen kann und was nicht, wenn das immer die Mutter für ihn entscheidet; und die traut ihm ja offensichtlich wenig zu.“

„Bei der Mutter überwiegt halt die Sorge, dass ihren Kindern etwas passiert, wenn sie ihnen zu viel Freiheiten lässt“, lässt sich Gitta nicht beirren.

„Aber was soll schon groß passieren?“, schaltet sich Ula wieder ein. „Sie können von ihren Rädchen umfallen oder in jemanden hineinfahren; das wär´s aber doch. Und die Gefahr, dass sie sich hierbei ernsthaft weh tun, ist doch ganz gering. Ich erwarte ja nicht, dass die Mutter sie allein über eine breite Straße gehen oder sie durch den kleinen Tümpel da drüben schwimmen lässt. Aber loszulassen ist doch notwendig, damit Kinder lernen, eigenverantwortlich zu handeln.“

„Vielleicht müssen wir erst selbst Kinder haben, um uns in eine Mutter hineinversetzen zu können“, sinniert Gitta, „ich könnte mir vorstellen, dass es mir das Herz zerreißen würde, wenn so einem kleinen Menschen nur deshalb etwas passiert, weil ich die falsche Entscheidung getroffen und zu viel Freiheiten gewährt habe.“

„Das ist jetzt aber sehr theoretisch“, schaltet sich Claus in die Diskussion ein, „man entscheidet doch immer situations-abhängig, und man möchte keinem Kind schaden, und zwar völlig unabhängig davon, in welcher Beziehung man zu ihm steht. Also ist man eher vorsichtig und entscheidet im Zweifel für das Wohl des Kindes und gegen seine Freiheit. Also, ich meine, man versucht, so einem kleinen Erdenbürger zu erklären, dass die Maßnahmen, die man trifft, da sind, um ihn zu beschützen und nicht, um ihn schadend einzuschränken.

Das ist doch ganz normal, wir alle können doch auch nicht jede x-beliebige Entscheidung treffen, wie es uns gefällt. Auch wir müssen uns an Regeln halten, die ja auch zu unserem besten da sind. Ohne Regeln kann eine Gesellschaft nicht funktionieren, und wir befolgen sie, obwohl wir oft gar nicht beurteilen können, warum sie so und nicht anders entwickelt wurden. Da sind wir ganz in der Situation der Kinder, die auch nicht verstehen, warum sie den abschüssigen Weg nicht benutzen dürfen.“

„Na, das ist mal ein schöner Vergleich“, Ula schüttelt mit ironischem Gesichtsausdruck den Kopf. „ich wäre lieber das Kind, dem erlaubt würde, den abschüssigen Weg zu fahren; das kann ein Heidenspaß sein, nicht so langweilig, wie den ebenen Weg zu fahren, meinst du nicht? Dafür würde ich gern schon mal abgeschürfte Knie oder einen verpatzten Nachmittag in Kauf nehmen.“

Claus gibt sich nicht geschlagen: „du meinst also, du möchtest lieber ein paar Regeln brechen, wenn du dabei Spaß hast, auch wenn andere davon negativ betroffen sind.“ Er mag eigentlich nicht gegen Ula argumentieren, findet aber ihre Ansichten nicht zum ersten Mal ein bisschen egoistisch.

Ula schenkt ihm ein reizendes Lächeln und sagt „Ich mag Regeln brechen, die ich als unsinnig empfinde, und ich glaube nicht, dass das Brechen unsinniger Regeln anderen unbedingt schaden muss. Der verpatzte Nachmittag zum Beispiel hätte den Eltern die schöne Erkenntnis beschert, dass ihr Kind sich etwas zutraut, sich glücklich dabei fühlt und auf dem besten Weg ist, sich zu einem selbstbestimmten Menschen zu entwickeln. Das nenne ich einen erfolgreichen Nachmittag trotz blutender Knie.“ Und damit schiebt sie Claus den letzten Happen ihres Wraps in den Mund, der dadurch erstmal außer Gefecht gesetzt ist.

„Also, ich möchte lieber von lauter Menschen umgeben sein, die nie richtig gelernt haben, eigene Entscheidungen zu fallen“, beginnt Fred.

„Du meinst, die immer jemanden brauchen, der ihnen sagt, was sie zu ihrem Besten zu tun und zu lassen haben, und die dann auch alles glauben, was man ihnen so erzählt?“ fragt Fryco ein wenig provokativ.

„Du hast es erfasst“, nickt Fred, „die stellen keine blöden Fragen, und solange man selbst nicht aus der Reihe tanzt, kommt man hervorragend mit ihnen aus. Umgibst du dich dagegen mit Leuten, die eigene Ideen entwickeln, die vielleicht sogar die herrschende Moral und die auf ihr basierenden Regeln in Zweifel ziehen, dann bist du konfrontiert mit endlosen Diskussionen und musst vielleicht sogar selbst denken; und das muss doch nun wirklich nicht sein.“

Gitta verdreht die Augen und während sie ihm zuruft: „Mann, Fred, geht´s auch ein bisschen weniger plakativ ironisch?“ hechtet Fred hinter den nächsten Baum, ist aber nicht schnell genug, um dem Joghurtbecher zu entgehen, den Ula nach ihm geworfen hat.

In der Ferne wirft ihnen besagte Mutter einen miss-billigenden Blick zu. Obwohl der kleine Bursche seinen Sturz nahezu unbeschadet überstanden hat und dieser bei ihm wahrscheinlich schon längst wieder in Vergessenheit geraten ist, so waghalsig wie er versucht hat, seinen Bruder einzuholen, kann die Mutter nicht anders, als ihn doch noch einmal auf den Arm zu nehmen, nachdem sie ihn eingeholt hat. Sie bepustet das leicht aufgeschürfte Knie und kitzelt den kleinen Jungen, der lachend sich windend versucht, sich zu befreien.

„Die jungen Leute da drüben“, sagt sie jetzt zu ihrem Mann, „das ist doch bestimmt nicht nur ein Hausstand. Wie die sich aufführen, keinen Abstand, keine Masken; die trinken doch alle aus der gleichen Flasche. Ich fasse es nicht. Ich kann nicht verstehen, warum da die Polizei nicht stärker durchgreift“, und damit blickt sie sich um, ob sie zufällig eines Polizisten gewahr wird, kann aber keinen erblicken. `Natürlich nicht! Immer, wenn man sie mal braucht, ist keiner da´, denkt sie enttäuscht fährt fort: „Diese Super-Spreader sind schuld, wenn morgen wieder die Schulen und Kindergärten schließen müssen, unverantwortlich ist das. Aber demonstrieren gehen, sich ein schönes Leben machen und unserem Sozialstaat auf der Tasche liegen, das können die, einfach ekelhaft. Heinz, sag du doch auch mal was!“

Doch Heinz hat gedankenverloren einer hübschen Joggerin nachgeblickt und ihr gar nicht richtig zugehört.

NICHT ALLEINGELASSEN

Ach Sie sind´s, Herr Nachbar; tut mir leid, ich hatte Sie gar nicht erkannt. Einen schönen guten Morgen auch. Was kann ich für Sie tun? Wie? Sie kommen wegen der Fahrräder der Kinder und des Lärms bei der Familie über uns? Ich soll was unterschreiben? Ach, kommen Sie doch erst mal herein. Sie müssen entschuldigen, dass ich noch im Morgenmantel bin, aber ich fühle mich nicht besonders. Schon als ich aufgewacht bin heute Morgen, ahnte ich: jetzt hat es mich erwischt. Ich schwitzte fürchterlich, und als ich mich im Bett nur aufsetzte, bekam ich einen Schwindelanfall.

Sofort folgte dann auch wieder dieser Schüttelfrost, den ich schon heute Nacht hatte, als ich mal rausmusste. Mir dröhnt jetzt noch der Kopf, und, nun Sie hören es ja selbst, ich huste, gut, nur ein bisschen, aber trotzdem. Ich lege mich später auch wieder ins Bett, sobald die Svetlana da gewesen ist; die schüttelt mir das Bett immer auf, macht ein bisschen sauber und so weiter.

Möchten Sie vielleicht einen Tee? Svetlana muss gleich da sein, die macht uns einen. Setzen Sie sich vielleicht solange auf den Stuhl da, nein, diesen da drüben, der ist bequemer und da sind Sie auch weit genug von mir entfernt und können Ihre Maske abnehmen. Sie wollen nicht? Dann lassen Sie sie einfach auf, vielleicht haben Sie Recht, ich bin ja sicher sehr ansteckend; da kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Ich ziehe mir keine Maske auf, wenn Sie gestatten, ich bekomme schwer Luft durch diese Dinger und schwitze wahrscheinlich noch mehr als ohnehin schon.

Ach je, Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich in den 72 Jahren, die ich nun auf dem Buckel habe, selten so schlecht gefühlt habe. Ich bin eigentlich nie krank, nur eben gelegentlich eine Erkältung oder eine Grippe. Eine Erkältung habe ich sicher nicht, denn ich habe keinen Schnupfen. Früher hätte ich es sicher für eine Grippe gehalten. Auch gut, oder eher, auch schlecht. Und dagegen hat immer eine Aspirintablette mit Vitamin C geholfen oder auch ein paar mehr.

Das kennen Sie bestimmt: die löst man in einem Glas Wasser auf, es sprudelt, und man trinkt das Zeug in einem Zug weg. Bei Grippe wirkt das super, morgens eine und mittags noch mal eine; dann geht es einem schon am Nachmittag deutlich besser und die folgende Nacht kann man schon wieder durchschlafen; noch ein, zwei Tage und das Fieber ist weg, und man fühlte sich wieder einigermaßen auf dem Damm.

Also das, was ich jetzt habe, fühlt sich zwar genau wie Grippe an, aber die gibt es ja zurzeit nicht, glaube ich, ist ja gar nicht die Jahreszeit dafür; also muss es wohl Corona sein. Ich habe mich vielleicht bei Harry angesteckt, der war wegen des Begräbnisses vor kurzem hier. Schließlich wurde ja nicht nur sein Vater, sondern auch er positiv getestet. Komischerweise traf es weder die Frau von meinem Bruder noch seine anderen Kinder, und auch das Dienstpersonal nicht.

Hm, gegen Corona hilft wahrscheinlich kein Aspirin; das brauche ich gar nicht erst auszuprobieren. Aber sagen Sie mal, war da nicht was mit Zink? Und Vitamin D? Ich habe da mal was gelesen, oder lief das im Fernsehen? Wenn die Svetlana später kommt, muss ich ihr sagen, dass sie mir das besorgt.

Was meinen Sie, das bekomme ich doch ohne Rezept, oder? Na, ich glaube schon. Und wenn nicht? Dann muss ich wohl doch zum Arzt. Erst natürlich anrufen und um einen Termin bitten; da kann man ja jetzt nicht mehr einfach so hin, ist ja klar, die wollen sich nicht alle anstecken. Wäre ja auch blöd, wenn sich der Albers, das ist mein Arzt, also mein Hausarzt, wenn der sich bei mir anstecken würde, und seine Arzthelferin auch; wie heißt sie noch mal, das ist so eine kleine rundliche, ein bisschen so, wie meine Svetlana. Ach, na ja, ist ja auch egal.

Vielleicht hat diese Ansteckerei ja auch etwas Gutes, und ich brauche da gar nicht hin. Und überhaupt, so wie ich mich fühle, kann ich sowieso nicht länger aufbleiben, also in gar keinem Fall kann ich das Haus verlassen. Ich sage dem Dr. Albers am Telefon meine Symptome, also, dass ich das Virus habe und dass er mir das Zink und das Vitamin D verschreiben soll. Und dann kann die Svetlana das Rezept abholen, zur Apotheke gehen und mir die Sachen vorbeibringen, bevor sie zu ihrem nächsten Fall muss.

Na ja, Fall; gut, dass sie das jetzt nicht gehört hat. Sie betitelt uns nämlich nicht als Fälle, sie spricht von uns als ihren Kunden, da versteht sie auch keinen Spaß. Aber ich habe einmal ihre Formulare gesehen, die sie immer bei jedem ausfüllen muss, und da steht was von Fällen. Na ja, ob da Fälle oder Kunden draufsteht, das macht für mich keinen Unterschied; bei Svetlana fühlt man sich wie ein Kunde, und zwar wie ein sehr guter Kunde.

Hoffentlich hat sie überhaupt Zeit, die Sachen abzuholen. Erst zum Arzt, dann zur Apotheke und wieder hierher, das dauert ja schon ein bisschen. Ach, könnten Sie das vielleicht für mich tun, also wenn die Svetlana keine Zeit hat? Nein, Sie würden gern helfen, haben aber leider Termine? Das verstehe ich, war ja auch nur so ein Gedanke; die Svetlana macht das schon, bestimmt.

Ich sage ihr einfach, sie braucht heute nichts zu putzen, ich bleibe ja im Bett, da kann das Wohnzimmer auch mal ein paar Tage warten, bis wieder Staub gewischt wird. Dann braucht sie nur das Essen auf den Herd zu stellen, einfach auf Stufe 1 zum Anwärmen und dann kann sie gleich los; das müsste gehen, also zeitlich meine ich.

Ich habe gehört, dass man nichts mehr riechen und schmecken können soll, wenn man Corona hat; also das wäre ja auch mal eine interessante Erfahrung, meinen Sie nicht? Doch, das muss ich gleich mal ausprobieren. Sobald die Svetlana da ist, sage ich ihr, dass sie mir nicht sagen soll, was es heute gibt. Sie soll das Essen einfach auf den Herd stellen und ihn anmachen. Ich werde dann nach ein paar Minuten in die Küche gehen und mal schauen, ob ich etwas rieche. Und dann stecke ich mir bei geschlossenen Augen einen Löffel in den Mund und versuche zu erraten, was es ist. Das wird ein Spaß.

Allerdings, wenn ich es recht überlege, wird das gar keine einfache Sache werden, fürchte ich. Es ist ja schon nicht einfach zu erraten, was sie so kocht, wenn der Geschmackssinn voll funktionstüchtig ist. Also schmecken tut es bei ihr immer; das kann ich Ihnen sagen. Nur, was sie kocht, das weiß man eben nicht. Klar, wenn man sie fragt, dann sagt sie einem den Namen, aber es sind Gerichte aus ihrer Heimat, und diese fremd-ländischen Namen sagen einem ja nichts, die vergesse ich auch sofort wieder.

Tja, die Svetlana. Moment, kommt sie heute überhaupt? War da nicht was mit einem Arzt? Aber warum musste sie nochmal zum Arzt? Was haben wir heute für einen Tag? Dienstag? Nein, Mittwoch; also, normalerweise kommt sie da. Wie komme ich darauf, dass sie zum Arzt muss? Hatte sie selbst was vom Arzt gesagt? Nein, ich glaube nicht. Wenn sie zum Arzt muss, dann könnte sie mir ja meine … ach Quatsch, ich Dämlack.

Ich wollte sie doch selbst zum Arzt schicken. Junge Junge, jetzt bloß nicht tüdelig werden auf deine alten Tage. Bloß nicht tüdelig werden, das war immer die größte Sorge von meinem Bruder Jercy. Alt und dabei tüdelig werden, so dass er nichts mehr mitbekommt und den anderen nur zur Last fällt, das wollte er nie; na ja, wer sollte das auch schon wollen; aber so ein Ende wie jetzt, das hat er sicher auch nicht gewollt.

Sie haben meinen Bruder nicht gekannt, nicht wahr? Er war ja selten hier. Ich glaube, seit Sie hier eingezogen sind, überhaupt nicht mehr. Er war fast 5 Jahre älter als ich und immer viel robuster, schon als wir noch Jungs waren; ich habe alle Kinderkrankheiten durchgemacht, er hatte lediglich die Masern, oder waren es die Windpocken? Ich weiß es nicht mehr so genau.

Auch im Sport war er besser, auf der Uni im Ruderclub, und Zehnkampf hat er auch gemacht. Das ist allerdings schon lange her. Aber er war auch eigentlich später immer gesund, hat sich nicht mal mit `ner Grippe bei einem seiner vier Kinder oder bei einem seiner wer weiß wie vielen Enkeln angesteckt. Tja, und nun ist er tot, und alles wegen Corona.

Die reden ja immer von Vorschädigungen. Seine Familie wusste nicht, ob er da irgendwas gehabt hat. Er hat nicht mal geraucht; also als Jugendlicher natürlich schon, das haben wir doch alle, aber als dann die Kinder kamen, eins nach dem anderen, da hat er das aufgegeben, wohl auch Bärbel wegen, also das ist, das war seine Frau. Die hat sich früher immer schon beschwert. Ha, ganz früher, also in der Clique, da hat sie immer gescherzt, seine Küsse schmeckten nach einem halbvollen Aschenbecher, in den es hineingeregnet hätte. Aber das war ja nur Spaß.

Später dann kamen schon mal Vorwürfe wegen der gelben Gardinen, und natürlich wegen der Kinder. Das war dann schon nicht mehr unbedingt spaßig gemeint, aber gestritten haben sie nie wirklich über so was. Hauptsächlich hat er es wohl aufge-geben, weil Rauchen einfach aus der Mode gekommen ist; draußen auf dem Balkon stehen oder unten vor dem Klinik-eingang, das war ganz und gar nicht sein Ding; das hätte er nie gemacht. Und dasselbe mit dem Trinken. Als Student natürlich ordentlich, aber später als Arzt? Ein paar Bierchen samstags bei der Sportschau, das wars so ziemlich.

Eigentlich habe ich ihn immer beneidet. Ich bin nicht verheiratet, aber das wissen Sie ja wahrscheinlich schon. Also schon mal keine Familie; na gut, ich bin Patenonkel von Harry, also seinem Jüngsten, ein Nachzügler; der ist übrigens auch noch nicht verheiratet. Die Patenonkel seiner älteren Geschwister waren Kollegen von Jercy, also auch Doktoren oder Professoren an seiner Klinik.

Das war überhaupt sein gesellschaftliches Umfeld, PPP hat er immer im Scherz gesagt: Professoren, Politiker, Promis. Mich hat er nie spüren lassen, dass ich nicht dazugehöre; na ja, das spürt man natürlich auch ganz automatisch von allein, ist ja eine ganz andere Welt. Aber bei einigen seiner Feiern war ich trotzdem dabei. Eingeladen hat er mich viel öfter; aber mir war es unangenehm, wenn man so gefragt wurde, was man denn so mache und ich sagen musste, dass ich in einer Spedition für die Bearbeitung von Reklamationen zuständig sei. Ah, das sei aber interessant, und ob es da auch um Millionenschäden ginge. Nein, ging es nicht, nur ein paar Tausender, wenn es hochkam. Die dachten wohl, ich manage verlorene Schiffsladungen, aber ich kümmerte mich um auf der Fahrt vergammelte Butter, also wenn da mal die Kühlung ausgefallen war. In der Regel ging es eh um unpünktliche Lieferungen. Und das war dann natürlich als Party-Gespräch nicht so der Kracher.

Bei seiner Familie fühle ich mich aber immer wohl; in seinem riesigen Haus, liebevoll von Bärbel eingerichtet und in Schuss gehalten. Er war überhaupt ein richtiger Familienmensch. Das war ihm wichtig, und dafür hat er sich auch immer Zeit genommen. Er hat seine Kinder rumkutschiert als sie noch klein waren, zur Musikschule, zum Reiten oder zum Fußball; selbst in der Schule ist er mal Elternsprecher gewesen; ja, ich glaube, so hieß das. Hat er mir stolz von erzählt, wie er mal mitgeholfen hat, dass die Schule eine bessere Mensa bekommen hat.

Und später dann, als seine Kleinen geheiratet haben, da hätten Sie ihn mal sehen sollen. Stolz wie Oskar hat er alles ausgerichtet; selbst bei seinen Söhnen, obwohl er das doch nur bei seiner Tochter gemusst hätte; aber da kannte er nichts. Riesenfeste waren das; und das ging so weiter, als sein ältester Enkel Kommunion feierte, oder war es Konfirmation? Ich weiß nicht mehr so genau, aber für die Kleinen war er auch immer da. Familienmensch eben.

Ganz anders bei mir. Natürlich hatte ich Freundinnen, sogar bis vor gar nicht so langer Zeit noch; klar, da war schon auch was Ernstes darunter, aber letztlich habe ich nie geheiratet, und ich habe auch keine Kinder. Gefühlt wohne ich immer schon in dieser Wohnung hier. Sie ist nicht übermäßig groß, wie Sie ja sehen, also außer der Küche gibt es das Wohnzimmer und zwei kleine Zimmer, eins ist das Schlafzimmer und das andere nutze ich als Arbeitszimmer.

Eigentlich sollte man es eher als Lesezimmer bezeichnen. Die Wände bestehen praktisch nur aus Bücherregalen, ein paar Sessel, ein kleiner Tisch und als Krönung hat es einen Kamin. Alles sehr schön, mit den hohen Decken, dem Stuck und dem kleinen Balkon; dazu der Blick auf den Park. Na ja, und Sie merken ja selbst, wie ruhig es hier ist. Früher wäre ich trotzdem gern mal in eine schönere Gegend umgezogen.

Da sah das hier nämlich noch nicht so schnieke aus; viel verwahrloster; da waren viele Häuser ziemlich herunter-gekommen, es war ausgesprochen dreckig auf den Straßen rings rum hier, und komischerweise auch lauter; wohl wegen der Kneipen und der Leute, die sich hier so rumgetrieben haben. Aber letztlich bin ich hier hängen geblieben. Und das war im Rückblick ja auch gut so.

Heute sehen Sie hier keine verfallenen Häuser mehr, nicht wahr? Alles im Umkreis hier wurde aufgepäppelt, modernisiert und aufgehübscht. Jetzt wohnen hier wohlhabende Familien mit großen Autos und hohen Ansprüchen. Die Mieten sind hier mittlerweile durch die Decke gegangen, und ich kann froh sein, dass Jercy damals die Wohnung gekauft hat und mich hier für kleines Geld wohnen lässt. Bin mal gespannt, ob sich das jetzt eigentlich ändert, jetzt, wo er tot ist. Ob Bärbel mir die Miete anhebt oder mich sogar rausschmeißt? Nein, das macht sie nicht, sie ist ja mindestens eine so gute Seele wie mein Bruder, also wie mein Bruder gewesen ist.

Er war immer schon großzügig, ein wahrer Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, kann ich Ihnen sagen; erstklassige Manieren, immer gepflegt, und was seine Kleidung anbetraf, nur das Beste. Ich kann das beurteilen; schließlich hat er mir so manches gute Stück vermacht, wenn er sich etwas Neues kaufen wollte und Bärbel ihn vor die Wahl gestellt hatte: entweder nichts Neues oder was Altes weg. Und Sie müssen nicht glauben, dass die Sachen abgetragen waren, die sahen aus wie neu, und so fühlten sie sich auch an.

Leider hat er später dann schon einiges an Gewicht zugelegt, und irgendwann waren mir die Sachen zu groß und viel Geld, sie umzuarbeiten, wollte ich nicht ausgeben. Das lohnt sich doch nicht. Einmal habe ich eine seiner Flanellhosen umnähen lassen. Flanell mit Kaschmir, so was von weich und angenehm zu tragen. Aber für das Geld hätte ich mir zwei oder drei neue Hosen kaufen können, also von der Qualität, die ich mir normalerweise leiste.

Ich werde ihn sehr vermissen. Wann war ich eigentlich das letzte Mal mit ihm allein zusammen? Das muss bei unserem Segeltörn in den Schären gewesen sein. Darum hat er mich immer beneidet, wissen Sie, um das Segeln. Klar, er ist feudal in schicken Resorts am Meer oder in den Bergen in irgendwelchen Ländern abgestiegen, mit Kindervollverpflegung und allem Drum und Dran, aber manchmal waren wir auch zusammen segeln, nur wir beide und das war immer etwas Besonderes für ihn, also sagte er, nicht ich.

Beim letzten Mal haben wir Sternschnuppen bewundert. Da waren wir ganz allein mitten in der Ostsee auf dem Weg nach Rügen und kein Land in Sicht. Wir haben am späten Abend bei einem Gläschen auf dem Deck gelegen und in den Sternen erleuchteten Nachthimmel geschaut. Das war aber auch ein atemberaubender Anblick, ist es immer wieder. Man muss Neumond haben und sich mitten auf dem Wasser befinden, also komplett ohne diese Lichtverschmutzung, wie das genannt wird. Hm, komischer Ausdruck, trifft es aber genau. Jedenfalls bekommt man eine Ahnung von der Großartigkeit der Welt und wie man sich selbst als kleiner Erdenmensch da einordnen sollte.

Tja und damals hat er mir gesagt, ich wisse gar nicht, wie gut ich es hätte, solche Unternehmungen praktische jedes Jahr machen zu können, während er immer in Abhängigkeiten gefangen sei, durch die Familie, den Beruf und so weiter. Mich hat das gewundert, weil er doch so ein Familienmensch war; das habe ich ihm dann auch gesagt.

Und das hat er auch nicht abgestritten. Also das wolle er auf gar keinen Fall missen, seine Familie und alles andere auch nicht, aber man könne eben nicht beides haben, und das sei doch eigentlich schade. Aber dann hat er auch gesagt, dass das eigentlich auch richtig sei. Alles hätte eben seine zwei Seiten. Und so blieben die Segeltrips mit mir für ihn etwas Besonderes.

Im gleichen Jahr hat er seinen 75igsten Geburtstag gefeiert, und ich kann Ihnen sagen, das war eine Feier mit genau 75 Personen, und da hat er inmitten all dieser Menschen genauso glücklich gewirkt, wie damals ganz allein auf meinem Boot.

Ich habe meinen siebzigsten Geburtstag im gleichen Jahr allein gefeiert, und feiern ist da eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Jercy wollte etwas für mich ausrichten, aber Rike hatte sich gerade von mir getrennt. Rike, Sie erinnern sich, mit der hatten Sie sich auch ein paarmal unterhalten. Eigentlich hatten wir, also Rike und ich, vor, auf der Müritzer Seenplatte herum zu schippern. Wissen Sie, ich habe am 3. September Geburtstag, das ist eigentlich ideal für so eine Fahrt. Wir haben sogar noch zusammen das Schiff ausgesucht, das wir chartern wollten, und dann, quasi von jetzt auf gleich, hat sie mir erzählt, dass sie einen anderen hätte und deshalb doch nicht mitkommen könne. Jedenfalls als ich von meinem Trip wiederkam, da waren ihre paar Sachen, die sie bei mir hatte, weg und der Schlüssel lag auf dem Tisch; nicht mal ein Abschiedsgruß. Das war schon ganz schön trostlos.

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