Kitabı oku: «Im Schatten der Hundstage», sayfa 3
Galt das Augenmerk in den ersten Jahrzehnten nahezu ausschließlich den Patienten, die in einer „für sie gestalteten Welt“ lernen sollten mit ihrer Krankheit zu leben (oftmals über viele Jahre bis zum Tod), so führten zunehmender Mangel an finanziellen Mitteln, an Fachpersonal, vor allem aber der medizinische Fortschritt, sich ändernde Behandlungsideologien und die Entwicklung von Psychopharmaka dazu, dass diese „geschlossenen Institutionen“ zu reinen und oftmals überfüllten Verwahranstalten verkamen.
Hinter nach außen weiterhin prachtvoll wirkenden Fassaden lebten Gewalt, Vernachlässigung und Gleichgültigkeit, und die Mittel der Wahl waren Sedierung und Verschluss (auch in Deutschland wurden beispielsweise erst in den siebziger Jahren Lobotomien eingestellt).
Heute stehen die meisten dieser Heilanstalten leer, werden, soweit das überhaupt möglich ist ganz oder teilweise in anderer Funktion genutzt, vermietet oder aber abgerissen. Es war sicherlich nicht die Regel, aber es ist vorgekommen, dass Patienten entlassen wurden und sich Jahre später, nachdem sie in der „realen Welt“ straffällig geworden waren, in derselben Einrichtung wiederfanden, die mittlerweile zu einer Strafanstalt umgebaut war.
Das Pilgrim State Hospital in seiner ursprünglichen Form existiert heute nicht mehr. Das Land wurde im Jahr 2002 für einundzwanzig Millionen Dollar an einen Geschäftsmann verkauft. Viele der ehemaligen Gebäude sind abgerissen. Andere sehen ihrem Abriss mit zugemauerten Fenstern entgegen.
IM SCHATTEN DER HUNDSTAGE
Selma Leitner
Ferdinand blickte von seinem Buch auf. Vor einer Stunde hatte er den kleinen Ledersessel ein wenig weiter in das Zimmer gerückt. Dort, wo er eigentlich immer stand, lag das Sonnenlicht jetzt gleißend hell auf dem Couchtisch und wärmte den Stapel Bücher und Zeitungen in deren Schatten er das Glas Wasser gerückt hatte, damit es noch eine Weile genießbar blieb und Erfrischung spendete. Aber inzwischen war es selbst im Schatten so warm geworden, dass er das Glas einfach dort stehen gelassen und sich die angebrochene Flasche neben den Sessel gestellt hatte. Hier in seinem Zimmer, wenn er allein war, trank er schon einmal aus der Flasche. Ließ das Glas im Schrank. Jedes Mal, wenn er dies tat, überkam ihn dieses eigenartige Gefühl, dieser winzige Schauer aus lausbübischer, ungestümer Freude und peinlichem Schamgefühl. Und jedes Mal verband dieser Moment für Sekunden das Gestern mit dem Heute. Malte zwei in sich verschwimmende Bilder, den jungen Mann, der im Hochsommer mit nacktem Oberkörper auf dem Balkon der Studentenwohnung stand und die Flasche Limonade beinahe in einem Zug leerte und den grauhaarigen Alten, der bei dieser Hitze in Anzughose und Unterhemd in seinem Zimmer saß und verschämt zum offenen Fenster schaute, ob ihn vielleicht nicht doch jemand gesehen hatte. In genau dem Augenblick in dem ihm das Wasser am Kinn heruntergelaufen und auf seine Hose getropft war.
In seinem Alter trank man nicht mehr aus der Flasche.
Man zitterte zu oft. Schlabberte und bekleckerte sich vielleicht. Man benutzte ein Glas, auch wenn man es hinterher spülen musste. Auch, wenn man selbstverständlich wusste, dass hier oben, im zweiten Stock niemand hereinschauen würde. Außer den gelegentlich vorbei huschenden Amseln und Schwalben, die es heute allerdings vorgezogen zu haben schienen unter irgendwelchen Dächern oder auf irgendwelchen Bäumen im Schatten der Blätter den Tag zu verdösen. In der Ferne ratterte leise ein Traktor über die Felder. Anton Moosbach hatte sich noch nie um irgendwelches Wetter geschert. Er arbeitete, weil der Hof es vorschrieb. Wintertags oft ohne Jacke und Handschuhe und im Sommer meist nur mit einer kurzen Hose und seinen schweren Arbeitsschuhen bekleidet. Seine Haut schien aus Leder zu sein. Altes, hartes, rissiges, tiefbraunes Leder.
Die heiße Luft lag dort draußen wie auf die Welt gegossen und dann erstarrt. Sie schien diesen heißen Sommertag nicht mehr aus ihren Krallen entlassen zu wollen.
Er stand auf, ging die Schritte zum Couchtisch, nahm das Glas hoch und leerte das lauwarme Wasser in die Spüle der Küchenzeile. Dann ging er zu seinem Sessel zurück, hob die Flasche hoch und goss das Glas halbvoll. Eine Weile stand er schweigend im Zimmer, hielt das Glas in der Hand und horchte in sich hinein. Warum war die Zufriedenheit, mit der er heute Morgen aufgewacht war, noch nicht wieder völlig zurückgekehrt? Es fehlte etwas. Er leerte das Glas in einem Zug. Wahrscheinlich war es einfach nur zu heiß. Er setzte sich zurück in den Sessel, nahm das Buch von der Lehne und schlug es auf, wo der Faden lag. Er hatte es heute Morgen wieder entdeckt. Es war ihm fast in die Hände gefallen, als er wahllos am Bücherregal vorbeischlenderte, das ein oder andere Buch herausnahm und überlegte, welches er sich noch einmal vornehmen könnte. Gertrude Stein, Three Lives. Eine englische Ausgabe, die noch aus der Zeit vor seiner Pensionierung stammte, als er noch jeden Wochentag mit dem Bus in die Stadt gefahren war, um seinen Schülern anständiges Englisch und außergewöhnliche Lektüre nahe zu bringen. Morgens um sieben Uhr fünfunddreißig Minuten hin und nachmittags um halb drei fünfunddreißig Minuten zurück. Tagein, tagaus. Guten Morgen, Herr Wengler! Auf Wiedersehen, Herr Wengler! Grüß Gott, Herr Wengler! Er hatte dieses Leben geliebt. Seine Schüler. Die Fahrten. Die Schule. Den Unterricht. Der Bus fuhr heute noch. Dreimal täglich. Außer an den Wochenenden und Feiertagen.
Wildes Gebell und Geschrei zerrissen die sommerliche Stille, und Ferdinand musste unwillkürlich lächeln. Ach, Josef! Lass doch den armen Hund in Ruhe, dachte er und überlegte kurz, ob er aufstehen und sich das irrwitzige Schauspiel vom Fenster aus ansehen sollte. Warum hasst du diesen harmlosen Köter nur so? Er entschied sich, sitzen zu bleiben.
Er hatte das alles oft genug mitbekommen. Anton Moosbachs Promenadenmischung streunte jeden Tag durch das Dorf und die Gegend. Anton und seine Frau ließen den Hund einfach seine unergründlichen Wege ziehen. Zeit, sich um ihn zu kümmern, hätten sie sowieso nicht gehabt. Sie wussten, dass der arme Kerl jeden Abend nach seinen ausgiebigen Streifzügen wieder auf den Hof zurückgetrottet kam, um seinen Fressnapf zu plündern und sich für die Nacht in seine Hütte zu verkriechen. Die meisten im Dorf beachteten das Tier kaum noch. Nur der junge Gruber schien den Hund zu hassen. Offensichtlich hatte er panische Angst um seine Brote und Brötchen. Es war immer das gleiche Spiel. Das schwarze Wollknäuel schlich sich vorsichtig heran, stellte sich in die offene Türe, bellte zwei, dreimal, und wenn Gruber in der Nähe war, folgte dieser perfiden tierischen Einleitung jedes Mal das Geschrei und Gezeter seiner Bäckerstimme, bis der massige, weißgekleidete Körper des Mannes selber unter der Türe auftauchte, um dem davonrasenden Mischling mit hochrotem Kopf ein paar deftige Flüche hinterher zu schicken. Nur im Winter, wenn die Ladentür meistens geschlossen blieb, fand dieses verrückte Theaterstück seltener statt.
Ferdinand überlegte kurz und schüttelte den Kopf. In all den Jahren hatten Gruber, sein Vater und die Moosbachs kein einziges Mal Streit deswegen bekommen. Man grüßte sich auf der Straße, wechselte sonntags ein paar Worte nach der Messe oder traf sich zufällig abends in der Blautanne.
Ferdinand widmete sich wieder seinem Buch. Melanctha. Er erinnerte sich. Oh ja, er erinnerte sich. Die meisten seiner Schüler hatten mit der Geschichte damals nichts anfangen können. Vielleicht hatte er die falsche Wahl getroffen. Vielleicht war Gertrude Steins Stil zu schreiben eine Überforderung für die Jugendlichen gewesen. Er schlug den Anfang noch einmal auf und suchte mit dem Zeigefinger die Seite ab. Er begann erneut zu zweifeln, ob diese Lektüre etwas war, dass er ihr zukommen lassen könnte. Er legte das Buch beiseite.
Der Bleistift besaß Härte 4B. Der Zettelblock und das Schreibgerät lagen dort, wo sie immer lagen. Eigentlich war es für ihn mehr als nur ein Schreibgerät. Er mochte die dicken, weichen und tiefschwarzen Linien, die aus den Wörtern beinahe kleine kunstvolle Skizzen machten. Er ging zum Küchentisch, riss einen Zettel vom Block und kehrte zu seinem Sessel zurück.
Ein halbes Pfund Butter, eine Dose Blutwurst, ein Glas Gurken, Zwiebeln, ein Zweig Tomaten, ein Pfund Zucker (wieder das alte Zeichen für Pfund), zwei Flaschen Bier, neues Wasser, ein kleines Paket Toilettenpapier. Ferdinand überlegte. Der Senf ging zur neige, und, ja – eine kleine Packung Schwarzbrot. Er würde nicht auf die andere Straßenseite zu Gruber gehen, um Brot zu kaufen. Das Schwarzbrot reichte ihm völlig aus. Und es freute ihn, dass er es bei ihr kaufen konnte. Er blickte auf den sonnenüberfluteten Boden. Als der alte Gruber damals ernsthaft erkrankt war, hatte sie im Stillen gehofft, dass er die Bäckerei aufgeben würde. Bis dahin hatte sie auch immer ein wenig Brot im Angebot. Manchmal waren es zwei-, drei Laibe, die sie selber gebacken hatte. Aber als Grubers Sohn die Bäckerei übernahm und von Grund auf renovierte, den Tresen erweiterte, hatte sie das mit den Backwaren gelassen. Er stand auf und holte den gefalteten Stoffbeutel aus der Schublade. Dann zog er sich ein frisches Hemd an, band sich eine Krawatte um und öffnete die Zimmertüre. Einen Augenblick hielt er die Klinke gedrückt und überlegte, ob er etwas vergessen hatte. Vielleicht sollte er bei solchen Temperaturen noch eine Flasche Saft mitnehmen. Außerdem fiel ihm in diesem Moment ein, dass er heute Morgen kaum noch Milch im Kühlschrank vorgefunden hatte. Das merke ich mir so, dachte er und steckte den Einkaufszettel in seine Geldbörse. Morgen würde er nicht einkaufen gehen. Morgen würde er auf den Friedhof gehen. Er war noch nie am selben Tag einkaufen und auf den Friedhof gegangen.
Leise schloss er die Wohnungstür und ging die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Die Türglocke rasselte, und die kleine Reisdorf schoss mit einer vollen Plastiktüte aus dem Laden, nuschelte ihm ein Grüß Gott entgegen und verschwand auf der Straße. Die Reisdorfs wohnten oben gegenüber der Kirche. Der Vater war Busfahrer. Manchmal hatte er sich damals ganz nach vorne auf den ersten Sitz hinter ihn gesetzt, und sie hatten während der Fahrt in die Stadt ein paar Worte gewechselt. Und wenn Heinz Reisdorf keine Schicht hatte, saß er am Fenster in der Reihe ganz am Ende. Es waren seine beiden Stammplätze, und er mochte das Geschaukel und Geholper während die Landschaft an ihm vorbei zog.
Anna und Ferdinand Wengler hatten in der Dorfstraße 2 gewohnt. Es war das zweite Haus nach dem Ortsschild gewesen. Anna servierte in der Blautanne und half Lorenz Keller manchmal bei der Buchhaltung. Sie hatte seinerzeit darauf bestanden, dass diese kleinen Dienste nicht entlohnt wurden. Dafür gingen sie und ihr Mann zweimal im Monat abends in Kellers Restaurant und speisten ohne etwas dafür zahlen zu müssen. Nach Annas Tod empfand Ferdinand die Wohnung mit jedem Tag größer, stiller, kälter und unheimlicher. An einem Herbsttag, zwei Jahre nach ihrem Begräbnis war er in das Zimmer über Selma Leitners Lebensmittelgeschäft gezogen. Ein Zimmer mit zwei Fenstern zur Straße und einem kleinen Badezimmer zum Hinterhof hinaus. Die Behausungen werden immer kleiner, hatte er Selma Leitner einmal bei einem seiner Einkäufe gesagt, bis nur noch eine Kiste übrig bleibt. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt und ihn mit einem freundlichen Lächeln gemaßregelt. Ein Mann wie Sie sollte sich nicht solchen düsteren Gedanken hingeben, hatte sie geantwortet.
„Grüß Gott, Ferdl. Wie geht es Ihnen heute? Meine Güte! Diese Hundstage sind wirklich nichts für mich.“ Selma Leitner stand hinter ihrer Theke und wedelte sich mit der Hand ein wenig Luft ins Gesicht.
„Waren Sie im Wald spazieren? Dort ist es sicherlich wesentlich angenehmer. Es tut mir wirklich leid, Ferdl, wenn es bei Ihnen oben kaum auszuhalten ist. Das Dach ist immer noch nicht isoliert. Wenn Sie es nicht für aufdringlich halten, frage ich nachher einmal bei Maria nach, ob sie Ventilatoren führt. Sie soll mir einen für Sie leihen. Was meinen Sie?“
Maria Steinhaus und ihrem Mann gehörte der kleine Haushaltswarenladen in der Feldraingasse, und Ferdinand dachte, wenn es dort jemals Ventilatoren gegeben hatte, waren sie dieser Tage mit Sicherheit ausverkauft.
„Bitte, machen Sie sich keine Mühe, Selma. Es hat alles seine Ordnung, und so warm ist es oben eigentlich gar nicht.“ Er zog den Einkaufszettel aus seiner Börse und legte in ihr auf den Tresen. Er wusste, dass er ihr die Dinge auch hätte aufsagen können. Aber sie wollte es so. Und es hatte ihm von Anfang an gefallen. Sie machte immer eine nette Bemerkung zu seiner schönen Schrift, zu den gezirkelten, schwarzen Wörtern, die fast etwas von japanischer Kaligraphie hatten.
„Nein, ich war nicht oben im Wald. Vielleicht mache ich später aber noch einen Abendspaziergang“, schob er die Antwort auf ihre Frage nach, während sie seinen Zettel studierte.
„Butter, Blutwurst, Gurken, Zwiebeln“, las sie vor und begann an den Holzregalen entlangzuwandern.
Heute trug sie einen blauen Rock, eine weiße Bluse mit einem gestickten Kragen, die er an ihr noch nie gesehen hatte und ihren weißen Kittel. Ihre Wangen waren noch rosiger als an anderen Tagen und glänzten ein wenig. Sie schnippte sich eine graue Locke aus der Stirn und sammelte Ferdinands Bestellung ein.
„Ich habe Ihren Ratschlag befolgt und mir das Buch gekauft. Ich bin noch nicht dazu gekommen es zu lesen. Aber ich verspreche Ihnen, ich werde Ihnen sofort sagen, wie es mir gefallen hat. Und ich bin sicher, es wird mir gefallen. Ihre Empfehlungen waren immer äußerst anregend und unterhaltsam!“
Ferdinand überlegte einen Moment. Er hatte ihr vor längerer Zeit einmal Sense and Sensibility empfohlen. Er wusste, dass sie gerne las und sie wusste, dass er Bücher verschlang. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, so etwas könnte ihr gefallen. Er hätte ihr auch Annas Exemplar leihen können, das bei ihm im Regal stand. Aber irgendetwas hatte ihn davon abgehalten. Und natürlich hatte er Selma zu einer deutschen Ausgabe geraten. Verstand und Gefühl, meinte er zu ihr. „Miss Marianne Dashwood! Eine bemerkenswerte Romanfigur. Man könnte fast sagen: der zweite Teil des Titels“, und im nächsten Augenblick war ihm seine direkte und vieldeutige Bemerkung peinlich gewesen, und er hatte schnell hinzugefügt: „Meine Frau und ich fanden das Buch damals sehr unterhaltsam.“
Selma stapelte ihm die Einkäufe in seinen Beutel, den er ihr offen auf die Theke hielt und begann dann Zahlen in die Registrierkasse zu drücken.
„Einundzwanzig zwanzig. Sagen wir zwanzig.“
Er schüttelte schweigend den Kopf und lächelte sie verlegen an.
„Ach, Selma! Sie beschämen mich wieder. Ich möchte das nicht.“ Aber er wusste, dass sein Widerstand zwecklos war. Sie machte es immer so. Es war wie ein Ritual. Ein Spiel, das sie gerne zu spielen schien und das er so zu schätzten gelernt hatte. Sie hatte immer abgerundet.
„Ferdl! Nun gönnen Sie einer alten Frau doch ihren Spaß.“ Er nahm den Beutel und verabschiedete sich.
„Und wenn ich den Ventilator bekommen sollte, gebe ich Ihnen bescheid. In Ordnung?“, rief sie ihm nach, als er durch die Ladentüre verschwand und die Treppe hinaufstieg. Diese Frau ist ein wahrer Engel, dachte er und betrat sein Zimmer aus dem ihm die Hitze entgegenschlug. Er freute sich auf den Mittwoch, wenn er wieder mit ihr sprechen konnte, sie anschauen und ihr beinahe unerschütterliches Lächeln entgegennehmen würde.
Es hatte sich so ergeben, und er hatte es so beibehalten. Sonntags, wenn die anderen aus der Messe kamen, ging er auf den Friedhof. Montag, Mittwoch und Freitag waren seine Einkaufstage. Und manchmal, ohne, dass er es zu einer Regel werden lassen wollte, erlaubte er sich ausnahmsweise auch einen Einkauf am Samstag. An zwei aufeinander folgenden Tagen brauchte er nicht an ihr Grab zu gehen. Sie hätte das sicher nicht gewollt. Aber es gab Momente an denen er sich unwohl fühlte, an denen er vor dem gemeißelten Stein stand und sich schweigend bei ihr entschuldigte, dass ihm diese Wochenenden besonders angenehm waren.
Um acht Uhr sah er sich die Nachrichten im Fernsehen an und las danach bis zehn. Als es dunkel genug geworden war und die Luft nicht mehr ganz so bleiern im Raum hing, faltete er sein Hemd zusammen, legte es auf den Stuhl neben das Bett und seine Armbanduhr darauf. Er spannte die Hose in den Spanner und hängte sie an den Schrank. Seltsam, dachte er. Wir sind uns noch nie auf dem Friedhof begegnet. Alle begegneten sich doch früher oder später auf dem Friedhof. Alle. Früher oder später. Und dann schlief er ein.
Auf die Hundstage im Juli folgte ein sehr viel angenehmerer August. Der September brachte acht Tage, an denen es fast ununterbrochen regnete, und im Oktober feierte er seinen vierundsiebzigsten Geburtstag mit zwei ehemaligen Kollegen in einem italienischen Lokal in der Stadt. Anfang November fiel der erste Schnee, der am nächsten Morgen aber wieder spurlos verschwunden war. Moosbachs Hund stand ein paar Tage lang vor verschlossener Türe und würde seine Vorstellung bis zum Frühjahr verschieben müssen. Den Ventilator hatte er Maria Steinhaus schon im Spätsommer persönlich vorbei gebracht und sich mit einer Flasche Wein bedankt. Die Wochen zogen träge und grau über den Hügel, und er begann sich auf das Frühjahr zu freuen. Der Winter war nicht seine Jahreszeit.
Sechzehn achtundzwanzig. Sagen wir fünfzehn. Achtundzwanzig sechsunddreißig. Etwas mehr als sonst, Ferdl! Macht dann sechsundzwanzig. Probieren Sie einmal diesen Zitronentee, Ferdl! Er soll ganz vorzüglich sein. Ich habe ihn ganz neu hereinbekommen. Nein, nein, dieses Päckchen ist zum Ausprobieren. Macht zwölf. Siebzehn. Fünf. Versuchen Sie das einmal, Ferdl. Und sagen Sie mir, ob es sich lohnt, dass ich mir ein kleines Kontingent davon hinlege.
Er wehrte sich nicht mehr und hatte begonnen ihr zum Abschied die Hand zu geben. Meistens wischte sie sich ihre Hand schnell noch an ihrem Kittel ab und lächelte ihn dann freundlich an. Montag, Mittwoch und Freitag, und immer häufiger auch der Samstag waren Tage, an denen ihm der Winterhimmel nicht ganz so verhangen schien wie an den anderen. Eben mehr Himmel und weniger dunkles Tuch. Mitte Dezember hatte es zu schneien begonnen.
Eine Woche vor Weihnachten war er an einem Spätnachmittag zur Blautanne geschlendert. Er wollte etwas zu Abend essen und sich in die Liste für die diesjährige Weihnachtsfeier eintragen. Lorenz Keller und seine Frau veranstalteten jedes Jahr in der Tanne ein kleines Fest für die alleinstehenden Senioren im Dorf. Ferdinand fand, es war eine nette Geste. Und er fand es für Lorenz schade, dass jedes Jahr so wenige kamen. Nach Annas Tod hatte er jeden zweiten Weihnachtsfeiertag an diesem Abend teilgenommen. Und einmal hatte er sogar Selma Leitner getroffen, deren jüngere Schwester in diesem Jahr wohl keine Zeit für ein gemeinsames Weihnachtsfest gehabt hatte.
Er ging die Hauptstraße hinauf und sah ihn von weitem an der Bushaltestelle sitzen. Hannes Reisdorf, der älteste Sohn von Heinrich Reisdorf, dem Busfahrer. Als er auf Höhe des Wartehäuschens angekommen war, blieb Ferdinand stehen.
„Guten Abend, Hannes! Was machen Sie denn bei dieser Kälte und um diese Zeit hier? Ausgerechnet Sie sollten doch wissen, dass um diese Uhrzeit kein Bus mehr kommt! Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Der junge Mann zuckte nur unmerklich mit den Schultern und schien durch ihn hindurch zu schauen. In seinem Schoß lagen zwei fein säuberlich geschälte Mandarinen in einem kleinen Berg aus Schalen, die Hannes Hände gedankenverloren in immer winzigere Stücke zerrissen.
„Ist wirklich alles in Ordnung?“ Aber Hannes schwieg. „Na ja, nichts für ungut! Aber erkälten Sie sich nicht. Und grüßen Sie bitte ihre Eltern.“
Eine Sekunde trafen sich ihre beiden Blicke, aber dann schob Hannes seinen Kopf noch tiefer in seinen Wintermantel und starrte in die Dunkelheit.
„Ich bin angekommen und plane meine nächsten Schritte.“ „Wie bitte?“ Ferdinand hatte sich noch einmal umgedreht, aber der junge Mann saß wie versteinert auf seinem Sitz. Ich habe mich wohl getäuscht, dachte Ferdinand, hob noch einmal die Hand zum Gruß und setzte gedankenverloren seinen Weg fort.
„Sechs Eier. Zwei Dosen Ravioli. Ein Tütchen Petersiliensamen. Einmal Kartoffeln. Zwei Liter Milch – Ferdl, Sie dürfen aber nicht vergessen, die Sämereien zu gießen, hören Sie?“
„Ich werde es nicht vergessen. Ganz bestimmt nicht, Selma!“ Manchmal fragte sich Ferdinand, ob ihm ihr gelegentlich unterschwelliger mütterlicher Ton gefiel, oder ob ihn etwas daran störte.
Mitte März begannen Anton und die anderen Bauern ihre aus dem Tal heraufwehenden leise tuckernden Runden zu ziehen, und zwei Tage vor dem ersten Mai errichteten die Jugendlichen auf dem Platz vor der Kirche den jährlichen Maibaum.
Ferdinand hatte den Blumenkasten von innen nach außen auf die Fensterbank gestellt, die Folie abgezogen und wässerte die Petersilienpflänzchen. Er hörte wie Selma den Laden abschloss. Sie winkte von der Straße zu ihm herauf, und er erwiderte ihren Gruß mit erhobener Hand.
„Einen schönen Abend. Und bis morgen“, rief er ihr nach, und sie winkte ihm noch einmal zu. Morgen würde Mittwoch sein, und er hatte seinen Einkaufszettel schon geschrieben und auf den Couchtisch gelegt. Er zog seine Strickjacke an und ging die Treppe hinunter.
In der Mitte des Dorfes, dort, wo die Hauptstraße ihre kleine Biegung machte, zweigte die Steingasse ab, verlief den Hügel hinauf zum Kirchplatz und verlor sich hinter dem Friedhof in den Obstwiesen. Oben auf dem Höcker, wie alle ihn nannten, stand eine riesige Kastanie und eine Bank, die Anton im letzten Jahr repariert hatte, damit sich niemand die Kleider an der zerbrochenen Holzleiste aufriss. Ferdinand öffnete das Tor zum Friedhof und füllte eine der Gießkannen, die ein Stück weiter neben dem Wassertrog standen. In der grünen Plastikvase standen vier Zweige aus blauer Akelei, die er am Sonntag gepflückt hatte. Er goss ein wenig Wasser nach, richtete die Blumen und stellte die Gießkanne neben sich ab. Er atmete einmal tief ein und aus und versuchte, den Gedanken zu vertreiben, der ihm schon beim Verlassen der Wohnung durch den Kopf gegangen war. Wieder einmal. Der Gedanke, den er kannte. Der ihn manchmal ansprang. Vor dem er sich fürchtete. Für den er sich schämte: Manchmal weiß ich nicht einmal mehr, wie du aussahst … Er drehte sich um und schaute lange auf die Ebene hinunter, aus der ein kaum wahrnehmbares Rauschen heraufwehte. Dann stellte er die Kanne an ihren Platz zurück und stieg weiter den Hügel hinauf Richtung Höcker. Oben setzte er sich langsam auf die Bank und schloss einen Moment die Augen, vor sich das weite Tal und hinter sich, einen Steinwurf entfernt der Waldrand mit seinen duftenden Tannen. Im wunderschönen Monat Mai, als alle Vögel sangen, da hab ich ihr gestanden, mein Sehnen und Verlangen. Er dachte es nicht einmal wirklich. Es wehte durch ihn hindurch, wie der leise Luftzug, der hier oben umherzog. Die Idee einer Idee. Und doch war dieses Heinegedicht allgegenwärtig, lag auf dem Wind, wanderte durch die Straßen und nistete in seinem Zimmer. Und zum abertausendsten Mal fragte er sich, ob ein Mensch sich dazu zwingen konnte, bewusst etwas zu vergessen. Vor drei Wochen war er hier in aller Frühe hinaufspaziert und in den Wald gegangen. Er hatte seinen Beutel mitgenommen und eine gute Stunde Samtfußrüblinge gesammelt. Zwei Grünspechte waren auf Ameisenjagd gewesen, und auf dem Rückweg hatte ein Kolkrabe sein gespenstisches Nimmermehr! in den frühen Morgen gekrächzt. Zurück in seinem Zimmer hatte er den Spankorb gesucht, in dem er allen möglichen Krimskrams aufbewahrte, ihn ausgeleert und die Pilze zu putzen begonnen. Und dann war er die Treppe hinuntergestiegen und hatte ihr den Korb im Laden auf die Theke gestellt.
„Heute habe ich einmal etwas für Sie, Selma! Die Japaner nennen den Pilz Enoki. Er wird dort sehr gerne gegessen. Gönnen Sie ihn sich selber, oder verkaufen Sie ihn. Auf jeden Fall sollten Sie ihn probieren.“ Sie hatte vor lauter Rührung nicht gewusst, was sie sagen sollte und dann gemeint: „Oh Gott, Ferdl, das ist aber nett. Ich danke Ihnen vielmals!“ Oben auf den Pilzen hatte der kleine weiße Zettel gelegen, auf den er mit dem Bleistift fein säuberlich das Wort Enoki geschrieben hatte.
Ferdinand öffnete die Augen und blinzelte in den Himmel. Er hörte das leise Knirschen näherkommender Schritte auf dem Weg und schaute Richtung Waldrand. Kurt Bachmann kam langsam den Weg herunter und schien völlig in seinen Gedanken versunken zu sein.
„Grüß Gott, Herr Pfarrer“, rief Ferdinand und nickte dem Geistlichen zu. Kurt Bachmann schreckte unvermittelt hoch und blieb unterhalb der Bank stehen.
„Aah – Herr Wengler! Ich grüße Sie. Ich – ich“, er deutete mit dem Finger hinter sich, „ich habe einen Spaziergang zum alten Granitstollen gemacht. Ich dachte …“ Aber dann brach er mitten in seinem Satz ab und schüttelte einen Moment irritiert den Kopf.
„Wie geht es Ihnen? Ich hoffe gut. Wann sehen wir Sie denn einmal wieder bei uns? Ich weiß, dass Sie eine wunderbare Stimme haben, und Gott liebt wunderbare Stimmen!“
„Sie wissen doch: Liebe und Singen kann man nicht zwingen. Und außerdem: Was für Sünden bleiben denn einem alten Mann wie mir zu beichten, Herr Pfarrer?“, antwortete Ferdinand und die beiden tauschten ein Lächeln.
„Wer spricht denn von Sünden oder Zwang, Herr Wengler! Unser Herrgott liebt alle Lieder, auch die leisen. Ich zähle auf Sie! Kommen Sie nächsten Sonntag einfach einmal in die Messe. Ich würde mich freuen. Grüß Gott.“
Der Pfarrer machte ein paar Schritte den Weg hinunter, drehte sich dann aber noch einmal um. „Ach, Herr Wengler, was ich Sie noch fragen wollte. Gibt es in unserem schönen Dorf ein neues Schäfchen? Wissen Sie – ich meine – ist jemand – ich dachte mir nur, ich als Pfarrer …“ Aber dann brach er wieder ab und kratzte sich am Kopf.
„Nun ja, vielleicht ein anderes Mal. Ist auch nicht so wichtig. Und wie ich sagte: Bis Sonntag!“
Er hob die Hand zum Gruß und setzte seinen Weg in Richtung Kirche fort.
Pfarrer Bachmann!, dachte Ferdinand. Manchmal verstehe Sie wer will. Es hieß, seine Predigten seien manchmal arg verworren. Aber der Mann war ein sehr sympathischer Mensch. Das musste er sich eingestehen. Auch wenn er selber es mit dem Kirchgang nicht mehr ganz so genau hielt. Vor allem war dieser Geistliche von deutlich mehr Weltlichkeit durchdrungen als seine beiden Vorgänger. Ferdinand stand von der Bank auf und spazierte ins Dorf zurück.
Morgen würde er auch einmal wieder zur Teifelstiege, dem geschlossenen Granitstollen wandern. Die Erwähnung des Pfarrers hatte ihn auf die Idee gebracht. Der Wald war dort besonders still und majestätisch. Manchmal konnte man durch das verrostete Eingangsgitter das Rascheln der Mäuse und Igel belauschen, die leise fiepsend und hustend durch das feuchte Laub huschten. Und nirgends wuchsen so viele Heidelbeeren wie an diesem Ort.
Am letzten Freitag im Juli ging er schon am Vormittag zu Selma Leitner in den Laden. Sie kniete auf dem Boden und wischte die Spuren eines zerplatzten Sahnebechers auf, murmelte mit hochrotem Gesicht ihren Zorn in den Putzeimer und schien trotz des Klingelns der Türglocke nicht bemerkt zu haben, dass er den Laden betreten hatte.
Er sah ihre wippenden, grauen Locken, die nassen Arme und den leicht schaukelnden Ausschnitt ihres Oberteils und drehte sich sofort zum Fenster um. Dann räusperte er sich und schaute auf die Straße.
„Du lieber Himmel! Entschuldigen Sie, Ferdl, ich habe Sie nicht hereinkommen hören.“ Sie erhob sich und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
„Diese heißen Tage sind grauenvoll. Ich vertrage den Sommer von Jahr zu Jahr weniger.“ Sie schob den Putzeimer mit dem Fuß zur Seite und ging hinter ihre Theke.
„Und jetzt ist mir auch noch die Sahne hingefallen und hat diese Schweinerei angerichtet. Von Jahr zu Jahr älter und ungeschickter. Aber was darf es denn heute sein?“ Ferdinand hatte sich ihr wieder zugewendet. Sie bemühte sich zu lächeln und schloss die Tür des Kühlschranks hinter sich an der Wand.
„Ich glaube, heute geht es ganz ohne Zettel“, sagte Ferdinand. „Ich werde eine Woche fort sein, um einen alten Freund zu besuchen und wollte ihm ein Glas Ihres außergewöhnlich schmackhaften Honigs mitbringen.“
„Dann hoffe ich, dass Ihrem Freund mein Honig auch zusagt.“ Sie ging um die Theke und nahm ein Glas vom Regal.
„Zwei fünfzig“, sagte sie. Ferdinand schüttelte kurz den Kopf. „Ich streite nicht mit Ihnen, Selma. Das wissen Sie!“ Das Preisschild wies drei fünfunddreißig aus. „Ganz herzlichen Dank. Wir werden an Sie denken, sollten wir ihn in den nächsten Tagen schon probieren. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit.“ Wäre seine Wohnung nur ein wenig größer, dann hätte er seinen Freund zu sich eingeladen. Er verspürte nicht die geringste Lust die nächste Woche anderswo zu verbringen, aber nun hatte er ihm schon zugesagt.
Ferdinand stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf und versuchte die Bilder zu vertreiben, die durch seine Gedanken wirbelten.
Er kam mit dem Frühbus am Montagmorgen zurück. Es war wieder nicht Reisdorfs Schicht gewesen, und er hatte die ganze Fahrt schweigend auf seinem hinteren Stammplatz gesessen und aus dem Fenster geschaut. An der Endstation im Dorf nahm er seine kleine Tasche, stieg aus und ging die Hauptstraße hinauf. Brot, Butter und etwas Kaffee würden ausreichen, hatte er sich unterwegs überlegt. Er stieg die beiden Stufen zur Haustüre hinauf und öffnete die Ladentür. Abrupt blieb er stehen. Die Frau hinter der Theke war nicht Selma Leitner, auch wenn er sie eine Sekunde lang dafür gehalten hatte.
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