Kitabı oku: «Bildungsethik (E-Book)»

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Thomas Philipp

Bildungsethik

Das werdende Ich jenseits des Funktionierens

ISBN Print: 978-3-0355-1568-8

ISBN E-Book: 978-3-0355-1569-5

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

www.bildungsethik.ch

www.bildungsethik.de

Für Alina und Elisabeth

Inhalt

Vorwort von Klaus Mertes

1Wie soll ein Mensch sein?

1.1Im Ideal sich finden

1.2Bildung für den Markt

1.3Falsche Frage, falsche Antwort

1.4Vergeblicher Widerspruch

1.5Schweigen der universitären Ethik

1.6Das Ziel dieses Buches

2Die Gegenwart im Spiegel der Bildungsbegriffe

2.1Ton und Ackerboden: Antike Suche nach einer Form für den Menschen

2.2Sich entbilden, sich einbilden, überbildet werden: Meister Eckhart

2.3Das starke Ich bildet sich: Aufklärung

2.4Bilden als Verinnerlichen: Einfühlende Psychotherapie

2.5Im Darm: Hannah Arendt (1906–1975)

3Ungebildete Bildungspolitik

3.1Herrschaft des Funktionierens: die OECD

3.2Abrichten zum Funktionieren: Bologna

3.3Ohnmächtig? Wir? Deutsche Bildungspolitik

3.4Dinosaurier und Postmoderne: Schweizer Bildungspolitik

3.5Ausblick

4Ausbeutung der Lebenswelt durch die Systeme: Jürgen Habermas (*1929)

4.1System und Lebenswelt

4.2Ausbeutung des sich bildenden Ich

4.3Reflexion

5Gebildete Bildungspolitik

5.1Politisches Gespräch

5.2Zusammenschauendes Menschenbild

5.3Bildung

5.4Was ist zu tun?

6Literatur

6.1Quellen

6.2Rechtsgrundlagen, behördliche Stellungnahmen

6.3Weiterführende Literatur

6.4Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Von Klaus Mertes

Es ist der OECD in den letzten beiden Jahrzehnten gelungen, zwei konkurrierende Diskurse miteinander zu verbinden: den Neo-Liberalismus und den sozialpolitischen linken Diskurs. Dieser bemerkenswerte Schulterschluss sorgte spätestens nach dem «PISA-Schock» im Jahre 2000 für einen bildungspolitischen Konsens von der bürgerlichen Mitte bis hin zur Linken. Unter Stichworten wie «Standardisierung», «Kompetenzorientierung» oder einfach «Finnland» wurden weitgehende Reformprozesse in Gang gesetzt, von der Kita über PISA bis zur Hochschule.

Ich habe die bildungspolitischen Entwicklungen seit dem «PISA-Schock» aus der Perspektive der Schule erlebt und mich dabei immer wieder gefragt, was denn der zusammenhängende Gedanke hinter dem chaotischen Reform-Zirkus sein könnte, den das Bildungssystem – manchmal viel zu geduldig, eingeschüchtert und ergeben – hat über sich ergehen lassen müssen. Am Ende meiner Überlegungen bleiben zwei Begriffe stehen, die ihrerseits zusammenhängen: Vergleichbarkeit und Gleichheit.

Das anerkannte Ziel der PISA-Studie war, die nationalen Bildungssysteme international vergleichbar zu machen, um eine empirische Basis für Veränderungen des Bildungssystems im Zeitalter der Globalisierung zu gewinnen. Internationale Vergleichbarkeit und Neo-Liberalismus hängen zusammen: Letzterer behauptet das Primat der Marktmechanismen im Zeitalter der Globalisierung; der globale Markt hat keinen Welt-Staat über sich, der ihm im Sinne einer globalen sozialen Marktwirtschaft Zügel anlegen könnte; also regiert das Geld – weil es das einzige Medium ist, das internationale, globale Vergleichbarkeit herstellen kann.

Geld erhebt sich über Geschichte, Kultur und regionale Eigenheiten aller Art, auch über gewachsene Bildungstraditionen, weil es von allem Partikularen abstrahieren kann. «Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich zu abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zu dem Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips, uns dieses Einzelne und Niedrige in jedem einzelnen Augenblick gewähren, sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können» (Georg Simmel, Philosophie des Geldes).

Die Option der OECD für die Herstellung internationale Vergleichbarkeit der Bildungssysteme bedurfte dieses geeigneten Mediums. Die Folge: Ökonomische Kriterien bestimmen den «Wert» von Bildung. Welches andere Medium als letztlich das Geld sollte auch diesen Dienst der Werte-Messung leisten können? «Würde» im Sinne des autonomen, denk- und urteilsfähigen Subjekts hat in diesem Konzept keinen Platz, beziehungsweise wird in «Werte» umgerechnet: «Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anders als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloss einen relativen Wert, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde … Personen sind nicht bloss subjektive Zwecke, deren Existenz als Wirkung unserer Handlung, für uns einen Wert hat; sondern objektive Zwecke, d. i. Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck ist, und zwar einen solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann, dem sie bloss als Mittel zu Diensten stehen sollten» (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten).

Bildung, die vom kantischen Begriff der Würde her gedacht wird, lässt die OECD mit ihrem Anspruch an Grenzen stossen. Die Protagonisten, die hinter den vier Buchstaben OECD stecken, müssten dann anfangen, Gesicht zu zeigen und zuzuhören. Doch das kommt nicht zustande. Die bildungspolitischen Debatten der letzten Jahre sind von einer merkwürdigen, aber auch bezeichnenden Sprachlosigkeit zwischen Basis und Entscheidungszentren geprägt – das heisst, einfacher ausgedrückt: Sie finden nicht statt. Insbesondere die Inhalte von Bildung kommen nicht zur Sprache, und schon gar nicht kontrovers. In dem Masse aber, in dem die kritischen Stimmen an der Basis an einer Mauer des Schweigens abprallen, sucht sich die Basis – die sich in Statistiken und immer neuen Strukturen wiederfindenden Reformobjekte namens Schülerinnen und Schüler, Studierende, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer – andere politische Interessensvertreter, fatalerweise in den letzten Jahren immer mehr bei autoritären Parteien und Bewegungen, die in das nationalistisch-partikulare Gegenteil des OECD-Universalismus zurückfallen.

Ich sagte eingangs: Der OECD ist es gelungen, ihren neoliberalen Ansatz im Schulterschluss mit dem linken Gleichheits-Diskurs voranzubringen. Neben dem Vergleichbarkeits-Topos und seinen Schrecken erregenden Resultaten («Deutschland hinkt im internationalen Vergleich hinterher», «China liegt bei dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen auf Platz 1» und so weiter) stellte PISA schon 2000 fest, dass die soziale Herkunft einen besonders starken Einfluss auf den schulischen Erfolg hat. In Kombination mit der Kritik am dreigliedrigen Schulsystem in Deutschland folgte aus diesem Befund, dass die Zeit des gemeinsamen Lernens erheblich verlängert werden müsse, mit den entsprechenden Schulstrukturreformen und -debatten, die seither den Bildungsdiskurs bestimmen. Das Credo lautet: Gemeinsame Lernzeiten verlängern statt frühzeitig aussortieren, um den Einfluss der Herkunft auf den Bildungserfolg zu brechen.

Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischem Erfolg ist nicht zu leugnen. Bildungsgerechtigkeit ist und bleibt ein Schlüsselthema der Bildungspolitik, aber auch jeder pädagogischen Tätigkeit vor Ort. Es wäre einiges Differenzierende und auch Ermutigende dazu zu sagen. Aber wenn Bildung «bloss» als Mittel zum Zweck der Herstellung sozialer Gleichheit verstanden wird, erhebt sich die Kategorie der Gleichheit in dieselben abstrakten Höhen wie das Geld. Die politischen Entscheidungsträger verwandeln Bildungspolitik in ein Instrument der Sozialpolitik. Der sozialpolitische Output des Bildungssystems kann dann mit denselben Instrumenten gemessen werden, mit denen auch insgesamt die internationale Vergleichbarkeit zwischen den Bildungssystemen gemessen wird – also letztlich mit Geld. Hier treffen sich die nur scheinbar feindlichen Geschwister: Neoliberalismus und staatsmonopolistische Bildungspolitik im Dienst der sozialen Gleichheit. Die OECD versteht sich als ihr globaler Akteur.

Das Problem ist nur: Bildung verwandelt sich in den Händen eines am ökonomisch-gesellschaftspolitischen Output gemessenen Nutzens in etwas anderes als Bildung. Im besten Fall kommt gute Ausbildung heraus, im schlechtesten kritiklose Anpassung. Bildung ist aber etwas anderes: «Sich zu bilden ist tatsächlich etwas ganz anderes als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein» (Peter Bieri). Für die ethische Bildung formuliert Aristoteles: «Das Ziel unserer Studien ist nicht, zu wissen, was das Wesen der Tugend ist, sondern gut zu werden.» Das alles ist aber nicht zu denken ohne Autonomie, ohne Freiheit. Sonst wird das Bildungssystem entweder, wie in den Erziehungsdiktaturen von Sparta bis zur DDR, totalitär, oder es wird zu einem Ort des Wettbewerbs, in dem sich über Output-Kontrolle und Rankings täglich neu der Bildungserfolg entscheidet. Die Lernenden als Subjekte sind nicht mehr im Blick.

Knapp 20 Jahre nach dem «PISA-Schock» ist dem Neoliberalismus ein hässlicher Bruder zugewachsen: der autoritäre Rechtspopulismus. Er verspricht, den inhaltsleeren Kult des Geldes durch neue, essentialistische Definitionen von Nation und Kultur zu vertreiben, spielt den Partikularismus gegen den Universalismus aus und kapert zugleich das Anliegen sozialer Gleichheit für die eigenen Leute, indem er einen neuen Feind kreiert – nämlich die Anderen, die Fremden, denen es angeblich nicht zusteht, Gleichbehandlungsansprüche zu stellen. Einen Weg aus dieser Zwickmühle schlägt Thomas Philipp unter dem schönen Begriff einer «gebildeten Bildungspolitik» vor. In der Tat: Es ist immer leichter, auf die eine oder andere Seite hin zuzuspitzen, als einen Weg der Mitte zu gehen. Aber diesen Weg wird eine Bildungspolitik finden und gehen müssen, die diesen Namen verdient. Denn Bildung ist ein Gut, das weder ökonomisch noch sozialpolitisch voll verrechenbar ist. Anerkennt man das, kann Bildung auch ihren Segen für ökonomisches Gedeihen und soziale Gerechtigkeit entfalten.


1Wie soll ein Mensch sein?

Was meinen Sie? Welche Eigenschaften soll ein junger Mensch entwickelt haben, wenn er in demokratische und berufliche Verantwortung tritt? Denken Sie an menschliche Reife oder an die Fähigkeit, zuverlässig Verantwortung zu übernehmen? An Empathie und Kommunikationsfähigkeit? An Neugier, Eigeninitiative oder Kreativität? Die Fähigkeit, sich auszudrücken, sprachlich, musisch? An Begeisterungsfähigkeit oder an kultivierten Umgang mit Sinnfragen? An die Fähigkeit, geduldig zu arbeiten, ohne gleich Resultate zu sehen? Gewiss denken Sie an eine tragfähige berufliche Ausbildung, damit er wirtschaftlich auf eigenen Füssen stehen und eine anspruchsvolle Karriere beginnen kann. Als Demokratin werden Sie auf politischer und historischer Bildung bestehen. – Oder welche dieser Eigenschaften würden Sie gern bei Ihrer Chefin, Ihrer Ärztin, beim Lehrer Ihrer Kinder vorfinden? Wären Sie mit fühllosen, ethisch ungebildeten Optimierern zufrieden?

1.1Im Ideal sich finden

Oder weisen Sie die Frage zurück? Ein junger Mensch soll doch frei sein! Soll selbst entscheiden, wie und wer er sein will! Haben denn andere das Recht, sein Werden ihren Idealen zu unterstellen? Damit würden Sie auf der Freiheit der Jugend bestehen, ihres Lebens Herr zu werden, aus der Unmündigkeit herauszutreten. Ganz recht! – Und damit wären wir schon mitten im Thema. Bildung unter blossem Zwang, ohne innere Zustimmung und Beteiligung kann es nicht geben. Aber Bildung ist auch das Gegenteil bindungsloser Freiheit, die sich willkürlich für dies oder das entscheidet. Bildung interpretiert die Erfahrung, frei zu sein, auf eine bestimmte, durchaus begrenzende Weise. Das Wort besagt, dass jedes Ich vor der Aufgabe steht, etwas und vor allem jemand zu werden. Es beschreibt eine engagierte Beziehung zwischen dem Ich und einem grösseren Horizont. Dazu gehört, dass Bildung Ideale und Ziele erreichen will, selbst- oder fremdgesteckte.

Wer sich bildet, unterstellt sein Werden Zielen. So will ich sein! Das möcht’ ich können! Dies Ansehen will ich erreichen! So viel Geld möcht’ ich verdienen! Bildung gibt es nicht ohne eine Richtung, die einer einschlägt. Wer sich einem Bildungsweg unterwirft, strengt sich dafür an. Er bindet seine Freiheit. Ohne Ziele tät’ er’s nicht. Sie müssen freilich nicht bewusst sein. Jemand könnte Arbeitsmarkt- und Verdienstchancen nennen, damit aber kaum bewusst auf die Anerkennung des Vaters zielen. Oder auf sicheren Schutz vor Beschämung. So oder so: Dass Ziele, dass Ideale wirken, ergibt sich zwingend aus dem Umstand, dass sich jemand für Bildung anstrengt. In Frage steht nicht, ob Bildung Idealen folgt. Sondern nur, welchen.

Bildung schliesst den Blick auf sich selbst ein. Nicht kühl, distanziert, in der dritten Person. Nicht in der Sprache des man. Wer sich bildet, nimmt eine engagierte, performative Haltung ein. Er spricht als Ich, in der ersten Person, mit Wärme, wach und beteiligt. Wer sich bildet, spiegelt sich im Ideal, versucht sich darin zu erkennen, sucht Antwort auf die Frage, wer er sei. Bildung will dem Dasein Sinn geben: persönlich, eigenständig, eigenartig. Sie ist eine Selbstdeutung, spielt innerhalb der Beziehung zu sich selbst, in der das Ich immer schon steht. Zu Bildungsfragen gibt es keinen neutralen Standpunkt. Immer geht es auch um die Sprecherin und ihr Bild von sich selbst. Keine Bildung ohne Selbstreflexion.

Bildung hat nicht nur mit Idealen des Ich zu tun. In der Regel bildet ein junger Mensch sich im Bildungssystem. Er trifft auf Ziele von Gesellschaft und Politik und muss sich an sie anpassen. Kein äusserlicher Umstand, welcher der Selbstverwirklichung des Einzelnen lästigerweise in den Weg träte! Was wäre ein junger Fussballer, der mit niemandem zusammenspielen wollte? Könnte er ganz allein sein Talent entwickeln und es bis an die Spitze schaffen? Was eine Geigerin, die keinen Unterricht, kein Zusammenspiel akzeptierte? Könnte sie ganz privat, im Namen künstlerischer Authentizität, ihre Begabung pflegen? Ohne Institution, ohne System, das Training und Unterricht, Spiel und Konzert verlässlich und geduldig organisiert und trägt, wird aus keinem Talent etwas. Sein Werden verlangt nach dem Gegenüber. Bemerkenswert, dass die meisten Menschen heute spontan anders empfinden und Freiheit als Freiheit vom System verstehen. Die Einsicht, dass das Bildungssystem die Selbstverwirklichung fördert, läuft der Intuition zuwider. Sie nimmt meist nicht zuerst eine Hilfe, sondern ein garstiges Gestrüpp von Zwängen wahr. Etwas Fremdes, in dem das Ich sich fremd wird. Offenbar sind die Werdewünsche des Ich und die Ziele des Systems nicht gut aufeinander abgestimmt.

Wie soll ein Mensch sein? Die Frage zielt in zwei Richtungen. Erstens möchte sie das werdende Ich anregen, sich mit seinen Motivationen, Idealen und Zielen auseinanderzusetzen. Unter den Bedingungen grosser individueller Freiheit, im Pluralismus, ist es nicht mehr so wichtig, seine Ziele vor Autoritäten zu rechtfertigen. Diese grössere Freiheit macht die innere Motivation mächtiger. Ein falsches Ziel leitet umso nachdrücklicher in falsche, ein ungenaues umso sicherer in ungenaue Richtung, je mehr Entscheidungen der Einzelne für sich selbst treffen muss: Die Selbstreflexion, um deren tragende Bedeutung fürs gute Leben schon die Antike wusste, ist für Bildung unverzichtbar. Zweitens zielt die Frage auf die Verantwortung und Selbstreflexion unserer Gesellschaft. An der Frage der Bildung verhandelt sie, was sie über den Menschen denkt. Wie er sein soll, was sie ihm zutraut und welche Werte seine Entwicklung entfalten soll.

1.2Bildung für den Markt

Wie soll ein Mensch sein? Leider spielt diese Frage nicht in der Realität. So fragt unsere Zeit nicht. Sie fragt nicht nach Menschen. Sie fragt nach den Bedürfnissen des Systems. Das Werden des Ich ist Privatsache. Die Sprache der Wirtschaft – Effizienz, Steuerung, Kompetenz – hat jene der Pädagogik und Philosophie – Reife, Verantwortung, Eigenständigkeit, Selbstfindung – verdrängt. Die Behauptung, Bildung lasse sich in Zahlen fassen, ihr Output messen und durch Nachsteuern optimieren, gilt weitherum als das Ganze. Zusammenstauchen des Wegs zum Abitur auf 12 Jahre; PISA; Bologna; die Bewertung der Universität durch Rankingpunkte: Diese Massnahmen, im Folgenden kurz Reformen, rauben dem sich bildenden Ich die ihm gemässe neugierförmige Form und zwingen es in jene des Marktes. Wo krieg ich’s am billigsten? Wo es um Punkte geht, will man sie möglichst effizient ergattern. Kein Wort mehr zu menschlicher Reifung, Empathie oder politischer Bildung. Das Ergebnis ist eine völlig andere Haltung.

Auf das Ich schauen die Reformen streng von aussen: unbeteiligt, in der dritten Person. Die erste ist ausgeschlossen, da nicht messbar und in Zahlen auszudrücken. Selbstreflexion ist unwichtig; die Erfahrung, jemand zu werden, nicht von Bedeutung. Worauf es ankommt, steht in Kennziffern, nur dort. Die Reformen ersetzen die Erfahrung von Sinn, seine Sprache und die Verständigung über ihn durch zählbares Mehr. Wozu ist das gut? Für die Wirtschaft, heisst es. Für Europa oder die Steuerung der Massenuniversität. Aber wozu sind diese gut? Um sich selbst zu begründen, geben die Reformen wieder nur Zwecke an. Auf Fragen nach dem Sinn wollen sie nicht antworten. Sie denken nur bis zum optimalen Funktionieren. Ihre Sprache kann gar nicht anders. Darum erleben so viele das Lernen im System als nützlich, aber sinnlos.

Wie soll ein Mensch sein? Würde man die Entscheidungsträger fragen, Universitätsrektorinnen und Bildungsdirektoren, sogar Mitarbeitende der OECD, träten ihnen Einzelne vor Augen: Studierende, mit denen sie näher zu tun haben, oder ihre Kinder. Dann würden sie eine andere Antwort geben als jene, die sie als Verantwortliche täglich vertreten. Erstaunliche Spaltung!

In den Zielen, die sie ihrem Bildungssystem setzt, verhandelt eine Gesellschaft, was sie über den Menschen denkt. Erstaunlicherweise führt sie diese Auseinandersetzung heute nicht ausdrücklich. Ohne sich dessen klar bewusst zu sein, überlässt sie die Antwort Stimmen, die behaupten, Bildung sei für das Funktionieren von Produktion, Markt und Konsum da. Und die ausdrücklich nicht von Menschen, ihrem Werden und ihrer Erfahrung von Sinn sprechen wollen. Ziel sei die effiziente Reproduktion von Humankapital. Das begründen sie nicht. Sie behaupten’s einfach. Und folgern, Bildung müsse sich an der Wirtschaftswissenschaft messen. Bildung lasse sich empirisch erheben und in Zahlen darstellen, in wirtschaftlicher Sprache verstehen und steuern. Das Bildungswesen sei marktförmig aufzustellen. Eine Zieldebatte sei für seine Steuerung unnötig. Im Gegenteil! Es müsse der politischen Steuerung entzogen werden; Agenturen, Tests und Rankings könnten das effizienter als die demokratische Willensbildung. Nur logisch, dass Bologna nicht einmal in der Schweiz von den Parlamenten diskutiert und beschlossen worden ist.

In dieser Argumentation ist jeder Teil falsch. Erstens geht sie von einem Irrtum über den Menschen aus. Jeder weiss, dass Geld allein nicht glücklich macht. Gilt diese Einsicht für die Ziele des Bildungswesens nicht? Die Verständigung über sie verlangt zweitens ethische, keine ökonomische Sprache. Die Frage nach dem guten Leben aller lässt sich nur durch Verständigung über Ziele beantworten, nicht mit Zahlen. Engagiert, in der ersten Person. Nicht in der kalten Sprache des man. Der Markt hat sich vor der Ethik, vor der Frage nach dem guten Leben zu verantworten. Also vor den Erfahrungen, die Menschen mit ihm machen. Nicht umgekehrt. Drittens wirken die vorgeschlagenen Massnahmen schlecht. Sie tun alles, Menschen zu vereinzeln und sich fremd werden zu lassen. Dann passen sie sich an Ziele an, die sie verbiegen. Funktionieren bloss noch und wachsen nicht mehr. Verlieren den Kontakt mit sich selbst. Ihre Würde nimmt Schaden, ihre Lebendigkeit welkt.

Wem nützt das alles? Einmal mehr der wirtschaftlichen Elite, um von der Globalisierung immer noch mehr zu profitieren, auf Kosten des guten Lebens aller. Zugleich stabilisieren diese Thesen – darin liegt ihre verführerische Kraft – in einem jeden jene Seite, die sich lieber nicht mit sich selbst, mit Zielen und mit Scheitern auseinandersetzen will. Zu bequem, zu angepasst, diesen traurig mageren Zielen bessere entgegenzustellen. Viel leichter, sich von Geld und Konsum Erfüllung zu versprechen! Selbstbetäubung, quer durch alle Schichten. Opium, sozusagen.

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