Kitabı oku: «Der Islamische Staat»

Yazı tipi:



Olivier Hanne

Thomas Flichy de La Neuville

Der Islamische Staat

Anatomie des neuen Kalifats

Übersetzung aus dem Französischen:

Caroline Gutberlet und Thomas Wollermann


Olivier Hanne

Thomas Flichy de La Neuville

Der

Islamische Staat

Anatomie des neuen Kalifats


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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ISBN: 978-3-86408-184-2

Übersetzung aus dem Französischen:

Caroline Gutberlet und Thomas Wollermann

Erschienen im Verlag BG Éditions, Paris.

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout:

Stefan Berndt – www.fototypo.de

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2015

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Dank

Die Autoren möchten allen Mitarbeitern danken, die ihnen bei ihren Recherchen geholfen haben: Antoine Barrandon, Pierre Benages, Vianney Bourgnignaud, Florent Cousin, Gilles Duplay, Rémi Leyrisse, Luigi de Icco, Benoît Malet, Tautvydas Jaskunas, Adèle Nicolas, Kanako Ishida, Chloé Verslype, Douglas Delpha, Pierre Reboul, Joseph Mennecier, Akira Miyazawa, Carlo Scaglia, Xavier de Lesquen du Plessis Casso, Louis-Xavier Devanneaux, Bruno Drécourt, Antoine Lallemand de Driesen, Guillaume Sevestre, Zsolt Kappelert, Anne-Dounia Hadbi, Mathilde Langlois, Jessica Lombard, Mathilde Quentel.

Inhalt

Einleitung – Die Geister der Vergangenheit kehren zurück

Die Entstehung des Islamischen Staates

Verwerfungen in der irakischen Gesellschaft

Der Irak als Schauplatz des Kampfes um Energieressourcen

US-Invasion und Zerfall des Irak (2003–2011)

Nuri al-Maliki führt den Irak in die Sackgasse

Der Krieg in Syrien im Hintergrund (2011–2014)

Der Opportunismus der irakischen Sunniten

Militärische Erfolge

Das Islamische Kalifat: Dynamik eines Protostaates

Die Wiedererrichtung des Kalifats: Geschichte wird lebendig

Abu Bakr al-Baghdadi an der Spitze der Bewegung

Die Rache der Sunniten an der Geschichte

Die Kultur des Dschihadismus

Der Medienterror

Die Rationalität im Fanatismus

Das Alltagsleben im Islamischen Staat

Eine flexible militärisch-politische Organisation

Erdöl und Finanzierung

Der Islamische Staat ordnet den Nahen Osten neu

Eine wachsende Bedrohung

Widerstreitende islamistische Strömungen

Saudi-Arabien: Vom Islamischen Staat enttäuscht?

Katars Spiel mit dem Feuer

Türkischer Eiertanz

Der kurdische Standpunkt

Eine wankelmütige irakische Opposition

Der Zickzackkurs der amerikanischen Geopolitik

Die Hardliner gegen den Islamischen Staat

Ein Konflikt der Interpretationen

Ist der Islamische Staat zu stoppen?

1. Szenario: Sieg des Islamischen Staates

2. Szenario: Niederlage des IS und Instabilität

3. Szenario: Niederlage des IS und Befriedung

Der islamistische Terror in Europa

Anhang

Zur Erinnerung: Das Schisma zwischen Sunniten und Schiiten

Die Flagge des Islamischen Staates

Glossar

Anmerkungen

Einleitung

Die Geister der

Vergangenheit kehren zurück

„In jenem Jahr [1257] brachen in Bagdad ungeheuer brutale Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten aus, die mit furchtbaren Plünderungen und Zerstörungen einhergingen. Unzählige Schiiten wurden niedergemetzelt, sehr zur Bestürzung des Wesirs Ibn al-Alqami, der wie eine wild gewordene Tigerin wütete und die Mongolen anstachelte, gegen den Irak vorzugehen, um Rache am Sunnismus zu nehmen […] Zu Beginn des Jahres [1258] marschierte der [mongolische] Tyrann Hülägü an der Spitze seiner Heere nebst Georgiern und den Männern der Garnison von Mosul auf Bagdad zu. Der Präfekt des Kalifenpalastes zog an der Spitze des Bagdader Garnisonsheeres vor die Stadt, um die Vorhut des Mongolen aufzuhalten, doch die Muslime waren in der Unterzahl und wurden vernichtend geschlagen … [Nachdem der Wesir Verhandlungsbereitschaft vorgetäuscht hatte,] begab sich der Kalif al-Mustasim in Begleitung der Hofnotabeln und aller wichtigen Persönlichkeiten dieses Moments, die dem Abschluss des vorgesehenen Abkommens beiwohnen sollten, vor die Tore der Stadt. Doch kaum dass sie draußen waren, ging ein Massaker los: Ihre Köpfe fielen ausnahmslos. Der Kalif aber wurde einfach zu Tode getrampelt.“

Al-Dhahabi (zeitgenössischer Historiker aus Damaskus, 1274–1348)1

Am 10. Februar 1258 fiel Bagdad nach zweiwöchiger Belagerung in die Hände der Mongolen. Die Stadt wurde systematisch geplündert und ein Teil der Bevölkerung getötet. Nachdem Hülägü, der Enkel Dschingis Khans, in die „Runde Stadt“ mit ihren prunkvollen Palästen eingezogen war und die schwarze Flagge der Kalifendynastie der Abbasiden nicht mehr über der bezwungenen Stadt wehte, gab sich der letzte Kalif al-Mustasim mit seinen Söhnen in die Hand des Siegers. Er hoffte wohl darauf, dass dieser Milde walten lassen würde. Man führte ihn allein in ein Zelt und verlangte von ihm, die Verstecke mit den sagenhaften Schätzen des Kalifats preiszugeben. Doch anschließend wurde al-Mustasim in einen Sack eingenäht und von mongolischen Pferden zu Tode getrampelt.

Das Ende des letzten Abbasidenkalifen nährte den Traum, eines Tages Rache zu nehmen an den mongolischen, persischen und christlichen Heeren, die die Kalifenstadt eingenommen hatten, und wieder einen Herrscher einzusetzen, der mächtiger sein würde als Hülägü. Dieser Traum, der unter ethnisch-religiösen, arabischen und sunnitischen Vorzeichen stand, war lange Zeit in Vergessenheit geraten. In ihm manifestiert sich jedoch eine Wunschvorstellung, ohne die man die weltlichen Ziele des fundamentalistischen Islam nicht hinreichend verstehen kann. Sowohl al-Qaida als auch der „Islamische Staat“2 berufen sich darauf. Gleichzeitig verweist dieser historische Rückgriff auf einen wichtigen Punkt: Die Entstehung des Islamischen Staates, der Gegenstand dieses Buches ist, ausschließlich unter den Gesichtspunkten Ökonomie und aktueller Weltlage zu verstehen, greift nicht nur zu kurz, sondern ist auch falsch. Die Erneuerung des Kalifats stellt sich vor allem als die Verwirklichung eines alten Traumes dar, und es besteht kein Zweifel, dass die Wiederbelebung der Bezeichnung „Kalif“ einem emotionalen Donnerschlag gleichkam, der dem Westen gänzlich entging. Niemand weiß, ob Abu Bakr al-Baghdadi, Anführer der dschihadistischsalafistischen Terrororganisation Islamischer Staat, schon morgen seine Befehle mit dem Siegel des Propheten Mohammed zeichnet. Das Schwert des letzten Kalifen hat er jedenfalls wiedergefunden, jenes Schwert, dessen Hülägü nicht habhaft werden konnte, weil es sich im Wunsch nach Rache der Besiegten verborgen hatte. Das unvermittelte Erscheinen der Terrororganisation Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS) und deren Ausrufung eines „Islamischen Kalifats“ im Juni 2014 ist nicht bloß eine Episode am Rande.2 Es stellt für dessen Anhängerschaft einen Gründungsmoment dar und ist insgesamt für die Geopolitik des Nahen Ostens und darüber hinaus ein einschneidendes Ereignis. Die politische und die religiöse Landkarte vom Euphrat bis zum Mittelmeer wurden neu gezeichnet – mit weitreichenden Auswirkungen für die arabische Welt und, wie wir spätestens seit den Anschlägen der jüngsten Zeit wissen, auch für den Westen, der zunehmend als Kampfgebiet des islamischen Terrors gesehen werden muss.

Wie bedenklich die aktuelle Lage ist, soll dieses Buch zeigen. Es ist Ergebnis der Zusammenarbeit eines Historikers und eines Geopolitologen. Ihr Anliegen ist es, freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die Sachlage bis Anfang 2015 wiederzugeben, einige Schlüssel zum Verständnis der dramatischen Ereignisse des Jahres 2014 zu liefern und zu untersuchen, was der Islamische Staat ist, wo er herkommt, was er vorhat und wie es um seine Zukunft beschieden ist.

Die Entstehung des Islamischen Staates

Das Islamische Kalifat ist nicht aus dem Nichts entstanden, im Gegenteil: Es lassen sich viele Bezüge aus der Frühzeit des Islam finden. Der damit verbundene Konflikt muss deshalb in einem historischen Kontext gesehen werden. Seine Entstehung ist darüber hinaus einer ganzen Reihe von klar auszumachenden Faktoren geschuldet, die schließlich zur Implosion Syriens, dann auch des Irak geführt haben. Tatsächlich ist der Islamische Staat (IS) aus dem Zusammenbruch dieser beiden Staaten hervorgegangen, aber auch weitere Faktoren spielten eine Rolle: die früheren willkürlichen Grenzziehungen britischer Besatzer, die laizistischen Bestrebungen der Baath-Partei, der seit Jahrhunderten schwelende Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, die Irak-Kriege, das politische Eingreifen des Westens, insbesondere der USA in jüngster Zeit. Dass es in diesem Gebiet immer auch um Öl und wirtschaftlichen Einfluss geht, macht das Phänomen IS um so brisanter.

Verwerfungen in der irakischen Gesellschaft

Schon unter Saddam Hussein war der Irak von auseinanderdriftenden ethnisch-religiösen Kräften zerrissen: die sunnitischen Kurden im Norden (28 % der Bevölkerung), die schiitischen Araber im Süden, die landesweit größte Gruppierung (49 %), und die überwiegend regimetreuen sunnitischen Araber im Zentrum (17 %), von denen jene in Tikrit besonders privilegiert waren. Unter dem Sunniten Saddam Hussein waren die Schiiten, denen eine zu große Nähe zum schiitischen Regime in Iran nachgesagt wurde, in der Position der Unterdrückten, denen auch die Pilgerfahrt nach Kerbela untersagt war. Zu diesen Zerwürfnissen unter den Muslimen kam im Norden noch die Präsenz von Minderheiten hinzu, die auf den Schutz des Regimes zählen konnten, solange sie sich unterordneten: assyrische Christen, Chaldäer, Katholiken, Jesiden3, Turkmenen4 und sogar einige Juden. Für die IS-Eiferer ist der Irak eine Brutstätte von Ungläubigen, die der Wahrheit zugeführt, vertrieben oder getötet werden müssen. Das erklärt die brutalen Vertreibungen bei ihrem Einmarsch im Juni 2014 in Mosul, dem Zentrum der irakischen Christen.

Der Irak ist aber auch ein Mosaik aus arabischen Stämmen, die sich in der Nachfolge eines ruhmreichen Ahnherrn sehen, der zur Zeit des Propheten bzw. seiner engsten Gefährten gelebt haben soll. Die Stammesstrukturen gehen zurück auf die Mesopotamische Zeit und haben alle Invasionen überdauert. Ihr strukturgebender Charakter ist sehr real, viel stärker als der laizistische oder demokratische Staat. Trotz aller Wirren ist der Stammesverband nach wie vor das stärkste Bindeglied der irakischen Gesellschaft. Im Übrigen stützten sich die Briten beim Aufbau ihres Verwaltungssystems der Indirect Rule auf die Stämme, indem sie die Wasserverteilung und die Gebietskontrolle auf die Shaikhs, die Stammesführer, übertrugen. Die Stammeszugehörigkeit hat seit der Mitte des 20. Jahrhunderts stark an Bedeutung verloren, dennoch hat die Gruppe für den Einzelnen große Bedeutung, vor allem in Krisenzeiten werden die traditionellen Solidarnetzwerke reaktiviert. So waren die Takriti, denen Saddam Hussein angehörte, für ihren Zusammenhalt und ihre gegenseitige Unterstützung bekannt. Saddam versuchte die Macht der Stammesfürsten zu schwächen, änderte seine Politik jedoch nach dem verlorenen Golfkrieg 1991. Die sunnitischen Strukturen erlebten daraufhin eine regelrechte Renaissance.5

Obwohl die irakische Gesellschaft sich als eine religiöse begriff, konnte sich nach der Machtübernahme durch die Baath-Partei 1968 ein gewisser Laizismus entwickeln. Diese politische Bewegung sozialistischer Prägung propagierte einen glühenden Nationalismus im Namen des Wiederaufbaus der arabischen Einheit. Die Länder Syrien und Irak wurden von der Baath-Bewegung regiert: Ab 1979 war Syrien fest in der Hand der Familie al-Assad, der Irak im Griff von Saddam Hussein. Letzterer instrumentalisierte die Baath-Partei und die Erdöleinnahmen zugunsten seines Klans und der Sunniten. Als Reaktion auf das Baath-Projekt, das sich laizistisch gab, um das Völkergemisch zusammenzuhalten, wurde die schiitische Mehrheit immer gläubiger, ja fundamentalistisch. Die Anhängerschaft des Islamischen Staates präsentiert das Kalifat nunmehr als die Wiederkehr eines Sunnismus, der Laizismus und Baathismus abgestreift hat und sich daher mit dem religiösen Eifer der irakischen Schiiten messen kann.

Diese Vorstellung hat zweifellos viele Sunniten, die nach 2003, als im Irak die schiitische Mehrheit die Macht übernahm, einen Bedeutungsverlust hinnehmen mussten, für extremistische Positionen empfänglich gemacht. Die gesamte Region ist geprägt von den allgegenwärtigen Moscheen, von muslimischer Geschichte und muslimischen Symbolen, eine ständige Mahnung an die Bewohner, ihren religiösen Verpflichtungen nachzukommen, der sich auch die nicht ganz so eifrigen Gläubigen und die Religionsfernen nicht entziehen können. Die Bekehrung zum Rigorismus erscheint unter diesen Umständen wie eine Rückkehr zur Frömmigkeit, die eine Vergebung der Sünden und den Sieg für die Sache Gottes, die viel zu lange vernachlässigt wurde, ermöglicht.6

Ethnisch-religiöse Situation im Irak


Der Irak als Schauplatz des Kampfes um Energieressourcen

Der Irak besitzt mit rund 115 Milliarden Barrel eine der größten Erdölreserven der Welt. Der Internationale Währungsfonds gibt an, dass 90 Prozent der Staatseinnahmen aus dem Öl- und Gasexport stammen, und der Internationalen Energieagentur zufolge nimmt der Irak unter den Ölexportländern den dritten Platz ein. Diese Energiereserven schüren schon lange die Konkurrenz zwischen den Großmächten und nähren den Wunsch nach Unabhängigkeit im irakischen Teil von Kurdistan, das über zahlreiche Lagerstätten verfügt. Zwar heimsten die USA ab 2003 den Großteil der Förderverträge ein, doch seitdem liefern sich zahlreiche Investoren, angefangen bei ExxonMobile Europe über BP (Großbritannien, Niederlande) und Lukoil (Russland) bis hin zur China National Petroleum Corporation (CNPC), einen erbitterten Wettbewerb.

Die chinesischen Ölkonzerne (CNPC, PetroChina, Sinopec), und damit Peking, üben großen Einfluss auf den irakischen Ölmarkt aus. Der gegenwärtige Konflikt bedroht ganz klar die gewichtigen Interessen Chinas, die sich nach dem Ende der Invasion von 2003 in Verträgen niederschlugen. China hat von der schwachen Ausbeutung zahlreicher Lagerstätten massiv profitiert und ab 2008 viele Dutzend Milliarden Dollar in die irakische Ölförderung investiert. Heute werden 50 Prozent des irakischen Erdöls nach China exportiert. Nach und nach eroberten PetroChina und CN-PC die riesigen Ölfelder – so auch Westkurna, eines der ertragreichsten Ölfelder der Erde, an dem der amerikanische Ölkonzern ExxonMobil noch 60 Prozent hält.7 China stieg schnell zum besten Kunden und zum größten Investor Iraks auf. Außerdem sind 10.000 chinesische Facharbeiter an den irakischen Förderstätten beschäftigt.8 Als ISIS im Irak aktiv wurde, saßen 1.250 chinesische Facharbeiter über mehrere Wochen wegen der Auseinandersetzungen zwischen irakischen Streitkräften und Dschihadisten fest, was man in Peking mit großer Sorge zur Kenntnis nahm.9

Erdölvorkommen im Irak


Angesichts der Eskalation der Gewalt forderte China die internationale Gemeinschaft zu einer sofortigen Reaktion auf und unterstützte sämtliche diesbezüglichen Debatten und Resolutionen der UNO.10 Damit steht China paradoxerweise an der Seite der USA, seines größten Konkurrenten auf irakischem Boden. Mit dem Ziel, 80 Prozent der irakischen Ölreserven bis 2035 in den Zugangsbereich chinesischer Staatskonzerne zu bringen bzw. 8 Millionen Barrel pro Tag zu fördern, hat China nicht das geringste Interesse, die Kosten eines neuen Krieges zu tragen.11

Durch die aktuelle Krisensituation hat der Irak an wirtschaftlicher Attraktivität verloren, zumal die Infrastruktur zunehmend veraltet ist. Angesichts steigender Preise für irakisches Öl könnte sich die EU nach Iran umorientieren, und China nach Russland, mit dem es ohnehin seine diplomatischen Beziehungen intensiviert hat. Letztlich dürfte die Bedrohung, die der Islamische Staat darstellt, eine ganze Reihe von Erdöl-Großprojekten gefährden, darunter den Bau von zwei Pipelines durch PetroChina, die China mit dem Irak verbinden sollen.

Das irakische Kurdistan wiederum mit mehr als einem Viertel der Erdölreserven des irakischen Staates und geschätzten Gasreserven von 5.000 Milliarden Kubikmetern dürfte verschont bleiben, denn inzwischen hat es nicht nur Verhandlungen mit den auf dem eigenen Territorium aktiven (vornehmlich westlichen) Erdölgesellschaften eingeleitet, sondern auch damit begonnen, in Eigenregie Erdöl in die Türkei zu exportieren, das für die Türkei billiger kommt als russisches Erdöl. Die Streitigkeiten mit der irakischen Zentralregierung hat das nur noch verschärft, zumal der frühere schiitische Ministerpräsident Nuri al-Maliki die Autonomie Kurdistans infrage stellte. Die Autonome Region Kurdistan, die über eine eigene Gesetzgebung verfügt, setzt heute auf die Erdöl-Karte, um auch die politische Unabhängigkeit zu erlangen.12 Dieses Ziel könnte durchaus erreicht werden, sollte der Konflikt mit dem Islamischen Staat zu einer Teilung des Irak führen.

US-Invasion und Zerfall des Irak (2003–2011)

Die amerikanisch-britische Intervention im Irak begann im März 2003, drei Wochen später wurde Bagdad erreicht. Die Koalition übertrug ab April die Staatsführung einer unter ihrer Aufsicht stehenden Regierung, löste die Baath-Partei von Saddam Hussein auf und entließ alle Kader der Diktatur, womit das Land über Nacht seine gesamte politische Elite verlor, was den Übergangsprozess erheblich erschwerte. Im Sommer 2003 gab eine Anschlagsserie in Bagdad den Auftakt zu einer endlosen Reihe von Explosionen und zahllosen Opfern unter der Zivilbevölkerung. Die USA stießen nicht nur auf den heftigen Widerstand der Sunniten, die sie entmachtet hatten, sie mussten auch gegen schiitische Milizen in Bagdad und im Süden des Landes vorgehen: Ihr Demokratisierungsvorhaben fand nirgends Widerhall.

Im sunnitischen Gebiet entzog sich das „Todesdreieck“ Tikrit–Falludscha–Ramadi trotz erbitterter Kämpfe im Jahr 2004 dem Zugriff der amerikanischen Streitkräfte. Der Aufstand von Falludscha bereitete den US-Truppen große Probleme. Auf schiitischer Seite stießen die Streitkräfte der amerikanisch-britischen Koalition auf den erbitterten Widerstand der Mahdi-Armee, der Miliz des Imams Muqtada as-Sadr. Die Anschläge im schiitischen Gebiet gefährdeten die US-amerikanische Präsenz, die schließlich nur durch Wahlen im Januar 2005 weiter gewährleistet werden konnte, bei denen die Schiiten und Kurden als Sieger hervorgingen. Die Sunniten waren den Urnen weitgehend ferngeblieben und bereiteten so das Terrain für ihre eigene Marginalisierung und ihre Ressentiments der kommenden zehn Jahre vor. Am 6. April 2005 wurde der Kurde Dschalal Talabani vom irakischen Parlament in der Hoffnung zum Staatspräsidenten gewählt, dass er die Teilung des Landes besiegeln oder einen Föderalismus einführen würde, der Kurdistan die völlige Autonomie verschaffte. Wieder fühlten sich die Sunniten, die die Einheit des Landes mit der Baath-Partei aufgebaut hatten, geprellt. Die Hinrichtung von Saddam Hussein im Dezember 2006 nach einem zweifelhaften Prozess verstärkte nur noch ihren Hass auf die Zentralregierung, in der hauptsächlich Schiiten saßen, die mit der Besatzungsarmee gemeinsame Sache machten.

Infolge der Vereinbarungen zwischen den USA und der schiitischen Mehrheit sowie einer besseren Koordinierung der Streitkräfte und der Nachrichtendienste sank die Zahl der gewaltsam zu Tode gekommenen Zivilisten der Gruppe Iraq Body Count (IBC) zufolge von 30.000 im Jahr 2006 auf 9.600 im Jahr 2008 und auf 4.000 zwei Jahre später. Doch das Zentrum des Landes und die Hauptstadt versanken immer mehr im Chaos, geschürt durch konfessionellen Hass. Mit Unterstützung schiitischer Milizen und amerikanischer Sondereinheiten übte die Zentralregierung Druck auf ehemalige Anhänger der Baath-Partei und die Sunniten aus. Auf beiden Seiten trieben informelle Gruppen – eine Mischung aus Verbrecherbanden und Terrormilizen – ihr Unwesen mit Entführungen, Erpressungen und Morden. Ab Frühjahr 2004 gab es die ersten Anzeichen dafür, dass sich al-Qaida nahestehende Kämpfer auf irakischem Boden aufhielten. Sie hatten es beim Anschlag vom 19. Dezember 2004 auf die Regierungstruppen, schiitische Wohngebiete und die Mausoleen von Kerbela und Nadschaf abgesehen.

Zwischen 2004 und 2006 bildeten sich zahlreiche militante sunnitische Gruppierungen, die von den USA, der irakischen Armee und schiitischen Milizen bekämpft wurden. Anfangs setzten sie sich aus ehemaligen Soldaten der Republikanischen Garde und der irakischen Armee und aus ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei zusammen, aber viele radikalisierten sich, verschrieben sich dem Islamismus und nahmen schließlich auch ausländische Dschihadisten in ihre Reihen auf. Darunter sind zu nennen:

– die antischiitische kurdische Armee der Verteidiger der Überlieferung (Dschaysch Ansar as-Sunnah), sie schloss sich dem Netzwerk von Osama bin Laden an;

– die Islamische Armee im Irak (IAI), mit besonders vielen Mitgliedern, aber seit 2007 gegen die vorgenannte Gruppierung gerichtet, der sie die Gefolgschaft verweigerte;

– das Einheitsbekenntnis und Heiliger Krieg (at-Tauhid wal-Jihad), formierte sich in den 1990er Jahren und unterstand Abu Musab az-Zarqawi. Der Erzfeind der Schiiten wurde 2006 bei einem amerikanischen Luftangriff getötet. Nachdem er die Führung über den militärischen Zweig von al-Qaida im Irak übernommen hatte, gründete seine Bewegung 2006 den Islamischen Staat im Irak (ISI), ein virtuelles, terroristisches Emirat unter Führung von Abu Umar al-Baghdadi, einem Iraker, der sich „Emir“ nannte (arab. „Befehlshaber“), wie im Mittelalter die Provinzgouverneure des Islamischen Reiches. Er wurde von Osama bin Laden unterstützt. Baghdadi wurde 2010 getötet. Aus dieser Organisation ging 2013 der Islamische Staat im Irak und in Syrien (ISIS) hervor, auf Arabisch al-Daula al-Islamiyya fi-l-Iraq wa-l-Sham oder kurz Da‘ish. 2010 zählte diese Gruppierung nicht mehr als 1.000 Männer und führte ihre Operationen im Schatten von al-Qaida durch, doch dann machte sie sich den syrischen Bürgerkrieg und die Durchlässigkeit der Grenzen zunutze, um sich zu vergrößern. Ab 2007 wurde die religiöse Indoktrinierung in der Bewegung verstärkt und vereinheitlicht, während das amorphe Gebilde von al-Qaida doktrinäre Unterschiede durchaus zuließ. Nach Abu Umar al-Baghdadis Tod wurde Abu Bakr al-Baghdadi zu seinem Nachfolger bestimmt. Er leistete einen Gefolgschaftseid auf Aiman az-Zawahiri, den Stellvertreter von Osama bin Laden seit dessen Tod im Mai 2011. Durch den Anschluss an al-Qaida profitierte Da‘ish von den Ratschlägen, Trainingslagern, Netzwerken und vor allem vom Ansehen der Terrororganisation.

Man zählt noch ein gutes Dutzend weiterer Organisationen, die alle aus Katiba, kleinen autonomen Kampfgruppen, bestehen. Geheimdienst haben allein in Syrien 7.000 davon ausgemacht. Das Ganze ist ein amorphes Gebilde, dessen Teile über vasallenartige Bande mit einem Chef verbunden sind, der eine Art mittelalterlicher Emir ist. Aus diesen sehr flexiblen, wenig hierarchischen Gruppierungen entsteht schließlich das Islamische Kalifat.

Nuri al-Maliki führt den Irak in die Sackgasse

Um dem von al-Qaida geschürten Chaos zu begegnen, suchten die irakische Regierung und das amerikanische Militär auf Betreiben von US-General David H. Petraeus ab 2007 auch den Rückhalt der im Zentrum des Landes beheimateten sunnitischen Stämme. Zu diesem Zweck bildeten sie sogenannte Sahwa-Komitees (as-sahwa bedeutet „Erwachen“). Diese Milizen aus Aushilfs-Sicherheitskräften stellten so etwas wie sunnitische Nationalgarden dar und wurden mit Waffen ausgestattet, um die islamistischen Bewegungen zu bekämpfen. Mehr als 100.000 Stammeskämpfer dienten dem irakischen Staat mit der Aussicht, eines Tages in die Ränge der staatlichen Sicherheitsdienste aufgenommen zu werden.13 Tatsächlich konnte auch dank der Hilfe dieser Milizen und der durch sie vertretenen Stämme über mehrere Jahre hinweg die Zahl der Toten und der Anschläge vermindert werden.

Doch Ministerpräsident Nuri al-Maliki (2006–2014) war zu schwach, um eine Einigung herbeizuführen, und er ließ zu, dass sich das Chaos in einem Land ausbreitete, in dem das Miteinander der Volksgruppen bis 2003 auf Unterdrückung der einen und Begünstigung der anderen beruhte. Der starke Einfluss der USA auf die irakische Regierung untergrub deren Legitimität, eine Politik des Ausgleichs wurde nicht eingeleitet. Ein Beispiel: Die im September 2005 gemeinsam von 10.000 irakischen und amerikanischen Soldaten durchgeführte Offensive gegen Aufständische in Tal Afar zwang an die 300.000 sunnitischen Turkmenen zur Flucht. Die Stadt Tal Afar galt als Hochburg der von al-Qaida gesteuerten irakischen Guerilla. Ziel war die Jagd auf Terroristen, aber es war die gesamte Bevölkerung, die unter den Razzien zu leiden hatte und aus ihren Häusern vertrieben wurde. Dieser amerikanisch-irakische Überfall beeinträchtigte unmittelbar die ohnehin schon geringe Akzeptanz des irakischen Staates unter Besatzungsstatut. Die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten: Die Offensive gegen Tal Afar wurde am 10. September eingeleitet, vier Tage später erschütterte darüber hinaus eine Serie von elf Anschlägen, die gegen Schiiten gerichtet waren, die Hauptstadt Bagdad.

Der Abzug der amerikanischen Truppen wurde von US-Präsident Barack Obama zwar beschleunigt und war Ende 2011 abgeschlossen, aber damit wurde Ministerpräsident al-Maliki, der auch im eigenen Lager umstritten war, allein die Regierung seines zersplitterten Landes überlassen. Sein autoritärer Regierungsstil schürte den Hass der sunnitischen Stämme und ebnete den Weg für ihren Anschluss an jene Gruppierungen, die später Da‘ish gründeten. Al-Maliki ließ die Sahwa-Komitees auflösen und brach damit sein Versprechen auf offizielle Anerkennung ihrer Dienste.14 Immer wieder wurden Sunniten durch schiitische Milizen und Soldaten gedemütigt, ob bei Polizeikontrollen, in Gefängnissen oder auf der Straße; Prügel, Beleidigungen, sogar Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Dörfer wurden bombardiert. Laut UN-Angaben wurden allein 2013 insgesamt 8.000 Menschen getötet. In den Medien beschimpfte der Ministerpräsident die „Aufsässigen“ pauschal als Agenten von al-Qaida. Die dadurch geschürte Entrüstung war ein günstiger Nährboden für die Ausbreitung des religiösen Extremismus unter den Sunniten.

2013 richtete der in Falludscha und Ramadi allgegenwärtige Stamm der Jumaila, der die amerikanischen Soldaten bekämpft hatte, als Gegenkraft zu den Streitkräften al-Malikis eine militärische Kommandoeinheit aus Klanführern und ehemaligen Saddam-Offizieren ein, um den Volkswiderstand zu mobilisieren. Shaikh Hamud al-Jumaili leitete die Operationen: Schutzmaßnahmen und öffentliche Kundgebungen (Demonstrationen, Sit-ins).15 Doch im November 2013 wurde al-Jumaili durch Regierungstruppen gefangengenommen und ermordet. Auf dieselbe Weise wurden noch weitere sunnitische Oberhäupter gefasst und umgebracht, darunter im Januar 2014 auch der Abgeordnete Ahmad al-Alouani.16 Zur selben Zeit eroberten ISIS-Dschihadisten mehrere Viertel von Falludscha; Teile der Bevölkerung flohen aus der Stadt, die Männer bildeten Selbstverteidigungsmilizen und schlossen sich den ISIS-Leuten an, um die „antiterroristische“ Offensive der Regierungstruppen aufzuhalten.17

Diese beschossen, Human Rights Watch zufolge, ein Krankenhaus und Wohnquartiere mit Fässern voller Sprengsätzen. Für viele sunnitische Iraker war al-Maliki eine Marionette im Dienste Teherans, das auf eine iranische Vergeltung für den irakisch-iranischen Krieg von 1980–1988 sann.18 Eine neue Anschlagsserie gegen die Schiiten war die Reaktion, und das Ansehen von al-Qaida wuchs weiter, ganz ohne dass das im Untergrund operierende Netzwerk seine Präsenz vor Ort ausbaute.

Bei der Bildung der irakischen Regierung im Jahr 2003 erfolgte die Vergabe der wichtigsten Ämter nach konfessionellen und ethnischen Kriterien, nicht nach individuellem Verdienst um das Gemeinwohl. Die Hilfe des Westens für den Wiederaufbau des Landes floss hauptsächlich in die Ölförderanlagen, wobei systematisch amerikanische Firmen bevorzugt wurden; die Iraker wurden nicht zurate gezogen.19 Das Ende der US-amerikanischen Präsenz im Irak hat auch das Schicksal eines moribunden Staates besiegelt, in dem ausnahmslos alle Ministerien im eigenen – regionalen oder ethnischen – Interesse tätig waren. Davon zeugen die zahllosen Demonstrationen gegen die Staatsmacht, von denen einige in einem Blutbad endeten, so in Huweidscha im April 2013, als bei Zusammenstößen mehr als 50 Menschen starben.20 Dieses wiederholte Blutvergießen hatte politische Konsequenzen: Zwischen März und April verließen vier Minister sunnitischer Konfession die Koalitionsregierung. Dass es schlecht um den Staat bestellt war, war allenthalben ein offenes Geheimnis.

Der Krieg in Syrien im Hintergrund (2011–2014)

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