Kitabı oku: «Krähwinkeltod», sayfa 3

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Jetzt kam erst einmal ein grünes Schild mit gelben Buchstaben. Das waren die neuen Ortsteilbezeichnungen. Seit acht Jahren war das Dorf kein eigenständiges Dorf mehr, sondern eingemeindet worden. Der offizielle Name war seitdem »Siedlung Krähwinkel – Gemeinde Ruppiner Heide«.

Flachbein war das egal. Er nannte die vierzehn Häuser inmitten der Felder einfach nur das Dorf.

So wie alle anderen Einwohner auch. Nur die neuhinzugezogenen Leute sprachen von der Siedlung. Das klang immer wie Sibirien, dort gab es Siedlungen. Aber man war nicht in Sibirien, sondern mitten in Deutschland!

Gleich würde er das grüne Schild passieren, dann war er wieder zurück. Eine schwarze Wolke erhob sich kurz vor ihm. Krähen hatten es sich im Straßengraben und auf dem Feld gemütlich gemacht. Wer weiß, was sie gefunden hatten.

Er war schon fast am Schild vorüber, als er die dunkle Gestalt im Straßengraben liegen sah. Zuerst dachte er, es sei ein Vagabund, so wie er auch, der einfach verschlafen hatte.

Doch dann sah er die vielen dunklen Flecken. Das war getrocknetes Blut. Fliegen schwirrten herum. Er traute sich nicht, nachzusehen, wer da im Straßengraben lag.

Schnellen Schrittes lief er ins Dorf. Er brauchte ein Telefon. Sofort. Nein, so was war ihm noch nie vorgekommen. Ein Toter am Straßenrand. Und direkt vor seinem Dorf!

Flachbeins Atem ging schneller. Elvira war ihm entgegengekommen. Sie schaute ihn verstört an. So hatte sie ihren zigeunernden Ehemann ja noch nie erlebt. Mit weit aufgerissenen Augen stammelte er etwas von einem Toten im Straßengraben, und dass die Polizei kommen müsse, es gäbe auch viel Blut.

Ob er fantasiere, fragte sie ihn. Es würde kein Mensch vermisst im Dorf. Da wäre niemand. Wer weiß, was er gesehen habe, vielleicht ein totes Tier.

Flachbein wurde ungehalten. Er wisse wohl, wie ein überfahrenes Reh aussehe, und Rehe trügen keinen Kapuzenpullover, das sei nun einmal Fakt.

Elvira schüttelte den Kopf. Sie war ja froh, dass er wieder gesund und munter zurück gekommen war von seiner Tour. Immer hatte sie Angst, dass ihm etwas passieren könnte.

Mit zitternden Fingern wählte Ernst Flachbein die Eins-Eins-Null. Eine hohe Frauenstimme fragte ihn, ob er Hilfe benötige. Flachbein schilderte kurz seinen Fund, dann legte er auf.

Elvira sah ihn immer noch etwas ungläubig an. Doch nach zwanzig Minuten rollte ein Polizeiauto auf den Hof. Zwei Uniformierte stiegen aus, grüßten höflich und ließen sich von Flachbein noch einmal schildern, was er da im Straßengraben entdeckt habe. Dann nahmen sie ihn mit im Polizeiwagen, er solle doch die Stelle zeigen. Eine Stunde später wimmelte es im Dorf vor Polizei. Ein Krankenauto und ein Leichenwagen waren ebenfalls vor Ort, dazu noch zahlreiche Zivilfahrzeuge. Die Landstraße am Ortseingang war mit rotweißem Flatterband abgesperrt worden.

Flachbein saß in einem weißen Kastenwagen und unterzeichnete das Zeugenprotokoll. Die Leiche aus dem Straßengraben war eines unnatürlichen Todes gestorben. Ein Schnitt mit einem scharfen Messer hatte die Kehle durchtrennt. Der Anblick war selbst für die durch zahlreiche Verkehrsunfälle abgehärteten Beamten gewöhnungsbedürftig.

Nach vier Stunden kam das Dorf wieder zur Ruhe.

Ende der Schonzeit

Das Morgen von gestern ist das Gestern von morgen,

man nennt es auch Heute.

Ein Spruch von Regina Pepperkorn, Profilerin


Ausländer, Fremde, sind es meist, die unter uns gesät den Geist der Rebellion. Dergleichen Sünder, Gottlob! sind selten Landeskinder.

Der Obrigkeit gehorchen, ist die erste Pflicht für Jud und Christ. Es schließe jeder seine Bude. Sobald es dunkelt, Christ und Jude.

Wo ihrer drei beisammen stehn, da soll man auseinander gehn. Des Nachts soll niemand auf den Gassen sich ohne Leuchte

sehen lassen.

Es liefre seine Waffen aus ein jeder in dem Gildenhaus; Auch Munition von jeder Sorte wird deponiert am selben Orte. Wer auf der Straße räsoniert, wird unverzüglich füsiliert; Das Räsonieren durch Gebärden soll gleichfalls hart bestrafet werden.

Vertrauet Eurem Magistrat, der fromm und liebend schützt den Staat. Durch huldreich hochwohlweises Walten; euch ziemt es, stets das Maul zu halten.

Heinrich Heine: »Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen« 1834/1835

I

Potsdam

Montag, 1. Oktober 2007

Die Woche begann für Linthdorf mit einem unerwarteten Rapport bei seinem Chef, Kriminalrat Dr. Nägelein.

Seit seiner Rückkehr ins Berufsleben war Hauptkommissar Linthdorf mit keinem neuen Fall betraut worden. Er fristete ein unbefriedigendes Schattendasein im Innendienst. Sortierte Akten, archivierte, registrierte, kopierte, fotografierte, telefonierte …

Linthdorf kam Mitte Juni zurück von einer sechswöchigen Kur. Er erschien den Kollegen gegenüber schmaler und weniger präsent als zuvor. Natürlich, Linthdorf war noch immer eine imposante Erscheinung. Seine lichte Höhe von zwei Metern und vier Zentimetern war einfach nicht zu übersehen.

Aber seine sonst von allen wahrgenommene, starke körperliche Präsenz war nicht mehr so intensiv. Auf Kur hatte er zwölf Kilogramm abgenommen. Das sei für sein angegriffenes Herz gesünder, hatten die Ärzte ihm gesagt. Er hielt sich daran, versagte sich öfters Dinge, die er sonst mit viel Genuss zelebriert hatte.

Keine Schokolade mehr und keine Kekse. Auch die Limonaden verschwanden aus seinem Kühlschrank. Dafür nagte er jetzt öfters Äpfel und Birnen ab. Seine Mittagsportionen waren auch nicht mehr dieselben wie früher. Vorsuppen verschwanden, Nachttisch ebenfalls.

Nägelein hatte bei seiner Rückkehr darauf bestanden, ihm eine sechsmonatige Schonzeit im Innendienst zu verordnen. Linthdorf protestierte zwar, war aber letztlich mit der Weisung Nägeleins ganz gut klargekommen.

Er war ausgeglichener, fühlte sich zufriedener und glücklicher. Die Melancholie, die sonst immer ein wenig seine offen zur Schau gestellte Freundlichkeit begleitete, war verschwunden. Linthdorf war angekommen im Hier und Jetzt. Nur selten noch gönnte er sich lethargische Auszeiten, in denen er grübelnd und seufzend den vergangenen Zeiten nachhing. Die dunklen Schatten der Vergangenheit schienen keine Macht mehr über ihn zu haben.

Der Innendienst brachte neben der etwas eintönigen Arbeit auch einen regelmäßigen Wochenrhythmus mit sich. Die Wochenenden waren frei, Linthdorf hatte plötzlich den Luxus, über zwei freie Tage an jedem Wochenende zu verfügen.

Freitagabend fuhr er mit seinem geliebten SuV Richtung Thüringen, nach Weimar. Dort blieb er bis Montag früh. Seit seinem Kuraufenthalt hatte er Thüringen als Kulturland für sich entdeckt. Aber der Hauptgrund für die Wochenendfahrten war ein ganz anderer: er war groß, blond und lächelte ihn an. Milena.

Milena war in Linthdorfs Leben gekommen wie ein Regenschauer, der auf trockene Erde fiel. Sie war intelligent, kultiviert, sinnlich, eben alles, was er brauchte, um mit sich ins Reine zu kommen und dabei gleichzeitig für andere wieder da zu sein. Sie war sein Ruhepol und Energiequell.

Im Sommer waren sie zusammen verreist. Mit dem Auto bis nach Mostar in Bosnien-Herzegowina, Milenas alte Heimat. Eine abenteuerliche Tour war es geworden. Über Dresden, Prag, Wien nach Ljubljana, dort in den Karawanken ein paar Tage geblieben, einen Abstecher nach Triest in Italien, dann weiter nach Istrien, Rijeka, entlang der dalmatinischen Küste bis Dubrovnik. Schließlich Mostar mit seiner zauberhaften Kulisse, der wiedererrichteten Brücke über der grünschimmernden Neretva und dem Besuch bei Milenas Mutter und ihren Verwandten. Zurück dann über Sarajevo, Budapest, Bratislava. Eine dreiwöchige Reise.

Linthdorf hatte schon viele Jahre keinen wirklichen Urlaub mehr gemacht. Meist verbummelte er seine Urlaubstage. Aber den heißen Sommer in diesem Jahr hatte er voll ausgekostet. Gut erholt war er zurückgekommen. Alle sahen einen braungebrannten und heiteren Linthdorf, der leise summend an seinem Schreibtisch saß und seine Ordner bearbeitete.

Die Wochenenden hatte er meistens bei Milena in Weimar verbracht. Sie gingen ins Theater zu Goethe und Schiller, hatten die gesamte Umgebung der alten Residenzstadt erkundet, Ausflüge zum Kyffhäuser und nach Altenburg gemacht, die Dornburger Schlösser besucht und waren auf die Burgruinen der Drei Gleichen geklettert. Ein Wochenende waren sie bei Tom Hainkel in Schmalkalden gewesen, ein anderes Wochenende bei Angela Zeimitzsch in Rudolstadt.

Die Zeit verging wie im Fluge. Eigentlich war Linthdorf mit dem gegenwärtigen Status ganz zufrieden. Sein Thüringer Intermezzo als Hobbydetektiv war in der Potsdamer Dienststelle nicht bekannt geworden, nur ein Bericht der Saalfelder Polizei war auf verschlungenen Dienstwegen zu Dr. Nägelein gelangt. In dem Bericht wurde die Rolle des KHK Linthdorf bei der Ergreifung einer offensichtlich geistig gestörten Person in der Thüringen-Klinik Saalfeld lobend erwähnt.

Nägelein war irritiert. War die Kur Linthdorfs nicht in Bad Liebenstein? Wie kam er dann nach Saalfeld? Gehörte Liebenstein zu Saalfeld? Er kannte sich mit den Örtlichkeiten in Thüringen nicht so genau aus.

Aber Linthdorf zu fragen, erschien ihm auch nicht sehr ratsam. Wer weiß, was der dann wieder dachte.

Linthdorf klopfte an Nägeleins Tür. Ohne auf das »Herein« zu warten, trat er ein. Seit der Staatsaffäre vom letzten Winter war das Verhältnis der beiden Männer zueinander etwas verändert. Linthdorf wusste um die engen Verwicklungen Nägeleins mit den Oberen und Nägelein wusste, dass Linthdorf darüber Bescheid wusste.

Seitdem befanden sich die beiden Beamten in einer Pattsituation. Linthdorfs Herzinfarkt entspannte die Situation merklich. Er war erst einmal weit weg von den Ereignissen. Die Verhältnisse in Potsdam hatten sich gewandelt. Neue Namen waren in den Ministerien aufgetaucht, unbescholtene Namen, der Verdacht der Korruption war den neuen Namen fern.

Wie es Nägelein geschafft hatte, sauber aus der Affäre zu kommen, war allen ein Rätsel. Wurde Linthdorf daraufhin von seinen Kollegen angesprochen, zuckte er mit den Schultern.

Nein, er kannte sich da Oben nicht aus, wusste nicht, wer wessen Gönner war und welche Abhängigkeitsverhältnisse herrschten. Er wolle damit auch nichts wirklich zu tun haben. Es reiche schon aus, was der normale Alltag an Scheußlichkeiten bereithielt. Er war Kriminalist und kein intriganter Strippenzieher, der hinter den Kulissen dafür sorgte, dass bestimmte Personen zu Fall kamen. Es war ihm einfach zuwider.

Nägeleins Gönner waren auf alle Fälle noch in Amt und Würden. Er saß wieder fest im Sattel und agierte gewohnt selbstsicher und souverän. Linthdorf war das egal, Hauptsache er pfuschte ihm nicht ins Handwerk. Nägelein war seit den in der Akte »Arkadiertod« aufgedeckten Verstrickungen von Staatsmacht und Geld sehr vorsichtig geworden.

Linthdorf galt als unerbittlicher Spürhund, der, einmal losgelassen, die Spur bis zu ihrem bitteren Ende verfolgte. Selbst wenn es ihm seine Gesundheit kostete.

Aber den Mann im Innendienst versacken zu lassen war auch nicht das Richtige. Nägelein brauchte Erfolgsmeldungen. Brandenburg war nicht Chicago. Spektakuläre Fälle waren rar. Linthdorf war der Mann, der ihm die Publicity verschaffte, die er brauchte. Leider konnte er auf so einen Mann nun mal nicht verzichten. Seit der Affäre mit den toten Arkadiern war in diesem Jahr kein aufregender Fall mehr zu bearbeiten gewesen.

Da kam die Meldung der Wittstocker Polizeidirektion gerade richtig. Die Kollegen hatten in einem kleinen Dorf, eigentlich mehr einer losen Ansammlung von Häusern denn ein Dorf, eine unbekannte Leiche im Straßengraben entdeckt.

Offensichtlich war die Person mit einem Messerstich quer durch die Kehle getötet worden. Keiner der Ortsansässigen kannte sie. Das wäre doch etwas für Linthdorf. Der würde schon seine Schnüffelnase überall reinstecken. Offensichtlich schien es sich um eine Abrechnung im Kleinkriminellen-Milieu zu handeln. Also keine Gefahr, dass Linthdorf wieder irgendwelche Staatsaffären auslösen könnte.

Linthdorf saß Nägelein gegenüber, vor sich lag die blassgraue Mappe der Wittstocker Polizei. Mit der Vermutung, dass es sich bei den Tätern und auch beim Opfer möglicherweise um organisierte Bandenmitglieder handeln könne, hatte der Chef der Polizeidirektion kurzerhand die Mappe dem LKA übergeben. Für organisiertes Verbrechen waren die Kollegen in Potsdam zuständig.

Nägelein war sich sicher, dass Linthdorf begeistert seinem Innendienstposten Adieu sagen würde und die Ermittlung begänne. Aber der Kommissar blätterte eher lustlos in dem spärlichen Material herum, dass in der Mappe zusammengetragen war. Nein, Begeisterung sah anders aus.

»Na, Linthdorf, das ist mal wieder was nach Ihrem Geschmack. Freuen Sie sich doch! Endlich wieder im aktiven Dienst … Das haben Sie sich doch gewünscht.«

Linthdorf nickte stumm.

»Mehr haben sie nicht zu sagen?«

»Doch, doch. Ist schon ganz okay. Klar, mach‘ ich. Hatte mich inzwischen ganz gut an das ruhige Innendienstleben gewöhnt.«

»Mensch, Linthdorf! Sie und Innendienst. Das passt doch gar nicht. Sie brauchen doch immer ein bisschen Spannung.«

»Sie haben sicherlich recht, Herr Dr. Nägelein. Wieviel Leute bekomme ich?«

»Wen wollen sie denn?«

Linthdorf zuckte mit der Schulter. Grell-Hansen war inzwischen versetzt worden, war beim BKA gelandet. Petra Ladinski war im Urlaub.

»Wen können sie denn entbehren?«

Nägelein blätterte nervös in seinem Dienstplan herum.

»Fangen Sie doch erst mal an. Ich sehe zu, Ihnen ein paar kompetente Leute abzustellen. Bis dahin können Sie ja schon mal erste Ermittlungen durchführen.«

Linthdorf musste sich ein Lächeln verbeißen. Es war wie immer. Keine Leute, keine Leute!

Für Nägelein wurde ein Fall erst relevant, wenn es ans Eingemachte ging. Dann waren ganz plötzlich genügend Leute verfügbar. Aber so ein hässlicher Mord unter Kleinkriminellen war es nicht wert, mit ganzer Kraft bearbeitet zu werden.

»Na gut, dann fahre ich mal da hoch nach Wittstock.«

»Ja, fahren Sie. Viel Glück!«

Die ganze Unterredung hatte gerade einmal zehn Minuten gedauert. Linthdorf war überrascht. Normalerweise nutzte Nägelein solche Gelegenheiten doch immer, einen seiner berühmten Monologe zu halten. Hatte sich sein Chef etwa gewandelt? Oder wusste er, dass sein Monologisieren bei ihm auf taube Ohren stieß?

Egal, wichtig war, dass er wieder in den aktiven Ermittlerdienst zurückgekehrt war. Und dass schon vor Ablauf seiner Schonzeit.

Er fühlte sich plötzlich wieder in seinem Element. Den einzigen Nachteil der neuen Beschäftigung, die Unregelmäßigkeit und das Fehlen der Wochenenden, musste er Milena schonend beibringen. Jetzt war es erst einmal vorbei mit den Kulturwochenenden in Weimar. Aber vielleicht konnte sie ja auch zu ihm kommen?

Die kleine Wohnung im Friedrichshain war groß genug und Zeit zu zweit würde sich auch finden.

Außerdem gab es ja noch Tiffany, seine bunte Glückskatze, die sich bestimmt auch freute, wenn sie etwas mehr Zuwendung bekam. Er hatte sie in letzter Zeit sträflich vernachlässigt. Sie miaute immer schon recht anklagend.

Linthdorf hatte sich die blassgraue Mappe mitgenommen und zog sich damit in sein kleines Büro zurück. Vorab wollte er alle bekannten Fakten studieren. Nichts war schlimmer, als bei den Kollegen aufzulaufen und von nichts Ahnung zu haben. Sehr schnell war man mit einem negativen Vorzeichen behaftet, dass nur schwer umzuwandeln war.

Linthdorf kannte die Vorurteile vieler Kollegen gegenüber den Leuten aus dem LKA. Um effektiv zu arbeiten, mussten schon alle an einem Strang ziehen. Das funktionierte nur, wenn alle eben auch das Gefühl hatten, auf derselben Seite des Stranges zu stehen.

II

Wittstock

Montag, 1. Oktober 2007


Was sind das nur für Namen?

Ihr Klang in der Seele hallt,

erzählt von Menschengenerationen,

die hier, in den großen Ebenen wohnten

und die Zeit ertrugen.

Von Slawen gegründet,

christliche Missionare bauten erste Kirchen,

deutsche Händler querten die Flüsse,

flämische Bauern rodeten Wälder,

böhmische Siedler brauten Bier,

Hugenotten brachten ein Stück Kultur,

Napoleons Truppen kamen zu Fall,

russische Soldaten waren überall.

Der Schatten der Jahre ist spürbar noch,

im Antlitz der Städte; Ziegelmauern, dunkelrot,

Fachwerk, ergraut, alte Eichen, schwarzbraun,

Holperpflaster, oft geflickt, bleigrau,

alles durchsetzt mit dem ockernen Lehm der Mark,

der getränkt mit Schweiß und Nieselregen.

Man könnte sie trostlos nennen,

spärlich sind die Äußerungen der Freude,

die Leute, eher schüchtern und still,

auf das Besondere wartend,

im trägen Getriebe der Zeit,

bleiben in ihren Städten zurück, zufrieden

mit dem kleinen Glück, langsamen Verrinnens

der Jahre; die Jüngeren versuchen, zu entflieh’n

ins große Welttheater, jedoch im Herzen noch

den alten Takt ihrer Welt bewahrend.

Die alte Bischofsstadt Wittstock verblüffte mit einer vollkommen intakten Innenstadt, umgeben von einer kompakten Stadtmauer und der trutzigen Bischofsburg darinnen. Die Bischöfe zu Wittstock residierten hier wie Kleinkönige. Im Dreißigjährigen Krieg tobte vor den Toren der Stadt eine der blutigsten und verlustreichsten Schlachten. Die Schweden kämpften mit ihren Verbündeten gegen die Kaiserlichen. Wer Sieger blieb, war unwichtig. Nach der Schlacht war die Gegend verwüstet. Wittstock zählte noch achtzehn Einwohner. Es dauerte lange bis sich die Stadt von der Katastrophe erholt hatte.

Das Schlachtfeld selbst wurde gefunden und als Freilichtmuseum begehbar gemacht. Beim Erkunden der Stadt bemerkt man nichts mehr von diesen Schrecken. Wittstock ist heute eine schöne Stadt.

Linthdorf kurvte mit seinem Wagen durch die Altstadt von Wittstock. Die Polizeidirektion war irgendwo unweit vom Marktplatz. Einbahnstraßen schickten ihn jedoch immer wieder weg vom Zentrum. Entnervt parkte er den Wagen in einer stillen Seitenstraße und ging zu Fuß.

Das Wetter war merklich schlechter geworden. Es regnete. Die Prignitz galt als Brandenburgs niederschlagsreichste Region. Wittstock war zwar noch der Ostprignitz zugehörig, die rein administrativ mit dem Ruppiner Land den Landkreis Ostprignitz-Ruppin bildete, hatte aber klimatisch bereits alle Eigenheiten der westlich gelegenen Prignitz vorzuweisen.

Linthdorf zog sich seinen Hut, den er aus dem Sommerschlaf befreit hatte, tief ins Gesicht. Ein böiger Wind trieb ihm immer wieder Wassertropfen direkt ins Gesicht. Hier hatte der Herbst bereits Einzug gehalten. Das altehrwürdige Backsteingebäude, welches die Polizeidirektion von Wittstock beherbergte, war vom Regen blankgeputzt und schimmerte in dunklen Rottönen. Gerade wollte er die Schönheit des Gründerzeitbaus noch einen kleinen Moment auf sich einwirken lassen, als ein dienstbeflissener Polizist aus der Tür trat und ihn fragte, ob er der Mann aus Potsdam sei. Linthdorf nickte.

Der Uniformträger führte ihn durch zwei dunkle Flure und ein Treppenhaus mit knarrenden Stufen in den ersten Stock. Die Büros waren erstaunlicherweise hell und gemütlich.

Ein drahtiger, etwas zu kurz geratener Mann mit Igelschnitt sprang auf und begrüßte ihn.

»Schönen juten Tach! Schwertfejer, Oberkommissar. Sie sind der Mann aus Potsdam? Lin …?«

Linthdorf nickte. »Linthdorf, korrekt. LKA Potsdam.«

»Na, dann kommense ma!«

Schwertfeger öffnete die Tür zu einem größeren Konferenzraum, der direkt neben den Büros der Abteilung der Kripo lag.

Linthdorf folgte dem drahtigen Oberkommissar. Eine junge Kollegin in Uniform huschte herbei, stellte Tassen auf den Tisch und brachte eine große Thermoskanne mit Kaffee heran.

Linthdorf nahm auf dem Stuhl direkt am Fenster Platz. So konnte er auch das Geschehen draußen auf dem geräumigen Marktplatz beobachten. Die Stadt hatte sich für den Nationalfeiertag gerüstet. Eine Bühne war aufgebaut worden. Wimpelketten flatterten zwischen den kleinen zurechtgestutzten Bäumchen, die den Platz säumten. Vor dem Rathaus war bereits ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung damit beschäftigt, die Fahnen aufzuziehen.

Schwertfeger schenkte Kaffee ein. »Zucker? Sahne?«

Linthdorf nickte wieder. »Ja, beides.«

Die beiden Männer rührten ihren Kaffee um. Jeder hoffte, dass der Andere mit dem Gespräch beginnen würde. Nach ein paar Sekunden Höflichkeitsschweigen begann Schwertfeger zu erzählen.

Kurz und knapp schilderte er den Leichenfund. Ein junger Mensch sei es gewesen, vielleicht Anfang Zwanzig. Genauer ließ es sich im Moment noch nicht feststellen. Kein Einheimischer. Lange Haare hätte er gehabt, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Und sehr dünn sei er gewesen, fast schon anämisch. Im Ohr ein Silberring und am Arm ein Tattoo. So ein Totenkopf, der komisch grinst. Das wäre alles, was es gäbe, um ihn zu identifizieren. In den Taschen seiner Röhrenjeans und des Kapuzenshirts war nichts weiter zu finden gewesen. Keine Papiere, keine Geldkarten, kein Handy. Der Tod war schnell gekommen.

Der Schnitt am Hals, wahrscheinlich mit einem sehr scharf geschliffenen Messer ausgeführt, habe die Schlagader durchtrennt, so dass der Unglückliche innerhalb weniger Minuten verblutete. Es muss wohl einen kurzen Zweikampf gegeben haben. Am rechten Arm hatten die Kollegen ebenfalls eine oberflächliche Schnittwunde gefunden. Vom selben Messer ausgeführt.

Verwertbare Spuren habe man leider keine, denn die Leiche lag schon mindestens drei Tage dort. Zwischendurch hatte es geregnet.

Linthdorf nickte, er hatte die blassgraue Mappe gelesen. Darin waren alle Fakten bereits in dem Bericht niedergeschrieben. Auch Fotos des jungen Bürschchens waren beigefügt. Keine schönen Bilder. Ein blasses, schmales Gesicht, die seltsam ausdruckslos ins Nichts starrenden Augen und wirre Haarsträhnen, die in die hohe Stirn fielen. Dann die Bilder der Wunden. Die tödliche Halswunde, ein vielleicht acht Zentimeter langer Schnitt, blutverkrustet, klaffend. Die Schnittverletzung am rechten Arm, knapp fünf Zentimeter lang, nur oberflächlich, dennoch auch stark blutverkrustet.

Der Fundort der Leiche, ein schäbiger Straßengraben inmitten einer tristen Felderlandschaft. Linthdorf war nach den Ermittlungen in den vielen Schlössern, Parks und kultivierten Gegenden plötzlich in der rauen Wirklichkeit des Landes Brandenburg angekommen.

Hier gab es nichts als die große, leere Weite und dem trübgrauen Himmel darüber. Er kannte die Landschaften, mochte sie. Sie zwangen ihn, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Nichts lenkte das Auge ab, keine Geräusche störten. Es war eine große harmonische Welt, deren Stille ein angenehmer Kontrast zum hektischen Berliner und Potsdamer Leben war. Und plötzlich wurde die Stille der leeren Weite gestört. Ein Toter, der durch eine grausame Messerattacke starb. Das passte nicht hierher.

Linthdorf verstand, warum die Wittstocker Polizei das LKA benachrichtigt hatte. Nein, diese Art von Verbrechen war in der ländlichen Ruhe der Ostprignitz selten anzutreffen. Hier gab es möglicherweise ein paar Schlägereien am Sonnabend zur Disco, manchmal auch einen Verkehrstoten oder einen Selbstmörder, der sich vor den Zug warf. Aber so etwas brachte die hiesigen Kollegen ins Grübeln.

Sie konnten es sich nur dadurch erklären, dass vielleicht eine Art Bandenkrieg zwischen Jugendgangs aus dem fernen Berlin oder sogar aus Hamburg einen Flüchtigen in ihre Gegend verschlagen hatte und der von seinen Widersachern aufgespürt und ermordet worden war.

»Können wir zum Fundort fahren?«

»Sicher. Ich komme mit. Kenn‘ mich hier aus.«

III

Siedlung Krähwinkel

Montag, 1. Oktober 2007


Die beiden Männer waren im Passat Schwertfegers losgefahren. Der Regen hatte aufgehört. Der Himmel war dennoch trüb und grau. Die Landstraße 16 führte schnurgerade kilometerlang durch die Gegend, ohne dass irgendwo ein Zeichen der Zivilisation auftauchte. Links und rechts endlose Ebenen, grasbewachsen, manchmal auch mit meterhohem Mais bedeckte Felder. Am Horizont ein dunkler Streifen, da, wo der Wald begann. Die L 16 querte inzwischen das ehemalige Militärsperrgebiet.

Nicht umsonst hatten sich die Militärs diese dünnbesiedelte Gegend für ihre Manöver auserkoren. Aber das war nun schon viele Jahre vorbei. Langsam wurde das ehemalige Sperrgebiet wieder von den Menschen der Gegend wahrgenommen.

Es gab Pläne, dass die Bundeswehr als legitimer Rechtsnachfolger der untergegangenen Armee die Sperrzone weiter nutzen wollte. Als Bombodrom!

Aber da regte sich ziviler Widerstand. Wozu man denn noch ein Bombodrom bräuchte? Schließlich war der Kalte Krieg doch vorbei. Und überhaupt, Krach von tieffliegenden Jagdfliegern und explodierenden Granaten, das müsse doch nicht sein. Wo leben wir denn?

Die Bürgerbewegung »Bombenfreie Heide« setzte alle Mittel in Bewegung, um die Pläne der Generäle zu durchkreuzen. Vor dem Bundesgerichtshof wurde über die Nutzung des Geländes erbittert gestritten. Die Alternative zum Bombodrom war ein Naturschutzgebiet. Dank des jahrzehntelangen Wildwuchses hatte sich eine ursprüngliche Heidelandschaft erhalten. Die Panzer waren als Ersatzschafe tätig, zerkleinerten alle hochwachsenden Bäume schon nach kurzer Zeit, so dass der Heidecharakter erhalten blieb.

Der einzige Nachteil waren die vielen Blindgänger, die auf dem ehemaligen Bombenabwurfgelände als tickende Zeitbomben herumlagen. Es würde Jahre dauern, bis die Flächen von Spezialisten freigeräumt würden. Aber das nahmen die Bürgerbewegungen in Kauf.

Schwertfeger berichtete Linthdorf über die Querelen. Er hatte Sympathien für die Naturschützer. Nach einer Viertelstunde kam eine Forellenzucht mit Räucherei und Verkaufsstand vorbei. Linthdorf schaute sehnsüchtig zu dem Stand. Schwertfeger war es nicht entgangen.

»Hunger?«

Linthdorfs Fischhunger war unersättlich. Er hatte schon immer Fisch gemocht. Als Schuljunge ließ er sich von seinen Mitschülern die Fischstäbchen geben, die von den anderen verschmäht wurden. Zuhause bereitete seine Mutter oft Fisch zu.

Frischer Fisch war zu DDR-Zeiten etwas Rares. Perleberg war zwar kein Mekka für Fischliebhaber, aber im Fischladen am Markt gab es stets ein gutes Angebot. Immerhin war Perleberg Kreisstadt und von der Fischereigenossenschaft im Elbland kamen stets frische Fische in den kleinen Laden. Seine Mutter arbeitete dort als Verkäuferin und hatte so immer den besten Zugang zu den begehrten Flossentieren.

Lange Jahre lebte Linthdorf nun schon nicht mehr in Perleberg, der Appetit auf Fisch war geblieben. Ja, der wuchs sogar noch. Speziell, seit es nach der Wende plötzlich Fisch in Hülle und Fülle gab. Ursprünglich fuhr Linthdorf nur ins Brandenburger Umland, um seinen Fischappetit zu befriedigen.

Er entdeckte Landgasthöfe mit erlesenem Fischangebot, besuchte Fischräuchereien und kaufte auch direkt bei den Fischern.

In seinem gutgefüllten Tiefkühler waren Zander, Hechte, Aale, Flussbarsche, Forellen, Saiblinge und andere Leckereien eingefroren, darauf wartend, von ihm zubereitet zu werden. Bekam Linthdorf Besuch, gab es meistens Fisch.

Das konnte Schwertfeger natürlich nicht wissen, aber er hatte bemerkt, dass sein Kollege gierige Blicke Richtung Forellenhof warf. Einträchtig standen die beiden Männer an einem kleinen Stehtisch und aßen mit großem Behagen zwei frisch geräucherte Forellen. Ein Genuss!

Linthdorf liebte den Geschmack, speziell wenn die Forellen noch warm waren und gerade aus dem Räucherofen kamen.

Innerhalb von zehn Minuten hatte er drei Forellen aufgegessen. Schwertfeger staunte nicht schlecht.

»War in meinem früheren Leben mal Kormoran«, grinste Linthdorf schuldbewusst. Schwertfeger knabberte immer noch an seiner ersten Forelle herum.

»Wo liegt denn die Siedlung Krähwinkel? Doch nicht direkt an der L 16? Da gibt es nur noch den Heimattierpark und sonst nichts mehr.«

Linthdorf konnte mit der Siedlung Krähwinkel nichts anfangen. Er kannte sich zwar ganz gut aus in der Gegend, aber alle Landstraßen waren von ihm noch nicht befahren worden.

Zumal er wusste, dass hier nicht viel zu sehen war. Außer endlosen Feldern gab es nichts.

»Stimmt, wir müssen kurz vor Kunsterspring abbiegen. Raus aus dem Naturschutzgebiet. Es ist eigentlich nur eine Ansammlung von zehn, zwölf Häusern. Siedlung ist da schon ein bisschen hochtrabend. Früher war es mal ein Vorwerk. Eben der Krähwinkel. Es gab da wohl einmal eine Posse oder ein Lustspiel, das spielte in einer Kleinstadt namens Krähwinkel. Die Leute vom Herrenhaus drüben im Ruppinischen fanden es eine lustige Idee, ihr Vorwerk nach dem Theaterstück zu nennen. Wer weiß, was sie dabei für Hintergedanken hatten. Dann kamen ein paar Häuser hinzu und fertig war die Siedlung. Ganz unspektakulär. Dort gibt es nichts außer Feldern und den paar Häusern. Was den armen Burschen dahingetrieben hat, ist mir rätselhaft.«

Sie setzten ihre Fahrt fort, zufrieden und gesättigt. Linthdorf schaute auf seine Uhr. Es war höchste Zeit, etwas zu essen. Drei Uhr vorbei. Seit heute früh um Acht hatte er nichts weiter zu sich genommen.

Schwertfeger bog ab. Die kleine, einspurige Straße war etwas holprig. Die Landschaft änderte sich. Anstelle der Bäume kam Buschwerk. Das verschwand nach fünf Minuten Fahrt ebenfalls. Vor ihnen lag eine große, eintönige Landschaft. Felder bis zum Horizont. Die meisten waren bereits abgeerntet. Dunkles Braun bestimmte die Szenerie. Nur ab und zu tauchten schmale Streifen mit den fahlgelben Maispflanzen auf, die noch auf ihre Ernte warteten.

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Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
Hacim:
502 s. 71 illüstrasyon
ISBN:
9783967525151
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