Kitabı oku: «Heimatlos – doch von Liebe getragen», sayfa 2

Yazı tipi:

Kapitel 2

Uwe betrat das Schulhaus. Ein Geruch, wie er jedem Schulgebäude eigen ist, strömte ihm entgegen. Der Junge hatte während der letzten Nacht schlecht geschlafen. Er war am Abend in der Wochenauswertung zu weit gegangen und die Quittung würde auf dem Fuße folgen. Helmut ließ das bestimmt nicht auf sich sitzen.

Zögernd betrat er das Mathematikkabinett. Helmut, ein stämmiger, Uwe um Haupteslänge überragender Bursche, stand bei Diana. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft. Bianka hielt sich vor dem Bücherregal auf und strich suchend mit ihren Fingern über die Buchrücken. Endlich fand sie das gesuchte Lehrbuch und brachte es zu ihrem Platz. Dietrich, ein Junge mit langen, fettigen Haaren und einem pickligen Gesicht, blätterte in seinem Buch.

Uwe ließ die Szenerie auf sich wirken. Alles machte einen friedlichen Eindruck. Helmut hatte offenbar nichts erfahren. Die Hälfte der Klasse fehlte noch. Fünf Minuten verblieben bis zum Beginn der Stunde. Uwe wühlte in seiner Schultasche nach den fertigen Hausaufgaben. Schließlich kam der Mathehefter zum Vorschein. Er legte ihn auf den Tisch, packte die Blindenschriftmaschine aus und spannte ein frisches Blatt ein. Zuletzt nahm sich Uwe ein Buch vom Regal. Kurz darauf stürmten die letzten Mitschüler in den Klassenraum.

„Hier stinkt es“, rief Katja angewidert und riss ein Fenster auf.

„Ein Zeichen dafür, dass Uwe schon da ist“, lachte Helmut.

Hektisch legten die Nachzügler ihre Unterrichtsmaterialien zurecht.

Kurz nach dem Klingelzeichen hastete Herr Wahrenhold in den Raum. Er war immer in Eile. Seinem dicken Bauch war der gute Appetit anzusehen. In der einen Hand trug er eine stark abgewetzte Tasche und in der anderen eine zusammengerollte Zeitung. Die Schüler standen auf. Hinter den Stühlen stehend verfolgten sie, wie ihr Mathematiklehrer in seiner Tasche kramte und verschiedene Dinge auf dem Tisch ausbreitete. „Wo ist das Klassenbuch?“, fragte er endlich.

Uwe, der das Buch jeden Morgen aus dem Lehrerzimmer holte und es tagsüber verwaltete, nahm es aus seiner Schultasche und brachte es zum Lehrertisch.

Herr Wahrenhold wartete, bis sein Schüler wieder hinter dem Stuhl stand. „Freundschaft!“, grüßte er die Klasse.

„Freundschaft!“

„Setzt euch! Ich diktiere nun einige Aufgaben, die ihr entweder gleich in der Mathestunde oder heute Nachmittag lösen könnt. Mir wäre es jedoch lieb, wenn ihr es sofort erledigt.“

Die Schüler rückten ihre Punkschriftmaschinen zurecht und warteten.

Nachdem alle Aufgaben diktiert waren, nahm der Lehrer seine Zeitung zur Hand und überließ die Klasse ihrer Arbeit.

Uwe war ein Kreuz in Mathe. Brüsk schob er die Maschine zur Seite. Am Nachmittag war auch noch Zeit. Er legte seinen Kopf auf die Tischplatte und glitt wenig später in das Reich seiner Tagträume.

Plötzlich stieß ihn sein Banknachbar an. Uwe griff nach einem Zettel, der auf seinem Schoß gelandet war. Er war also nicht der einzige Träumer in dieser Schulstunde. Jedenfalls schien jemand anderes genug Zeit zu haben, Briefe zu verschicken. Verwundert las Uwe: „M. liebt U.“ Der Junge stutzte. Mit „U.“ konnte nur er gemeint sein. Aber wer um alles in dieser Welt war „M.“? Die Matheaufgaben waren nun vollständig vergessen. Er zog seine Punktschrifttafel zu sich heran, legte den Zettel ein, nahm den Griffel und schrieb: „Wer ist M.?“ Und schon trat der Zettel die Rückreise an, doch Uwe wartete vergebens auf eine Antwort.

Er fand keine Ruhe. In seiner Klasse gab es nur ein Mädchen, dessen Vorname mit „M“ anfing: Meike. Und alle Mitschüler wussten, dass er und sie zusammen waren.

Wieder kam ein Zettel. „Komm heute Abend zur Disco.“

Das hatte er sowieso vorgehabt, und zwar nicht wegen irgendeines Mädchens, sondern wegen Meike. Endlich klingelte es zur Pause.

Deutsch, Englisch und Chemie überstand Uwe wie im Traum. Gespannt sah er dem Abend entgegen. Erstaunlicherweise ließ Helmut ihn an diesem Vormittag weitestgehend in Ruhe.

Zum Mittagessen gab es Brühnudeln, in denen einige Brocken Hühnerfleisch schwammen. Angewidert nahmen die Schüler das Essen entgegen. Es gab nur wenige, die es sich schmecken ließen. Die meisten strebten dem Futterkübel vor der Haustür zu. Auch Uwe jonglierte seinen bis zum Rand gefüllten Teller an den Tischen vorbei zur Tür des Speisesaals. Zu spät bekam er mit, dass Meike geradewegs auf ihn zukam. Im nächsten Moment stießen sie zusammen und sein voller Teller entleerte sich zwischen ihnen. Fassungslos sahen die beiden an sich hinab. Meike fand zuerst die Sprache wieder und lachte aus vollem Halse.

Schimpfend kam einer der Erzieher, Herr Eichenhorst, mit einem Eimer Wasser und einem Wischlappen heran. „Ich muss jetzt den ganzen Scheiß sauber machen.“

„Uns auch?“, fragte Meike, immer noch lachend.

„Ihr zieht euch erst einmal um. Macht aber hin. Ihr müsst zu den Hausaufgaben.“

Meike grinste. „Wo sollen wir denn hinmachen?“

Herr Eichenhorst, ein hochgewachsener, drahtig wirkender Mann, überhörte diese Frage. Er war einer der beiden Gruppenerzieher der achten Klasse. Trotz seiner cholerischen Art war er bei den Jugendlichen beliebt. In seiner Kirchgemeinde war er sehr engagiert. Leider musste Herr Eichenhorst im Dienst, wie viele andere auch, mit dem Strom schwimmen. Uwe würde viel später, nach der Internatszeit, erkennen, auf welcher Seite sein ehemaliger Erzieher stand. In seinem bisherigen Leben hatte er viele Lehrer und Erzieher kennengelernt, deren private Meinung gegenüber der Gesellschaft im Widerspruch zur Lehrmeinung stand. Wenn sie auch mit dem Strom schwimmen mussten, versuchten sie doch, den Kindern und Jugendlichen das Leben in Oberlensbach so leicht wie möglich zu machen. Leider musste Uwe, der in den späteren Jahren politisch eine stärker werdende Kontrastellung einnehmen würde, spüren, dass es Lehrer gab, die Informationen an staatliche Stellen weitergaben. Die Staatssicherheit machte auch vor den Toren der Blindenanstalt nicht halt. Herr Eichenhorst, der es als Gruppenerzieher der Klasse und auch im eigenen Kollektiv nicht leicht hatte, versuchte seiner christlichen Einstellung und dem Gesellschaftssystem in seinem Beruf gerecht zu werden und den Jugendlichen von der dritten bis zur zehnten Klasse gleichsam eine väterliche Bezugsperson zu sein.

Schnell verschwand Uwe im Schlafraum, um sich umzukleiden. Viel besaß er nicht. Es musste immer irgendwie reichen. Als er den Raum wieder verlassen hatte, traf der Teenager im Treppenhaus auf Meike.

„Hast du einen Moment Zeit?“, fragte sie vorsichtig.

„Ich muss Hausaufgaben machen. In Mathe habe ich gepennt.“

„Du kannst von mir abschreiben. Dann geht es schneller.“

„Hast du mir den Brief geschrieben?“, fragte er.

„Ja“, gab das Mädchen zu.

„Was willst du damit bezwecken?“

„Genau das, was ich dir geschrieben habe.“

„In dieser Klasse liebt mich keiner. Eines Tages bekommt Helmut seine Quittung. Ich schlage ihn krankenhausreif.“ Uwe nahm Meikes Hand und ließ sie über einige Narben an seiner linken Hand gleiten.

„Was ist das?“, fragte sie verständnislos.

„Brandblasen.“

„Wo hast du die her?“

„Es war im letzten Winter. Helmut übergoss meine Hand mit Benzin. Er behauptete, wenn ich stillhalte, würde das Benzin über meiner Hand abbrennen, ohne dass ich etwas spüre. Ich Idiot habe das auch noch geglaubt. Er nahm sein Feuerzeug und setzte das Benzin in Brand.“

Meike schwieg erschüttert.

„Ihr hättet alle zugeschaut, wenn ihr dabei gewesen wäret“, entrüstete sich Uwe.

„Hast du es jemandem erzählt?“

„Meinen Eltern habe ich gesagt, dass ein Schlitten über meine Hand gefahren ist. Es ist ja im Winter passiert.“

„Das tut mir leid. Es stimmt, was du mir gestern gesagt hast: Wir sind ein Sauhaufen. Nach außen tun wir schön, haben immer den ersten Platz im Altstoffsammeln, gestalten am besten von allen die Fahnenappelle aus und so weiter.“

Uwe unterbrach Meikes Redefluss. „Gibst du mir deine Matheaufgaben?“

„Die habe ich in meinem Schrank.“

Uwe grinste. „In den Mädchenschlafraum darf ich nicht.“

„Das merkt doch keiner. Ich werde dir nur die Aufgaben in die Hand drücken. Das wird ja wohl noch erlaubt sein. Davon bekommt man keine Kinder.“

Uwe folgte Meike in den ersten Stock, wo sich neben den Gruppenräumen auch die Mädchenschlafräume befanden. Nach einundzwanzig Uhr durfte sich auf dieser Etage kein Junge mehr aufhalten. Uwe blieb an der Schlafraumtür stehen, während seine Freundin ihrem Kleiderschrank den Zettel mit den Mathematikaufgaben entnahm. Langsam ging sie zu Uwe und blieb nah vor ihm stehen. Meike trug schulterlanges Haar. Für ihr Alter von vierzehn Jahren war sie klein und sehr dünn.

Ihr Freund beherrschte seine Neugier und zog sich, nachdem er den Zettel entgegengenommen hatte, langsam von ihr zurück. „Ich gehe jetzt ins Schulhaus und mache meine Hausaufgaben“, sagte er und wandte sich der Treppe zu.

„Uwe“, rief ihm seine Mitschülerin nach.

Der Angesprochene blieb stehen. „Was ist noch?“

„Gehst du heute Abend zur Disco?“

„Ja.“

„Nimmst du mich mit?“

„Sehr gern. – Ich muss jetzt los“, mahnte Uwe. Er rannte die Treppe hinunter, verließ das Haus und ging zum Schulgebäude. Uwe ging über eine große Treppe in die erste Etage. Oben angekommen blieb er stehen und lauschte. Vom Erdgeschoss her klang der Gesang des Kinderchores an seine Ohren. Des Stimmbruches wegen hatte er vor einiger Zeit die Teilnahme an diesem Chor aufgeben müssen. Rechts von ihm war aus einem Zimmer heftiger Lärm zu hören. In der sechsten Klasse war wohl wieder mal der Teufel los. Gemessenen Schrittes ging der Schüler nach links. Am Ende des riesigen Flures befand sich der Raum der achten Klasse. Uwe öffnete die Tür und betrat den Raum.

Helmut stand am Fenster. „Wer kommt da?“, fragte er.

„Ich bin es.“

„Ach, Uwe“, stöhnte der andere. „Du hast mich gestern verpfiffen.“

„Wer sagt das?“

„Das ist doch egal.“

Uwe wich zurück und spürte hinter sich einen Schrank. Helmut verfügte über einen guten Sehrest. Er würde ihn auf alle Fälle finden. Langsam kam der hochgewachsene Teenager vom Fenster her auf ihn zu und blieb kurz vor ihm stehen.

Uwe wusste, dass er und sein Widersacher nicht allein im Raum waren. Doch niemand sagte etwas. Ohne Vorwarnung spürte er plötzlich Helmuts Faust in seinem Bauch. Uwe schnappte nach Luft und rutschte am Schrank abwärts.

Plötzlich drückte Helmut ihm die Kehle zu und ließ erst nach einer Weile von seinem Opfer ab. Dann trat er ein paar Schritte zurück.

Uwe rappelte sich auf. Ihm war übel und sein Hals brannte. Wortlos holte er die Blindenschriftmaschine aus dem Klassenschrank und suchte seinen Platz auf.

„Schreibst du die Matheaufgaben ab?“, hörte er Diana hinter sich fragen.

„Ja“, antwortete Uwe und hielt sich den Bauch vor Schmerzen.

„Von wem?“

„Das geht dich einen Scheißdreck an.“

„Bestimmt von Meike“, ertönte nun Katjas Stimme. „Wo ist die überhaupt?“

„Ich habe von Weitem mitbekommen, wie sie mit Uwe im Mädchenschlafraum war“, antwortete Diana.

„Das ist nicht wahr!“, ereiferte sich der Verdächtigte. „Ich bin vor der Tür stehen geblieben.“

„Katja, den kannst du heute vergessen. Der geht mit Meike zur Disco. Er war bestimmt mit ihr im Bett“, lästerte Helmut. „Das Schwein riecht schon danach. Was findet die nur an dem?“ Während er das sagte, ging er zur Tür. „Ich muss nach Hause.“

„Kommst du heute Abend mit, Helmut?“, fragte Diana.

„Nein.“

„Das ist schade.“

„Ich habe keine Zeit.“ Damit verließ Helmut den Raum.

„Irgendwann erschlage ich ihn“, flüsterte Uwe.

„Eher erschlägt er dich“, lachte Katja. „Bevor du gekommen bist, hat er Anita in die Mangel genommen.“

„Schon wieder?“

„Sie stinkt mal wieder nach Fisch. Wie jedes Mal, wenn sie ihre Regel hat“, lachte Diana.

Wortlos holte Uwe Meikes Hefter aus seiner Schultasche und fing an, die Ergebnisse der Matheaufgaben abzuschreiben.

„Kann ich den Hefter auch haben?“, fragte Katja nach einer Weile.

„Nein, den gebe ich nicht aus der Hand.“

„Darf ich dann bei dir abschreiben?“

„Auf keinen Fall. Du kannst allein rechnen.“

Die Aufgaben waren schnell erledigt. Uwe räumte die Hefter in die Schultasche und stellte seine Blindenschriftmaschine in den Klassenschrank zurück. Langsam ging er zu Anita und fragte sie: „Was war wirklich los?“

Das Mädchen schwieg.

„Das geht nicht so weiter“, setzte Uwe nach. „Du musst es den Erziehern sagen oder am besten deinen Eltern.“

„Macht sie ja doch nicht!“, platzte Anitas Banknachbarin heraus.

„Diana“, regte sich Uwe auf. „Du als Mädchen müsstest eigentlich wissen, wie demütigend es ist, was Anita erleben muss. Ich jedenfalls weiß, wie es ist, wenn man vor lauter Angst nächtelang nicht schlafen kann. Als Mädchen müsstest du ihr beistehen.“

„Wie komme ich dazu?“ Dianas Stimme klang unbeteiligt.

„Stell dir vor, man würde dasselbe mit dir tun.“

„Zwischen mir und Anita gibt es einige Unterschiede. Möchtest du sie wirklich wissen?“

Uwes Gesicht färbte sich rot. Weniger aus Wut. Mehr aus Scham. „Diana, ich brauche das nicht zu wissen. Im Übrigen kann ich es mir denken.“

„Dann ist doch alles gut.“

Wutschnaubend sprang Uwe auf, verließ den Klassenraum und knallte die Tür hinter sich zu. Als er den Flur entlang rannte, vernahm er eilige Schritte auf der Treppe.

Es war Meike, die ihm hastig entgegen kam. „Ich wollte nachsehen, wo du bleibst. Hast du die Ergebnisse abgeschrieben?“

„Ja“, antwortete Uwe einsilbig.

„Ist was passiert?“

„Nein, nichts.“

„Uwe, ich kenne dich. Du verschweigst mir etwas. War Helmut da?“

Uwe zählte auf: „Helmut, Diana, Katja und Anita.“

Das Mädchen wartete. Sie kannte ihren Freund gut genug, um zu wissen, wie schwer es war, zu ihm durchzudringen.

Plötzlich warf sich der Junge in ihre Arme und begann hemmungslos zu weinen. „Ich halte das nicht mehr aus! Für mich gibt es nur noch drei Möglichkeiten, all dem zu entrinnen.“

Meike erschrak, versuchte aber Ruhe zu bewahren. Sie hielt Uwe fest, bis dieser sich beruhigt hatte, und zog ihn dann in einen freien Raum. „Was ist geschehen?“, fragte sie schließlich.

Uwe erzählte, was ihm gerade widerfahren war.

Seine Freundin hörte ihm ruhig zu. Im Inneren jedoch kochte sie vor Wut.

Nach einer Weile des Schweigens sprach Uwe: „Wie ich schon sagte, habe ich drei Möglichkeiten: Ich haue aus dem Internat ab, schlage Helmut zum Krüppel oder werde so krank, dass ich wochenlang nicht schulfähig bin.“

„Ich kann deine Gedanken nicht nachvollziehen“, sagte Meike nach kurzem Überlegen. „Die erste Variante kannst du voll vergessen. Die zweite ist strafbar. Bleibt nur die dritte Möglichkeit. Was meinst du damit?“

„Das wirst du schon sehen.“

„So geht es nicht“, protestierte Meike. „Ich möchte es jetzt wissen.“ Sie stand auf und schüttelte Uwe sanft. Plötzlich durchfuhr sie ein schrecklicher Gedanke. Sie packte ihn und zog ihn aus dem Raum zum Treppengeländer. Vor den beiden Teenagern lag lauernd der Treppenschacht. Zwei Wochen zuvor hatte sich an dieser Stelle Marika aus der zehnten Klasse das Leben genommen. Ihr war es ähnlich ergangen wie Uwe, Anita und einigen anderen Schülern, bis sie es nicht mehr ausgehalten hatte.

Eine Weile standen die Freunde, die Hände auf dem Geländer, schweigend da.

„Möchtest du Marika folgen?“, brach das Mädchen schließlich das Schweigen. „Nein!“

„Was dann?“

„Du wirst schon sehen.“

Uwe zog Meike vom Geländer weg und schob sie sanft die Treppe hinunter. „Wir haben hier nichts mehr zu suchen.“

Vor dem Schulhaus zog ihn Meike fest zu sich heran. „Tue nichts Unüberlegtes, Uwe. Was du vorhast, bringt dich kein Stück weiter. Weißt du, mir geht es nicht viel besser als dir. Diana schikaniert uns Mädchen auch ständig. Was bei uns im Schlafraum tagsüber und vor allem nachts abläuft, davon habt ihr nicht mal eine Ahnung. Und das ist auch besser so.“

„Was meinst du damit?“ Uwe wollte es nun genau wissen.

„Kennst du noch aus der ersten und zweiten Klasse das Spiel ‚Erzieher – Kind‘?“

Uwe überlegte. „Ja, ich glaube schon. Einige Mitschüler waren die Erzieher und andere die Kinder, richtig?“

„Genau das meine ich“, bestätigte Meike.

Wo andere über einen gewissen Zeitraum „Mutter – Vater – Kind“ gespielt hatten, hatte es in dieser Klasse das Spiel „Erzieher – Kind“ gegeben. Es hatte sich über einen langen Zeitraum und ohne Pause abgespielt. Ob vormittags in der Schule, nachmittags in der Freizeit oder nachts im Schlafraum. Daraus hatten sich Stück für Stück verschiedene Hierarchieebenen entwickelt.

„Uwe, dieses Spiel gibt es immer noch. Bei uns äußert sich das in Form von Schlafentzug und verschiedenen anderen Schikanen. Mädchen, die körperlich noch nicht so weit entwickelt sind wie andere Mädchen ihres Alters, werden verspottet. Ihre Wäsche wird aus dem Fenster geworfen und ihre Schultaschen werden ausgeschüttet. Diana schiebt uns Zahnbürsten in den Po und in die Scheide. Das nennt sie Fiebermessen. Und wir müssen nachts wach bleiben. Wer das nicht tut, wird am nächsten Tag von Helmut zusammengeschlagen. Glaub mir, Psychoterror ist nicht besser, als geschlagen und getreten zu werden.“

Uwe war erschüttert und fragte: „Das geht alles von Diana aus?“

„Ja.“

„Und welche Rolle spielt Katja bei all dem?“

„Sie möchte nicht auf der Seite der Schwächeren stehen. Deswegen gleicht sie sich Diana an.“

„Genau das mag ich an dieser Klasse so. Aus Angst, selbst ins Fadenkreuz zu geraten, hilft man, andere zu demütigen. Davon sind wir beide auch nicht frei. Wir machen bei diesem Schwachsinn mit und fühlen uns sogar noch wohl dabei.“

Uwe und Meike entfernten sich vom Schulgebäude und liefen auf einem Seitenweg weiter. Trockenes Laub raschelte unter ihren Füßen und von Ferne hörten sie den Lärm der Großstadt. Hin und wieder ließ sich ein vergessen geglaubter Vogel in den Zweigen eines Baumes vernehmen. Meike lenkte, von Uwe gefolgt, ihre Schritte zu einem verfallenen Friedhof. Hier lagen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Einzelne Gräber waren von Unkraut und Gestrüpp überwuchert.

Meike trat zu einem vom Unkraut befreiten Grabstein. „Uwe“, setzte sie das unterbrochene Gespräch fort, während sie ihren Freund fest an sich drückte, „alle genannten drei Möglichkeiten schaden nur dir selbst. Mit Gewalt, egal ob gegenüber anderen oder gegen sich selbst, löst man keine Probleme. Irgendwann holen diese einen wieder ein.“

„Gegen Helmut und Diana kann man nur mit Gewalt vorgehen“, widersprach Uwe.

Meike ließ ihn los, stand auf und stellte sich hinter den vom Wetter gezeichneten Stein, wo sie das dazugehörige Grab vermutete. Mit dem Fuß auf die Erde tippend sagte sie: „Wir wissen nicht, welcher Soldat hier begraben liegt. Eine Frage aber bleibt: Hat er durch das, was er vermutlich getan hat, Probleme beseitigt? Die Antwort heißt: ‚Ja‘. Dadurch aber entstanden neue Komplikationen.“

„Aber …“ Uwe kam nicht dazu, seinen Gedanken auszusprechen.

„Da gibt es kein Aber. Wenn du gegen Helmut vorgehst, befriedigst du zwar zunächst dein Ego, erreichst aber nur, dass dieser Mensch noch gewaltsamer gegen dich vorgeht und ganz sicher auch seine Eltern einschaltet. Dann steht Aussage gegen Aussage, weil die restliche Klasse aus Angst vor Repressalien schweigt.“ Meike hielt einen Moment inne und fuhr dann fort. „Weißt du, warum Anita sich vor der Klasse ausziehen musste?“ Sie wartete ab, was Uwe antworten würde.

„Ich kann es mir denken, möchte davon aber nichts hören“, wies Uwe Meike ab und ging auf der Suche nach dem Ausgang des Friedhofs an einem verfallenen Zaun entlang. Meike folgte ihm schweigend. Als die beiden wieder auf dem schlecht gepflasterten Weg an der Eingangstür standen, drängte Meike ihren Freund zur Eile. „Wenn wir rechtzeitig zur Disco kommen wollen, sollten wir uns sputen.“

„Wann gehen die anderen?“, fragte Uwe.

„Das interessiert mich nicht. Um neunzehn Uhr ist Einlass. Wir dürfen sowieso nur bis einundzwanzig Uhr bleiben.“

Vom alten Friedhof bis zum Internatsgebäude mussten die beiden ein ganzes Stück laufen. Als sie dort angekommen waren, blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Meike rannte die Treppe zur ersten Etage hinauf und verschwand im Mädchenschlafraum. Uwe war vor dem Schuhregal stehen geblieben, wo er seine Straßenschuhe gegen seine schon etwas rissig gewordenen Hausschuhe tauschte.

Plötzlich stand Katja neben ihm und fragte: „Gehst du jetzt zur Disco?“

Uwe antwortete: „Du gehst mir auf die Nerven, Katja! Natürlich gehe ich hin, aber wie du dir vorstellen kannst, nicht mit dir.“

„Mit Meike?“

„Das geht dich nichts an. Vielleicht gehe ich auch allein hin und reiße dort jemanden auf.“

„Das wäre aber traurig“, meinte Katja. „Soll ich Meike das ausrichten?“

Uwe schob das zudringliche Mädchen zur Seite und ging schnell in Richtung Jungenschlafraum. Dietrich, der auf dem Bettrand saß und verächtlich auf seine durchlöcherten Socken herabschaute, drehte sich um, als sein Zimmerkollege wie von drei Teufeln gejagt in den Raum gerannt kam und die Tür hinter sich zuknallte. „Uwe!“, rief er, „was ist in dich gefahren?“

„Katja.“

Dietrich grinste dümmlich. „Katja ist in dich gefahren? Ich hoffe, eher du in sie.“

Uwe stöhnte bei so viel Blödheit. „Keines von beidem. Du bist wirklich doof. Katja nervt einfach.“

Dietrich wendete sich wieder seinen Socken zu, zog sie aus und warf sie in die Schmutzwäsche. Als er hörte, wie sein Zimmerkollege sich einsprühte, verzog er die Nase. „Glaubst du wirklich, dass sich Schweiß mit Deo verträgt? In deinem Fall wäre es ratsam, eine Dusche dazwischenzuschieben.“

„Dafür habe ich jetzt keine Zeit.“

„Du bist und bleibst ein Schwein.“

„Du bist auch nicht besser.“ Uwe zog sich fertig an und verließ den Raum.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
160 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783957442192
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

Bu kitabı okuyanlar şunları da okudu