Kitabı oku: «Blutgeschwister», sayfa 3

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Kruschek hatte Guddi einen Kaffee gebracht. Es würde eine lange Nacht werden, darüber waren sie sich, ohne viele Worte zu verlieren, einig. Die Zeugin schwieg immer noch beharrlich. Fast eine Stunde war vergangen, seitdem die Sanitäter Peer mit seinem lädierten Kiefer weggebracht hatten. Seither schien es so, als sei die Zeugin in eine Art Trance gefallen. Fast regungslos saß sie auf dem Plastikstuhl im Büro des Pförtners, wiegte ihren Kopf kontinuierlich hin und her und starrte mit offenem Mund den Linoleumboden an. Die Neonröhren an der Decke des Büros summten monoton. Guddi nahm an, dass der Zusammenprall mit Peers Eisenschädel die Zeugin benommen gemacht hatte und es eine Weile dauern würde, bis sie mit der Vernehmung würde fortfahren können. Nun aber verlor sie langsam die Geduld. Sie hatte ihr etwas zu trinken, einen Müsliriegel und ein Kühlpäckchen gebracht, nichts davon hatte sie angerührt. Guddi hatte leise und bedächtig auf sie eingeredet. Sie solle sich erst einmal entspannen, die Schwellung am Kopf mit Eis kühlen und ihr dann signalisieren, wenn Guddi mit der Befragung fortfahren könnte. Nichts. Keine Reaktion. Zumindest ihre Identität konnte Kruschek klären. Die Dame hieß Stefanie Mellinger, war 28 Jahre alt und seit drei Jahren in Wuppertal-Oberbarmen gemeldet. Keinerlei Einträge im zentralen Polizeiregister. Es war nicht gerade viel, was sie über die vermeintlich wichtigste Zeugin in diesem spektakulären Mordfall wussten, aber Guddi war nach wie vor guter Dinge, etwas aus der Frau herauszuholen.

„Stefanie Mellinger … das ist doch Ihr Name, oder?“ Guddi hockte sich vor die Zeugin und versuchte, ihren leeren Blick einzufangen. Einen Wimpernschlag lang hatte sie das Gefühl, dass Mellinger ihren Blick erwiderte, doch dann verlor sie sich wieder im Linoleumboden des Pförtnerbüros. Guddi seufzte und nahm einen tiefen Schluck aus dem Kaffeebecher. Die Plörre schmeckte schlimmer als das, was man ihnen seit Jahren auf dem Revier zumutete. Vor knapp zwei Wochen erst hatte Heppner dem Antrag des gesamten Reviers endlich stattgegeben, einen Kaffeevollautomaten zu besorgen, es konnte also nur noch ein paar Tage dauern, bis sie und Modrich endlich etwas während der Arbeit trinken konnten, das den Begriff „Kaffee“ wirklich verdient hatte. Gut, bei Modrich würde das jetzt noch etwas dauern, und Kaffee aus einer Schnabeltasse war dann vermutlich doch nicht das, was er sich unter einem gelungenen Start in den Arbeitstag vorstellte.

Sie ertappte sich dabei, zu lächeln, als die Zeugin leise vor sich hin summte: „He came into my life, when darkness was surrounding me. He brought me back to life, the day he left will never be forgotten … never be forgotten!“ ,Was zum Teufel‘ – diese drei Worte standen Kruschek auf die Stirn geschrieben. „Jetzt ist sie völlig durchgeknallt“, bemerkte er, doch Guddi hielt den Zeigefinger an ihre Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. „We were children of the night, building bridges of love and hate, we were children of the night, building castles full of fate“. Gerade als Kruschek wieder ansetzen wollte, frohlockte Guddi: „Das sind Textzeilen aus Children of the night, eine der ersten Singles von Joe Sanderson. Das war nicht ihr erfolgreichster Song, aber eigentlich der einzige, den die Musikpresse unisono und über den grünen Klee hinweg lobte. Viele ahnten damals schon, dass der Song nicht aus Joes Feder stammen konnte … na ja, und wenige Monate später kam heraus, dass Joe einen alten, unveröffentlichten Song von Crusade zu ihrem eigenen gemacht hatte. Ein bisschen daran herumproduziert, ein paar Zeilen umgeschrieben und zack: Fertig war der nächste Hit. Joe Sanderson war wohl kurz nach dem Selbstmord von Daniel LaBoitte noch mal in dessen Penthouse in der Kensington High Street in London gewesen und hatte dort eine ganze Reihe unbekannter Songs und Songfragmente gefunden und an sich genommen. Tja, das war der Moment, als Joe Sanderson ihren guten Ruf als Künstlerin vollends zerstörte und von der Musikpresse fortan nur noch verrissen wurde. Die Fans aber …“

„Die Fans liebten sie, nicht wahr?“ Na bitte, wer sagt’s denn? Stefanie Mellinger taute weiter auf. Kruschek hatte mittlerweile mehr Fragezeichen über dem Kopf als Haare auf demselben, aber Guddi setzte ihren Weg zum Innern des Fankerns unbeirrt fort. „Genauso war es, Frau Mellinger. Oder darf ich Stefanie zu Ihnen sagen?“ Guddi reichte der Zeugin die Hand. „Mein Name ist Gudrun Faltermeyer, aber alle, die mich kennen, nennen mich Guddi. Das dürfen Sie natürlich auch. Wissen Sie, auch ich bin ein großer Fan von Joe Sanderson. Ich möchte genau wie Sie herausfinden, wer Joe Sanderson umgebracht hat. Und Sie sind im Moment der einzige Mensch, der uns dabei helfen kann. Sie haben den Täter gesehen, richtig? Richtig?“

Stille. Stefanie Mellingers Geist schien abermals den Raum verlassen zu haben. Ihr Körper begann hin- und herzuwiegen, der Blick war wieder starr und ausdruckslos geworden. Guddi stand verzweifelt auf, atmete tief durch und gab Kruschek mittels einer eindeutigen Geste zu verstehen, dass sie mal zur Toilette musste. Als Guddi im Türrahmen des Pförtnerbüros stand und die Tür dabei war, hinter ihr zuzufallen, durchbrach ein hoher markerschütternder Schrei die Stille. Guddi kehrte auf dem Absatz um und ins Büro des Pförtners zurück, wo Kruschek über der Zeugin stand, die auf dem Boden lag und wie besessen um sich trat. Der Schrei hatte den gesamten Korridor der Backstage-Area durchflutet, und kurze Zeit später standen mehrere Mitarbeiter der Halle vor dem Pförtnerbüro und wollten wissen, was die zwei Polizisten mit der Zeugin anstellten. Die beiden Beamten, die Guddi zu ihrer Sicherheit auf dem Flur platziert hatte, schafften es mit letzter Kraft, die neugierigen Gaffer zurückzuschicken. „Kruschek, was ist passiert? Was haben Sie mit ihr gemacht?“ „Ich? Gar nichts. Aber als Sie gerade das Büro verließen, sagte die Dame hier so etwas wie ‚Heil dem Erlöser‘ und fing dann an zu schreien, als ziehe man ihr die Fingernägel einzeln heraus. Wenn Sie mich fragen, gehört die Dame in die Klapse.“ „Hat sie das wirklich so gesagt? Sind Sie da ganz sicher? Was zum Geier soll das bedeuten? Oder haben wir es hier mit einer fanatischen Spinnerin zu tun?“

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„Da hat aber einer den Mund besonders voll genommen, was?“ Der Arzt, der Peer untersuchte, war nicht älter als Ende zwanzig, hatte den Namen irgendeiner Olivia auf seinen Unterarm tätowiert und roch aus dem Mund nach Salmiak. Während sich Modrich noch fragte, warum Dr. Jens Oemmler das gesagt hatte und wieso es ihm immer noch eimerweise aus dem Mund tropfte, hatte der Doc sich hinter ihm aufgebaut und seine Daumen auf die Kauflächen seines Unterkiefers gelegt. Dann ging alles sehr schnell: ein kurzer Ruck, ein trockenes Knacken, ein stechender Schmerz, der sich Gott sei Dank in Luft auflöste, bevor er unerträglich wurde. Dr. Oemmler stellte sich nun vor Peer und richtete den Kiefer zurecht, bis alles ineinander passte. „So, jetzt müsste es wieder stimmen. Versuchen Sie bitte mal, den Mund zu schließen.“ Unter gewaltiger Kraftanstrengung schaffte es Modrich, den Mund nicht nur zu schließen, sondern auch geschlossen zu halten. Keine Sabbereien mehr, es tat zwar noch höllisch weh, aber Peer hatte das Gefühl, dass sich das geben würde, je öfter er wieder normale Kaubewegungen machen würde. „Sie hatten wirklich großes Glück“, betonte Dr. Oemmler, „es hat nicht viel gefehlt und Ihr Kiefer wäre gebrochen gewesen. Dann hätten Sie mit mehreren Wochen Rekonvaleszenz rechnen müssen. Er war aber nur ausgerenkt. Passiert immer dann, wenn man häufig gähnt und den Mund dabei zu weit aufsperrt. Oder haben Sie heute in einen besonders großen Apfel gebissen?“ Modrich traute sich immer noch nicht zu sprechen. Die Blöße, wie ein willenloser Greis sabbernd vor sich hinzubrabbeln, wollte er sich nicht noch mal geben. Und so zuckte er vielsagend nichtssagend mit den Schultern, gab dem Arzt die Hand und verließ den Behandlungsraum. „Warten Sie“, rief Oemmler ihm hinterher, „nehmen Sie die hier. Sie werden sicherlich noch ein paar Tage Probleme beim Essen oder bei der Zahnpflege haben. Und falls Sie an Sex denken: Überspringen Sie die Knutscherei. Zungenküsse sind in Ihrer Verfassung besonders schmerzhaft!“ Er zwinkerte Peer zu. Modrich warf einen Blick auf die Verpackung und musste schmunzeln: Wenn der wüsste, wie viele Brüder und Schwestern von den kleinen Ibu-800ern bei ihm zu Hause im Badezimmerschrank als Notration lagen.

Den letzten Meulengracht’schen Hangover hatte Peer, nachdem sie Karl Ressler zur Strecke gebracht hatten. Er war mit Guddi und Meike Ressler aufs Übelste versackt. Danach ging es ihm drei Tage hundsmiserabel und er schwor sich, sein Leben umzukrempeln: kein Alkohol, keine Zigaretten mehr. Er stellte seine Ernährung um. Fleisch aß er nur noch sonntags, den Rest der Woche nahm er vegane Kost zu sich. Seine Fitness war besser als zu Jugendzeiten, Peer sah vitaler aus denn je, was ihn für die Krone der Schöpfung umso begehrenswerter machte. Aber auch in diesem Punkt hatte Peer Modrich eine Wandlung vollzogen. Waren es früher noch viel zu junge One-Night-Stands, die er zu Balladen von Bon Jovi oder Bryan Adams in die Kiste bekam, so hielt er es heute sagenhafte drei Monate mit ein und derselben Frau aus. Zuletzt war es eine Architektin aus Lünen, die er auf einem Konzert von Element Of Crime kennengelernt hatte. Sie hatten fast eine Woche über Gott und die Welt geredet, bis sie zum ersten Mal Sex hatten. Schnell stellte sich heraus, dass Melanie, so hieß die Architektin, seit fünf Jahren auf dem Trockenen gesessen hatte und mit Peer in kürzester Zeit alles nachholen wollte. Knappe drei Monate später beendete Peer Modrich zum allerersten Mal in seinem Leben eine Beziehung, weil er körperlich am Ende war. Mehr Sex ging nicht. Beim besten Willen. Sie kam schneller als ein Düsenjet, aber irgendwann braucht selbst der größte Don Juan eine kreative Pause. Melanie aber wollte eine Pause nicht akzeptieren und ließ sich immer neue Experimente einfallen. Zuletzt hatte sie zwei ihrer besten Freundinnen als Zückerchen mitgebracht. Am Morgen danach zeigte Peers Waage nur noch 68 Kilo an. Da wurde ihm klar, dass es Zeit war, diese Tortur zu beenden, auch wenn sein omnipotentes Alter Ego ihn einen Schwächling und Versager schimpfte. Es ging einfach nicht mehr. Melanie versuchte alles, um Peer von seinem Entschluss abzubringen. Noch Wochen nach der letzten Nacht mit ihr schickte sie ihm Päckchen mit Reizwäsche, Dildos und Massageölen. Zuletzt waren es getragene Strings, die Melanie Peer in ihrer Hochphase nur zu gerne um den Kopf gewickelt hatte. Und als er dachte, er hätte alles überstanden, lauerte Melanie ihm an seiner Laufstrecke auf. Natürlich wusste sie, wann und wo er regelmäßig joggte. In dem Waldstück war kurz vor der Dämmerung wenig bis nichts los, was Melanie dazu verleitet hatte, in die bedingungslose Offensive zu gehen. Bei Kilometer 16 sprang sie urplötzlich hinter einem Baum hervor, riss Peer zu Boden und ihm sogleich die Laufkleidung vom Leib. Sie selber trug nichts außer Hotpants und einer durchsichtigen Bluse. Peers Puls stockte, als Melanie Handschellen unter ihrer Bluse hervorzauberte. ,Jetzt ist sie völlig durchgeknallt‘, dachte Peer, als sie sein bestes Stück unsanft aus der Laufhose wurschteln wollte. Er stieß sie mit aller Kraft von sich und versetzte ihr noch einen kräftigen Tritt in den entblößten Hintern. Melanie heulte wie ein kleines Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Und obwohl Peer kurz darüber nachdachte, die Arme zu trösten – immerhin hatte er mit ihr mehr Orgasmen gehabt als mit allen anderen Frauen zuvor – ließ er Melanie liegen und lief seinen Halbmarathon zu Ende.

„Was für eine blöde Kuh“, hörte er sich plötzlich sagen. Hocherfreut stellte er fest, dass er weder sabberte noch großartige Schmerzen verspürte. Ein leichtes Zischen begleitete seine Worte, ansonsten war er wieder der Alte. Es war Zeit, sich dem aktuellen Fall zu widmen. Immerhin musste ein flüchtiger Attentäter dingfest gemacht werden. Zu Hause angekommen duschte er schnell, zog sich um und machte sich auf den Weg ins Präsidium.

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Gesine Heppner war in den letzten zehn Jahren zur Queen of Charity aufgestiegen. Es gab kaum eine Benefizgala oder Wohltätigkeitsveranstaltung in Nordrhein-Westfalen, bei der die aparte Gattin von Polizeichef Kurt Heppner nicht ihre Finger im Spiel hatte. Sie war die Strippenzieherin im Hintergrund, die fast alle Prominenten aus Film, Fernsehen und Sport in ihrer Kontaktliste hatte. Sie wusste alles über ihre „Klienten“, sogar die sexuellen Vorlieben waren ihr nicht entgangen, besonders dann nicht, wenn Alkohol und Koks zu vorgerückter Stunde, wenn alle Kameras ausgeschaltet waren, die Hemmschwellen bei fast allen Beteiligten auf Grasnarbenniveau sinken ließen. Tatsächlich, und das war eine durchaus bemerkenswerte Erkenntnis für Gesine, zeigten die meisten Promis erst bei einem Alkoholpegel von über zwei Promille ihr wahres Gesicht.

Dieses Wissen hatte sie anfangs mit niemandem geteilt, sogar – oder besonders – nicht mit Kurt. Ihr Mann war selten vor 22 Uhr zu Hause und hatte dann wenig bis gar keine Muße mehr, sich mit seiner Gattin über die sexuellen Befindlichkeiten von Schauspielern oder Bundesligaprofis auszutauschen. Die einzigen beiden Menschen, die ihr heikles Wissen teilten, waren Heike und Frank Wiegand, die beiden anderen Gesellschafter ihrer Charity-Firma. Die „Celebs for Masses GmbH“ hatte ihren Sitz in Dortmund und war in den vergangenen fünf Jahren zu einem Unternehmen mit zweistelligem Millionen-Jahresumsatz herangewachsen. Was zu Beginn des neuen Jahrtausends aus der Idee einer gelangweilten Polizeichef-Gattin entstanden war, hatte sich bis heute zu einem Marktführer in Sachen Promivermarktung gemausert. Heike und Frank kannte Gesine noch aus der gemeinsamen Studienzeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, wo sie vergeblich versucht hatten, ihr Jurastudium zu absolvieren.

In ihrem Büro im Dortmunder Süden gab es einen Aktenschrank, der durch mehrere Zahlenschlösser gesichert war. Einmal im Monat änderten die drei die Zahlenkombinationen, um die größtmögliche Sicherheit für ihre Klienten zu gewährleisten. Der Inhalt des Aktenschranks war an Brisanz kaum zu überbieten: Es gab dutzendweise Foto- und Filmmaterial, das belastender und kompromittierender nicht hätte sein können. All dieses Material stammte in erster Linie von Journalisten, die mit der Celebs for Masses GmbH einen Pakt eingegangen waren, dass von all dem, was sie da gefilmt und abgelichtet hatten, niemals etwas an die Öffentlichkeit dringen durfte. Diesen Vertrag hatten alle ausnahmslos unterzeichnet, nachdem Gesine, Frank und Heike mit den in flagranti ertappten Promis einen Deal ausgehandelt hatten, der sowohl der Firma als auch den Journalisten einen nicht zu verachtenden monatlichen Obolus bescherte, mit dem alle Beteiligten gut leben, vor allem aber gut schlafen konnten. Sollte der Inhalt dieses Aktenschranks jemals an die Öffentlichkeit gelangen, würde das einer Denunziation biblischen Ausmaßes gleichkommen. Besonders eingefleischte Fußballfans wären gezwungen, ihr komplettes Weltbild neu zu ordnen.

Als Gesine erwachte, drang ein beißendes Gemisch aus Harz und Moder in ihre Nase. Viel schlimmer aber war die lückenlose Dunkelheit, die sie umschloss. Der Versuch, sich zur Seite zu drehen, scheiterte kläglich. Sie lag in einer Art Kiste, die oben, unten, links und rechts kaum mehr als eine Handbreit Platz bot. Die nackte Panik erfasste sie. Jemand hatte sie offenbar lebendig begraben. Ihr Überlebensinstinkt, der die Logik des menschlichen Verstandes eliminiert hatte, befahl ihr, nach Leibeskräften „Hilfe“ zu schreien. Nach dem dritten Versuch war Gesine bereits so kurzatmig, dass sie dieses Bemühen einstellte, um Kräfte zu sparen. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie niemand hörte und dass sie vermutlich nur noch wenige Stunden zu leben hatte, wenn derjenige, dem sie das zu verdanken hatte, nicht innerhalb kürzester Zeit nach ihr sehen würde. Und warum sollte das irgendjemand tun? Offenkundig trachtete man ihr nach dem Leben, offenkundig hatte jemand großes Interesse daran, dass ihr Mann Witwer wurde. Bevor Gesine sich über das Motiv des Täters Gedanken machte konnte, bemerkte sie, wie etwas, ungefähr in Höhe ihres linken Fußknöchels, zuerst an ihrer Hose nagte und dann unter dieselbe krabbelte. Es fühlte sich an wie ein sehr großes Insekt. Als das Krabbeltier ihr Knie erreicht hatte, versuchte Gesine es mit der linken Hand zu treffen. Leider hatte sie kaum Platz zum Ausholen und verfehlte ihr Ziel. Nun hatte es das Tier offenbar auf Gesines Kniekehle abgesehen. Dort verharrte es, Gesine spürte einen feinen Stich und ein unangenehmes Gefühl der Wärme in sich aufsteigen. Sie versuchte zu strampeln, um dieses ekelige Wesen irgendwie loszuwerden, aber je mehr sie sich bewegte, um so weiter schien sich das Gift, das dieses Biest ihr injiziert hatte, in ihrem Körper zu verteilen. Ihr wurde in schneller Abfolge heiß und kalt, ihre Kehle schnürte sich in kürzester Zeit zu, die absolute Ausweglosigkeit ihrer Situation ließ in Gesine zusätzlich Panik aufkommen. Ein allerletztes Mal setzte sie zum Schreien an, als sie plötzlich Schritte vernahm. So schnell wie sie diese wahrgenommen hatte, so schnell verstummte das Geräusch auch wieder. Hatte sie mittlerweile schon Halluzinationen? Kalter Schweiß rann ihr die Wangen hinunter. Das Tierchen in ihrer Hose schien Gefallen an ihrer Kniekehle gefunden zu haben und vergrub sich immer tiefer in Gesines Haut. Ihr wurde speiübel, gleichzeitig fühlte sie sich auf seltsame Weise federleicht. Nichts schien mehr von Bedeutung. Ihre Zeit schien abgelaufen.

Mit einem lauten Knarren stemmte jemand den Deckel des Sarges auf. Ihr Gefängnis wurde mit frischer Luft geflutet, gierig sog sie das unverhoffte Lebenselixier ein, bis sie wieder einigermaßen klar denken konnte. Das schwache Licht, das die Dämmerung in ihr Gesicht warf, blendete sie für einen kurzen Moment, sie blinzelte und blickte in ein vermummtes Gesicht. Dann wurde sie gepackt und aus dem Sarg geschleudert, sodass sie bäuchlings im Morast landete. Die Person machte sich an Gesines Hose zu schaffen, um im nächsten Augenblick mit der flachen Hand auf die Stelle zu schlagen, wo wenige Sekunden zuvor noch das Tier sein Unwesen getrieben hatte. Die Gestalt erhob sich, verharrte für einen kurzen Moment, um dann triumphierend auszurufen: „Dornfingerspinne! Dass es diese Biester in unseren Breiten überhaupt noch gibt. Da bin ich ja gerade richtig gekommen, oder was meinst du, liebe Gesine?“

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„Mist, ich habe Heppner vergessen!“ In fünf Minuten würde Modrich wieder im Präsidium sein, als er sich das plötzlich sagen hörte. In letzter Zeit hatte Peer sich des Öfteren dabei ertappt, Selbstgespräche zu führen. Meist geschah das in Situationen, in denen er nicht alleine war. Im Gegenteil: Der Supermarkt war so ein Ort, an dem es fast regelmäßig passierte. Bisweilen bemerkte er, dass er argwöhnisch beobachtet wurde, während er „Wo zum Geier steht noch mal die Kokosmilch?“ von sich gab. Wurde er langsam seltsam? Was würde in ein paar Jahren sein? Würde er Supermärkte nur noch dann aufsuchen, um Selbstgespräche zu führen …? Der Gedanke daran war gleichermaßen surreal wie verstörend.

Er musste Heppner zumindest anrufen und informieren, dass er erst morgen zu ihm kommen würde. Heppner nahm ab, noch bevor das erste Klingelzeichen ertönte. „Modrich, wo in Dreiteufelsnamen stecken Sie? Ich drehe hier noch durch. Ich hatte mich auf Sie verlassen! Sie sind hoffentlich auf dem Weg?“ Modrich musste kurz Luft holen, er hatte immer noch das Gefühl, als sei ein ICE über sein Gesicht gerollt. Er sprach so langsam wie möglich, damit sein Chef ihn auch wirklich verstehen konnte: „Sorry, Chef, ich hatte leider keine Zeit bislang. Ich war kurz im Krankenhaus und bin jetzt wieder auf dem Weg ins Präsidium, muss mich erst um den aktuellen Fall kümmern. Morgen früh komme ich sofort bei Ihnen vorbei, ist das okay?“ Heppner seufzte laut auf: „Was ist denn mit Ihnen passiert? Sie klingen so, als hätten Sie den Mund voller Wattepads? Ich hab nur Bahnhof verstanden. Egal, ich brauche Sie. Und zwar jetzt! Gesine ist immer noch nicht aufgetaucht, ihre Geschäftspartnerin sagt, sie sei heute Morgen nicht im Büro erschienen. Ihr Handy ist ausgeschaltet, was völlig untypisch für Gesine ist. Ich verwette meinen Arsch darauf, dass ihr etwas zugestoßen ist!“ Bei den letzten Worten verlor Heppner völlig die Fassung und brach in lautes Schluchzen aus. Modrich versuchte, das Ganze herunterzuspielen und seinen Chef zu beruhigen. „Gab es eventuell Streit zwischen Ihnen in letzter Zeit? Vielleicht ist sie ja einfach nur zu ihrer besten Freundin, um ein paar Tage Ruhe zu haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber wer sollte Ihrer Frau denn etwas antun wollen? Sie ist doch wirklich eine absolute Sympathieträgerin. Kommen Sie, Kurt, Hand aufs Herz: Gab’s Stress? Hat Gesine sich beschwert, dass Sie zu selten und zu spät nach Hause kommen? War sie am Ende eifersüchtig?“ Es schien fast so, als habe Peer einen Knopf gedrückt. Allerdings den Falschen. Deeskalation war links, er hatte rechts erwischt. Dort, wo „Vulkanausbruch“ stand. „Jetzt hören Sie mal gut zu, Sie Schimanski für Fußgänger, Sie Möchtegern-Emil-Zatopek: Gesine und ich haben keinen Stress, jedenfalls nicht mehr oder weniger als andere Paare! Aber, und das bleibt unter uns, sie hat anonyme Drohanrufe bekommen. Irgendjemand wollte sie ‚zur Rechenschaft ziehen‘. Vor ein paar Tagen kam sie abends nach Hause und war völlig aufgelöst, weil sie offenbar bis zum Auto verfolgt worden war. Wir haben das noch nicht so ernst genommen, weil es einfach zu wenig Konkretes gab, dem man hätte nachgehen können. Jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war, meine Frau nicht eher zu schützen. Und deshalb bitte ich Sie jetzt noch ein letztes Mal: Schwingen Sie Ihren Marathonarsch hierhin, lassen Sie den Fall mal beiseite. Ich erwarte Sie in spätestens fünfzehn Minuten bei mir zu Hause!“

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