Kitabı oku: «Totkehlchen», sayfa 2
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Alexej Sobukov war abgemagert bis auf die Knochen. Bei einer doch eher stattlichen Körpergröße von knapp 1,90 Metern wog er nur noch fünfundsechzig Kilo. Seit fast drei Monaten verspürte er einfach keinen Appetit mehr und aß nur noch das Allernötigste. Manchmal gingen Tage ins Land, an denen Sobukov sich ausschließlich von Wasser, Säften und Kraftbrühe ernährte. Zu seiner permanenten Appetitlosigkeit gesellte sich ein extrem unangenehmes Völlegefühl, das er selbst dann empfand, wenn er nichts zu sich genommen hatte. Alexej vermutete ein Magengeschwür – im besten Fall. Wenn er Pech hatte, konnte es auch Krebs sein. Aber was hieß schon Pech? Vielleicht war das alles ja auch die gerechte Strafe für das, was Alexej Sobukov seit Jahren war: Ein eiskalter Killer ohne Gewissen und Moral, den niemand mehr Aljosha nennen durfte. Der seinem Vater nicht nur in nichts nachstand, sondern ihn in puncto Skrupellosigkeit noch übertraf. Bei Weitem sogar.
Der Dortmunder Zoo war um diese Uhrzeit, kurz vor 21 Uhr, eine Oase der Ruhe. Keine umhertollenden und quengelnden Kinder, keine lauten Schreie aus dem Affenhaus waren zu vernehmen. Nur ganz vereinzelt hörte man ein herzhaftes und lang gezogenes Raubtiergähnen oder das Flügelschlagen eines riesigen Geiers aus dem Gehege im Eingangsbereich des Zoos.
Alexej stand im Schutze der Dämmerung und wartete auf sein nächstes Opfer.
Daniel Lehmeier war seit fast zwei Jahren Direktor des Dortmunder Zoos. Mit 39 Jahren war er eigentlich zu jung für den Job, wie seine Kritiker anfänglich gefeixt hatten. Lehmeier hatte es allerdings bald geschafft, diese Kritiker verstummen zu lassen und sein Vorhaben, alle Tiere im Zoo nahezu artgerecht zu halten, in die Tat umgesetzt. Dafür war er weite Wege gegangen, hatte so lange Gelder von privaten und öffentlichen Sponsoren eingesammelt, bis er sein Bild vom idealen Zoo so umsetzen konnte, wie er es sich schon seit Jahren erträumt hatte. Der Zoo war unter Lehmeiers Leitung nicht nur für die Tiere zu einem angenehmeren Ort geworden, sondern auch für die Besucher, die besonders an den Wochenenden und in den Ferien in großen Scharen nach Dortmund strömten, um sich das neue Raubtiergehege, das Affenhaus oder die Pinguininsel anzuschauen. Lehmeier war ein Macher, ein Menschenfänger par excellence. Ihm gehörte zweifellos die Zukunft. Eine große lokale Tageszeitung hatte ihn unlängst sogar als Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt ins Gespräch gebracht. Dass er noch kein Mitglied einer großen Partei war, schien dabei eher ein Vorteil zu sein.
Daniel Lehmeier schloss die Tür seines Büros hinter sich zu, blickte hinauf zum Sternenhimmel und streckte sich. Er atmete dreimal tief ein und wieder aus, beugte seinen Oberkörper und ließ dann seine Arme locker baumeln. Es war ein langer, aber guter Tag gewesen. Er hatte diesem Typen am Telefon die Leviten gelesen, hatte ihm deutlich gemacht, dass der Deal mit dem seltenen Nashorn endgültig geplatzt war.
„Die Papiere sind gefälscht, Mann. Das arme Tier sieht auf den Fotos aus, als habe man es monatelang gefoltert und nicht gefüttert!“
Lehmeier kannte in diesem Punkt kein Pardon. Das Wohl aller Tiere hatte bei ihm oberste Priorität. Und dieser Kerl war ihm gleich verdächtig vorgekommen. Einmal in Rage geredet, gab es für Lehmeier kein Halten mehr.
„Wissen Sie, ich erkenne mittlerweile meine Schweine am Gang. Ich weiß nicht, wie man das in Ihrem betulichen Alpendialekt sagt, deshalb hier noch eine Floskel, die selbst Sie verstehen sollten: Fahren Sie zur Hölle!“
Er lächelte zufrieden, während er einen flüchtigen Blick auf seine neue Armbanduhr warf, die er sich gegönnt hatte, nachdem ihm die Stadt Dortmund den Bürgerpreis für ‚besondere Verdienste‘ verliehen hatte. Eine Rolex Divemaster. Dafür müssten andere lange schuften. Ein Lächeln huschte über Lehmeiers Gesicht. Dann wurde sein Kopf von Sobukovs Säbel fein säuberlich und blitzschnell vom Rest des Körpers getrennt. Mit einem dumpfen Knall fiel Lehmeiers Kopf in die Buxbaumhecke, die neben seinem Büro zu ansehnlicher Größe herangewachsen war. Der kopflose Rest kippte vornüber zu Boden und beschrieb eine geradezu groteske Kurve.
Nun war es Alexej Sobukov, der zum Himmel hinaufsah und tief ein- und ausatmete. Er verspürte längst schon keine Befriedigung mehr beim Töten, vor allem wenn die Zielperson ein unbescholtener Bürger war. Aber er hatte keine Wahl. Während er einen letzten Blick auf die Leiche warf, säuberte er die Klinge seines Säbels, zündete sich dann eine Zigarette an und verließ den Tatort.
Keine fünf Stunden später saß Sobukov in der Lobby des Hotels Duke in Berlin und nippte an einem Wodka-Red-Bull, seinem Standard-Drink. Er half ihm dabei, mit nur drei bis vier Stunden Schlaf pro Tag auszukommen. Der Kellner hatte ihm freundlich zu verstehen gegeben, dass dies die letzte Runde sein würde. Gut, dass Alexej in Berlin war. Nicht New York war die Stadt, die niemals schlief, sondern Berlin. Und Alexej Sobukov kannte Berlin wie seine Westentasche. Immer wenn er Jobs in Deutschland zu erledigen hatte, zog es ihn nach getaner Arbeit in die Hauptstadt. Nirgendwo sonst in Deutschland konnte er so schnell abtauchen und unerkannt bleiben. Nur in Berlin schaffte er es, das schlechte Gewissen, das er immer häufiger nach einem Mord empfand, abzustreifen und im Nachtleben auf andere Gedanken zu kommen.
Wie so häufig zog es Alexej auch heute in den Rumtreiber, einen Club, der täglich bis in die späten Morgenstunden geöffnet hatte und eine Art Auffangbecken für alle war, die trotz eines deutlich erhöhten Alkoholpegels noch keine Lust verspürten, ins Bett zu gehen. Der Laden sowie der Großteil seiner Stammgäste waren ziemlich abgerockt. Conny, die Inhaberin, war Mitte vierzig. Sie begrüßte jeden ihrer Gäste mit Handschlag und kannte die Lebensgeschichte der meisten in- und auswendig. Als Alexej den Rumtreiber betrat, warf Conny ihm lächelnd eine Kusshand zu und unterhielt sich weiter intensiv mit einem jungen Mann in Pumps und schwarzem Lederminirock. Seine Perücke lag vor ihm auf dem Tresen, den Lippenstift und die Wimperntusche musste er sich kurz zuvor mit seinen Tränen verwischt haben. Er schluchzte herzzerreißend, während Conny ihn fest an sich drückte und ihn zu trösten versuchte.
Alexej setzte sich auf den letzten freien Barhocker und sah sich um. Die meisten Gäste kannte er gut. Die Luft im Rumtreiber war wie immer zum Schneiden. Hier gab es kein Rauchverbot. Aus den Boxen säuselte Marianne Rosenberg „Ich bin wie du“, als Alexej eine Hand auf seinem Oberschenkel spürte.
„Na, schöner Mann, so allein heute Abend?“
Der Typ, der vorhin noch schluchzend am Tresen saß, stand nun hinter ihm. Die Perücke schief auf seinem Kopf liegend, die Wimperntusche immer noch im Gesicht verteilt, blickte er Alexej fragend und gleichzeitig fordernd an.
„Conny hat mir gesagt, dass du keines von diesen Arschlöchern bist. Und wenn ich dich so ansehe, glaube ich, dass sie recht hat.“
Alexej blickte über die Schulter des Mannes hinweg zu Conny hinüber. Sie warf ihm noch eine Kusshand zu und zuckte mit den Schultern. Offenbar hatte sie keinen anderen Ausweg gesehen, das heulende Elend loszuwerden. Conny hatte schon immer geahnt, dass Aljosha, wie sie ihn als eine der ganz wenigen Personen nennen durfte, ein mysteriöses Geheimnis mit sich herumtrug und nicht der war, für den er sich in ihrem Club ausgab. Wenn sie allerdings gewusst hätte, dass der dünne Mann mit dem leichten osteuropäischen Akzent einer der berüchtigsten Auftragskiller der Welt war, läge ihre Hand sicher immer noch tröstend auf dem Kopf des wimmernden Transvestiten.
„Wenn Conny das sagt, wird es wohl stimmen“, entgegnete Alex und legte seine Hand auf die des jungen Mannes. „Was ist mit dir passiert, warum weinst du? Und wie heißt du?“
Der Mann wedelte hektisch mit beiden Händen, als würde er gleich in Ohnmacht fallen.
„Oh mein Gott, wie unhöflich von mir“, begann er. „Ich heiße Francesca, aber meine Freunde dürfen mich Frank nennen.“
Er lachte so laut, dass es alle Gäste im Rumtreiber mitbekamen und spontan mitlachten, Alexej eingeschlossen.
„Dann nenne ich dich lieber Francesca, wenn du nichts dagegen hast. Ich habe nämlich keine Freunde.“ Dabei sah Alexej seinen Gesprächspartner mit undurchdringlicher Miene an. Francesca lachte abermals laut auf. Diesmal aber erwiderte Alexej das Lachen nicht.
„Erzähl mir jetzt, warum du so traurig bist.“ Alexej deutete auf die länglichen Narben an Francescas Unterarm.
„Das war ich selber“, wisperte sie. „Zweimal habe ich versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Selbst dafür bin ich wohl zu blöd.“
Wieder rann schwarze Wimperntusche über ihre Wangen.
„Ich …“, begann Francesca zögerlich, „ich hatte bisher nur Pech mit Männern. Aber der erste in meinem Leben war gleichzeitig der schlimmste!“
Alexej zeigte keinerlei Regung. Er ahnte, was als Nächstes kommen würde.
„Mein Vater ist ein echtes Schwein. Er kommt nicht klar damit, dass ich anders bin, dass ich seiner spießigen Idealvorstellung eines Sohnes nicht entspreche.“
„Was hat er getan?“, fragte Sobukov mit seltsam heiserer Stimme.
„Getan? Er hat mir nichts getan. Jedenfalls nichts, das man sehen kann.“
Francesca gab Conny ein Zeichen. Wenige Sekunden später stand ein Glas Schwarzbier auf dem Tresen. Francesca nahm einen tiefen Schluck.
„Seitdem er von meiner ‚Veranlagung‘ weiß, hat er kein einziges Wort mehr mit mir geredet. Und das, obwohl wir noch lange unter einem Dach gewohnt haben und meine Mutter mit Engelszungen auf ihn eingeredet hat. Ich war plötzlich Luft für ihn. Im Grunde genommen waren ihm von dem Zeitpunkt an, als aus Frank Baldauf Francesca wurde, alle anderen Menschen wichtiger als ich. Seine Kollegen, unsere Nachbarn. Einfach alle. Er hat meine Verwandlung nie verstanden, und schon gar nicht toleriert!“
Alexej kniff die Augen zusammen.
„Und deshalb hast du dir irgendwann die Pulsadern aufgeschnitten? Warum hast du ihn nicht einfach getötet?“
Francesca ließ beinahe ihr Bierglas fallen und sah Alexej schockiert an. Sobukov erwiderte den Blick, um dann loszuprusten.
„Kleiner Scherz, my sweet transvestite. Ich erledige das für dich!“ Er nahm Francescas Arm und zog sie zu sich. „Und das, meine Liebe, ist jetzt mein voller Ernst!“
6
Jens Kleibrink hatte das Klingeln des Weckers nicht gehört. Seine Frau stand im Türrahmen und betrachtete ihn liebevoll, während er, die rechte Hand im Schritt und den Kopf ins Kissen gedrückt, genussvoll schnarchend im Bett lag. Elisabeth war voller Tatendrang.
Zu Hause war es immer Jens, der als Erster aufstand, sobald der Wecker um sechs Uhr klingelte. Er bereitete das Frühstück zu, während Elisabeth noch einen Moment im Bett verharrte und erst allmählich, nach intensivem Recken und Strecken, wach wurde und aufstand. Danach betrat Elisabeth leise das Kinderzimmer, um Benny zu wecken. Für den Elfjährigen war das frühe Aufstehen eine einzige Qual. Sie wussten nicht mehr, wie oft sie sich gefragt hatten, welchen Sinn und Zweck der Unterrichtsbeginn um 7:55 Uhr erfüllte. Sogar einige Lehrer hatten in Gesprächen durchblicken lassen, dass ihnen der frühe Vogel herzlich egal war und sie versuchten, Verständnis für morgenmuffelige Kinder aufzubringen. Benny Kleibrink war allerdings ein Sonderfall. Im Grunde war der Junge mit den unbändigen blonden Locken und den großen braunen Augen bis zur ersten großen Pause absolut unansprechbar. Und da war es vollkommen wurscht, ob die Ansprache sanft, aufmunternd, mahnend oder ohrenbetäubend laut war. Bennys Reaktion war immer identisch: Alles, was er herausbrachte, war ein undefinierbares Grunzen. Und ein Gesichtsausdruck, der deutlich signalisierte, dass es besser war, ihm nicht zu nahe zu kommen. Das Einzige das – in den meisten Fällen zumindest – half, war der Duft eines frischen Toasts, fingerdick bestrichen mit Erdnussbutter.
Der Hüttenservice hatte das Frühstück vor wenigen Minuten vor der Tür abgestellt und leise geklopft. Während Elisabeth in Sekundenschnelle aus dem Bett hüpfte, blieb Jens liegen und machte ein schmatzendes Geräusch.
„Hmmm“, brummte er, während Elisabeth ihm das frische Toastbrot unter die Nase hielt. „Wie der Sohn, so der Vater“, wisperte sie Jens ins Ohr und beobachtete, wie sich ein jungenhaftes Lächeln auf das Gesicht ihres Mannes legte. Es waren diese kleinen, eher beiläufigen Momente, die Elisabeths Herz noch immer schneller schlagen ließen.
„Wird Zeit, Schatz! In einer guten Stunde müssen wir am Treffpunkt sein. Ich bin schon ganz aufgeregt!“
Das opulente Büffet im fünfzig Meter entfernten Hauptgebäude der Ferienanlage hatten sie am Vorabend sausen lassen und stattdessen in einem kleinen gemütlichen Restaurant landestypische Spezialitäten genossen: Maisgrieß, dazu frischer Fisch. Jens und Elisabeth bereuten ihre Entscheidung keine Sekunde.
Sie hatten die Fahrt zum St. Lucia See zusätzlich zum ohnehin schon teuren All-inclusive-Pauschalangebot gebucht, auch wenn es ihr Urlaubsbudget eigentlich nicht mehr zuließ. Aber wer wusste schon, ob sie noch einmal eine solche Gelegenheit bekommen würden? Eine herkömmliche Safari, wie man sie in Namibia oder in anderen Ländern des afrikanischen Kontinents buchen konnte, wäre für Jens und Elisabeth nicht infrage gekommen. Sie wollten etwas Besonderes, etwas Abwechslungsreiches. Sie würden in wenigen Stunden sowohl Nashörner und Leoparden als auch Pelikane und Reiher bewundern dürfen. Den Abstecher in die Sumpfgebiete konnten sie leider nicht verhindern. Der Reiseleiter schüttelte lachend den Kopf, als Jens ihm erklärte, wie sehr sich seine Frau vor jeglichen Amphibien ekelte. Als Abschluss würde es dann noch eine Walbeobachtung geben. Darauf freuten sich beide besonders. Buckelwale in freier Natur zu erleben war dann doch ein extraordinäres Spektakel, von dem sie noch Jahre später zehren dürften.
Eine halbe Stunde später klopfte es an ihrer Tür. Aufgeregt wie kleine Schulkinder schauten sich die beiden an.
„Bereit?“, fragte Jens und hielt dabei beide Arme hoch. Elisabeth klatschte ihren Mann ab und erwiderte: „Aber auf jeden Fall! Los geht’s!“
7
„Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Presse, liebe Kolleginnen und Kollegen.“ Modrich verdrehte die Augen. Er hasste diese hochoffiziellen Anlässe. ‚Fenster auf, Zeit raus, Fenster wieder zu’, dachte er und unterdrückte nur mit großer Mühe ein Gähnen. Er hatte letzte Nacht kaum ein Auge zugetan, weil Shao, der neben Modrichs Bett auf einer alten Matratze lag, während des Schlafes leise vor sich hin blähte. Das kam häufiger vor, aber in dieser Nacht musste etwas Shaos Verdauungstrakt heftiger als sonst in Wallung gebracht haben. In kurzen Abständen gab Shao ein leise zischendes Geräusch von sich, das Modrich jedes Mal vorwarnte und die Luft anhalten ließ. Der Gestank war derart penetrant, dass Peer sein Gesicht nach dem nächsten Atemzug ins Kopfkissen presste, um nicht die volle Ladung abzubekommen. Irgendwann, es musste kurz vor zwei Uhr nachts gewesen sein, hatte Modrich die Nase sprichwörtlich voll und entschied sich, auf die Wohnzimmercouch zu wechseln. Leider hatte er dabei die Rechnung ohne Shao gemacht. Der hatte nämlich überhaupt keine Lust, alleine im Schlafzimmer zu bleiben. Zuerst hockte er leise winselnd vor der verschlossenen Schlafzimmertür. Als Peer dies ignorierte, fuhr Shao schärfere Geschütze auf. Zuerst kratzte er am Teppichboden vor der Tür, und zwar so heftig, dass Modrich fürchtete, sein Hund würde ein Loch in den Boden des Zimmers buddeln, bis er auf der anderen Seite der Tür wieder wohlbehalten bei seinem Herrchen herauskäme. Als Shao endlich vom Teppichboden abließ, wähnte sich Modrich schon im Reich der Träume. Der Hund schien sich mit seiner Situation abgefunden zu haben. Alles, was Modrich noch wahrnahm, war ein tiefes Schnaufen, das klang, als wollte auch Shao nun endlich einschlafen. Offenbar war das Schnaufen allerdings nur die finale Vorbereitung Shaos, die Schlafzimmertür wie ein Rammbock aufzustoßen. Ein kurzer, schneller Anlauf, ein kerniger Sprung. Im nächsten Moment prallten sechzig Kilo mit voller Wucht gegen die stabile Holztür. Modrich, der durch seine bleierne Müdigkeit eigentlich schon eingeschlummert war, fiel vor Schreck von der Couch. Sein erster, instinktiver Gedanke war, dass sich ein Einbrecher Zutritt zu seiner Wohnung verschafft hatte, das laute Jaulen ließ ihn aber blitzschnell realisieren, dass sein Hund gegen die Schlafzimmertür gedonnert war und diese vermutlich stark beschädigt hatte. Auf allen Vieren krabbelte er in Richtung Tür, öffnete sie zaghaft, als der Tosa all seine Kraft aufbrachte, durch den eigentlich viel zu kleinen Spalt stieß und dabei Modrich zu Boden warf. Freudig erregt wedelte Shao mit dem Schwanz, ließ sich auf Modrich nieder und schleckte sein Gesicht ab.
„Ja doch, ich freu mich auch, dich wiederzusehen, Shao!“
Modrich schaffte es nur mit Mühe, das Tier zur Seite zu rollen und selber wieder auf die Beine zu kommen.
„Wir machen das wie folgt“, sprach Modrich und hob dabei den Zeigefinger in Richtung Shao, der seinen Kopf zur Seite legte. „Du darfst dich heute ausnahmsweise auf der Couch hier ausbreiten. Ich gehe wieder zurück in mein Bett und lasse die Schlafzimmertür offen. So kann ich hoffentlich endlich schlafen und du weiterhin ungestört vor dich hin blähen. Einverstanden?“
Mit dem letzten Wort nahm Peer den Kopf des Hundes in seine Hände, schüttelte diesen sachte und gab Shao einen Gute-Nacht-Kuss. Drei Stunden später hatte Modrich ein Einsehen und ging mit Shao vor die Tür. Es war höchste Zeit.
Oberstaatsanwältin Thea Brammenkemper strafte Modrichs genervten Gesichtsausdruck mit einem verächtlichen Blick und fuhr fort.
„Für alle, die mich noch nicht kennen: Mein Name ist Thea Brammenkemper. Ich bin seit einem knappen Monat die leitende Oberstaatsanwältin. Leider kann der Polizeipräsident aufgrund einer wichtigen Dienstreise nicht hier sein. Aus diesem Grund darf ich – und ich sage das nicht ohne Stolz – an seiner Stelle nun diese Aufgabe übernehmen. Lassen Sie uns kurz zurückblicken: Kurt Heppner war ein herausragender Kollege. Über viele Jahre hat er die Dortmunder Kriminalpolizei mit großem Geschick, kriminalistischem Spürsinn und einzigartiger Menschenkenntnis geführt. Niemand in diesem Revier hätte nur einen Gedanken daran verschwendet, dass es in Kurt Heppners Leben ein dunkles Geheimnis geben konnte, das schlussendlich aus einem vorbildlichen Staatsdiener einen unkontrollierbaren und kaltblütigen Mörder gemacht hat.“
Ihr Blick schweifte durch die Reihen und blieb bei Gregor Frobisch hängen.
„Und so tragisch und dramatisch Heppners Abgang auch war, bleibt uns nun keine weitere Zeit für Sentimentalitäten. Vielmehr ist es nun an uns und besonders an mir, den Nachfolger Kurt Heppners möglichst geräuschlos in seine neue Position zu heben und ihm den Einstieg etwas zu erleichtern. Selbstverständlich übernehme ich diese Aufgabe, gerade im Hinblick auf die traditionell gute Zusammenarbeit unserer Institutionen, sehr gern.“
Wieder blieb ihr Blick an Peer Modrich hängen, der diesmal allerdings nicht gähnte, sondern ein breites Grinsen aufsetzte.
„Kommissar Modrich“, raunzte Brammenkemper, „würden Sie die anderen Anwesenden und mich doch freundlicherweise an Ihrer guten Laune teilhaben lassen? Ich bin sicher, wir alle möchten dringend wissen, was an meinen letzten Worten so überaus witzig war.“
Peers Absicht, das Wort ‚geräuschlos‘ nur zu denken, ging gründlich daneben. Stattdessen murmelte er selbiges leise, aber eben hörbar in seinen Bart.
„Entschuldigung, geht das auch etwas lauter?“, trompetete die Oberstaatsanwältin. Ihre Halsadern waren bedrohlich angeschwollen. Peer dachte allerdings nicht an Deeskalation.
„Nun, wenn Sie mich so direkt fragen, liebe Frau Oberstaatsanwältin“, begann er, „sollen Sie natürlich eine Antwort bekommen.“
Alle Anwesenden drehten sich zu Modrich um, der in der hintersten Reihe saß und sich weiter um Kopf und Kragen redete. Alle außer Gregor Frobisch.
„Offensichtlich, und das sage ich bei allem gebotenen Respekt, ist Ihre Definition von ‚geräuschlos‘ eine andere als meine.“
Thea Brammenkemper richtete sich hinter dem Rednerpult auf, setzte ihre Lesebrille ab und ging dann langsam auf Modrich zu. Sie war eine äußerst stattliche Erscheinung. Dem Anlass entsprechend trug sie hohe Schuhe, die sie auf eine wirklich beeindruckende Größe wachsen ließen. Ihr war nicht entgangen, dass die meisten der anwesenden Pressevertreter und natürlich auch die versammelten Kollegen einen Mordsspaß an dem hatten, was Modrich gerade abzog. Als amtierende Oberstaatsanwältin musste sie in dieser Situation die Ruhe bewahren und diesen vorlauten Polizeikommissar souverän und ausschließlich verbal in seine Schranken weisen, auch wenn ihr in diesem Moment die Hand relativ locker saß. Ehe es jedoch dazu kommen konnte, hatte sich Gregor Frobisch von seinem Platz in der ersten Reihe erhoben und stellte sich nun mit einer beschwichtigenden Geste hinter das Rednerpult.
„Ich freue mich außerordentlich, einen so verdienten Kollegen wie Kommissar Modrich an meiner Seite zu wissen“, legte Frobisch los. Thea Brammenkemper machte eine schnelle Drehung und hob protestierend den Zeigefinger. Niemand sollte sie jetzt daran hindern, an diesem Polizeiflegel ein Exempel zu statuieren.
„Verehrte Oberstaatsanwältin Brammenkemper“, fuhr Frobisch fort. „Ich bin mir sicher, dass es Kommissar Modrich gut gemeint hat. Da Sie mich allen Anwesenden eingangs ausführlich vorgestellt haben, sollten wir den offiziellen Teil nun schnell hinter uns bringen und drüben in den Büros des Morddezernats noch ein Gläschen zur Feier des Tages trinken. Ich habe alkoholfreien Sekt besorgt. Ach ja, die geschätzten Kollegen von der Presse sind natürlich ebenfalls herzlich dazu eingeladen.“
Der folgende Applaus stimmte Thea Brammenkemper für den Moment wieder milde. Auch sie hatte nun offenbar eingesehen, dass es besser war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Diesen Modrich konnte sie sich auch noch ein anderes Mal vorknöpfen. Niemand bemerkte in diesem Augenblick, dass Peer sein Handy am Ohr hatte und seltsam blass wurde. Mit der freien Hand fuchtelte er abwechselnd wild herum und hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen.
„Sag das bitte noch mal. Ich habe den letzten Satz nicht verstanden!“
Mit einem Mal verstummten alle Anwesenden einschließlich des neuen Polizeichefs und der Oberstaatsanwältin. Peer nahm das Handy vom Ohr und wandte sich an die Journalisten.
„Bitte nicht böse sein, aber die Party ist leider vorbei, ehe sie beginnen konnte. Ich muss Sie nun bitten, den Raum zu verlassen, und zwar sehr zügig!“ Dann hielt er sich das Handy wieder ans Ohr. „Okay, warte noch einen Moment.“
Die Pressemeute verließ etwas missmutig den Raum. Natürlich hätten sie zu gern gewusst, was für die plötzliche Blässe im Gesicht des Kommissars verantwortlich war. Als kein Journalist mehr zu sehen war und der neue Polizeichef die Tür leise schloss, setzte Modrich das Telefonat fort.
„So, jetzt bitte noch mal, und zwar langsam und deutlich!“
Frobisch und die Oberstaatsanwältin blickten Modrich erwartungsvoll an, als dieser das Telefonat beendete und seinen Blick kurz zu Boden senkte.
„Wir haben einen ziemlich brutalen Mordfall zu beklagen. Haben Sie beide Zeit und Lust, mit mir den Dortmunder Zoo zu besuchen?“
Thea Brammenkemper schüttelte verständnislos den Kopf.
„Modrich, es kann ja sein, dass Sie einen besonders schrägen Humor haben, aber Sie können nicht erwarten, dass jeder über Ihre Witze lacht. Was soll das also jetzt bedeuten?“
„Wenn es um Mord geht, scherze ich nicht“, gab Peer unumwunden zurück. „Ich möchte mit Ihnen den Tatort inspizieren, und dafür müssen wir in den Dortmunder Zoo.“
Brammenkemper schien immer noch nicht ganz zu verstehen, folgte Modrich aber, ebenso wie Gregor Frobisch.