Kitabı oku: «Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt», sayfa 5
Verpasste Chancen und die Fusion zur Nestlé & Anglo-Swiss
Durch die Urbanisierung, neue ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse und Konservierungstechniken entwickelte sich die Milch im «Zeitalter des Hochkapitalismus»157 zum modernen Massenprodukt,158 was zu rasanten Veränderungen des Marktumfelds führte: Die Dauermilchproduktion trat Ende des 19. Jahrhunderts in ihre Wachstumsphase. Die Zahl der Konkurrenten stieg.159 Dabei verpasste es die Führung der Anglo-Swiss, wichtige Neuerungen im Bereich der Milchkonservierung frühzeitig zu erkennen: die Entwicklungen der keimfreien, ungezuckerten Kondensmilch und der sterilisierten Flüssigmilch.160
Nachdem die Anglo-Swiss nach dem verunglückten Eintritt ins Kindermehlgeschäft zu Beginn der 1880er-Jahre auch mit der Lancierung von Malzextrakten wenig Erfolg gehabt hatte, wurde George Page gegenüber neuen Produkten zunehmend kritisch. So lehnte er beispielsweise die Idee seines Mitarbeiters Johann Meyenberg ab, eine sterile, ungezuckerte Kondensmilch auf den Markt zu bringen. Dieser wanderte daraufhin nach Amerika aus, wo sich die ungezuckerte Kondensmilch als «Evaporated Milk» zu einem äusserst erfolgreichen Produkt entwickelte.161
Eine zusätzliche Konkurrenz erwuchs der gezuckerten Kondensmilch zudem mit der sterilisierten Flüssigmilch, welche um 1890 zur Verpflegung der europäischen Dampfschifffahrtsgesellschaften rasch bedeutend wurde. Aus dieser Entwicklung gingen unter anderem die 1892 gegründete Berneralpen Milchgesellschaft in Konolfingen und 1895 die Centralschweizerische Natur-Milch Exportgesellschaft in Hochdorf hervor.162
Einsichtig geworden, folgte die Anglo-Swiss 1894 ebenfalls diesem Markttrend, indem sie eine sahnehaltige Kondensmilch unter dem Namen Ideal Cream auf den Markt brachte und 1896 die norwegische Anglo-Scandinavian Condensed Milk Company mit Fabriken in Hamar und Sandesund übernahm, die sterilisierte Flüssigmilch und ungezuckerte Kondensmilch herstellte.163
Im Gegensatz zu Nestlé, der Berneralpen Milchgesellschaft164 und der Schweizerischen Milchgesellschaft Hochdorf165 versäumte es die Anglo-Swiss zudem, sich am Aufstieg der Schweizer Milchschokolade um die Jahrhundertwende zu beteiligen, welcher mit der erstmaligen Verfügbarkeit eines geschmacklich befriedigenden Milchpulvers in direktem Zusammenhang stand.166 Vorläufer der Milchschokolade wie Cocoa & Milk und Chocolate & Milk blieben für das Chamer Unternehmen Nebenprodukte, deren Weiterentwicklung nicht als Kernaufgabe angesehen wurde.167 Stattdessen war es Daniel Peter, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Nestlé an der Herstellung eines Milchkaffee- und Milchkakaopulvers tüftelte und Ende der 1880er-Jahre erstmals eine feste Milchschokolade herstellte.168 1904 stieg Nestlé über eine Kooperation mit Peter ebenfalls ins aufstrebende Schokoladegeschäft ein: Das Milchunternehmen verpflichtete sich, das Kapital der Société Générale du Chocolat Peter & Kohler um eine Million Schweizer Franken zu erhöhen, dem Schokoladefabrikanten Milch zu liefern169 und den Verkauf der Schokolade im Ausland zu übernehmen. Umgekehrt war Peter & Kohler für die Schokoladeproduktion zuständig und verpflichtete sich, ebenfalls Schokolade unter der Marke Nestlé herzustellen.170 1905 kam die erste Milchschokolade unter der Marke Nestlé auf den Markt, die damals vor allem in Grossbritannien verkauft wurde.171
Statt auf Innovation und Diversifikation setzte die Anglo-Swiss auf geografische Expansion. Ihren neuen Entwicklungsschwerpunkt sah sie in den Vereinigten Staaten, wo sie ihre Produktionskapazitäten in den 1880er-Jahren mit gewaltigen Fabrikationsanlagen erweiterte:172 1878 erstmals in Amerika tätig geworden, versuchte sie während der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung in den Vereinigten Staaten, mit Hilfe von Grössenvorteilen die dortigen Kondensmilchmärkte zu erobern. Nachdem das Chamer Unternehmen 1882 eine erste Milchfabrik in Middletown erstellt hatte, baute sie 1889 in Dixon die damals grösste Kondensmilchfabrik der Vereinigten Staaten auf.173
Der US-amerikanische Kondensmilchmarkt war allerdings weit umkämpfter als der europäische. Neben Borden hatten auch andere Unternehmer das Kondensmilchgeschäft entdeckt. Die rasche Ausweitung des Angebots durch den Bau grosser Fabriken führte zu einer Marktsättigung und brachte Überkapazitäten mit sich, die auf die Preise und Margen drückten. Statt der erhofften Gewinne durch Skalenerträge wurde die grosse Fabrik in Dixon bald zur finanziellen Belastung für das Unternehmen.174 Damit die Warenvorräte nicht übermässig anwuchsen, musste die Produktion gedrosselt werden. Ausserdem konnte Borden als «First Mover» den Marktanteil seiner Qualitätsmarke Eagle-Brand mühelos verteidigen, indem in rascher Folge billige «Kampfmarken» auf den Markt gebracht wurden,175 welche die Preise der Konkurrenz unterboten und diese aus dem Markt drängten.
Auch die Anglo-Swiss reagierte auf dem US-Markt mit Billigmarken, welche die eigene Qualitätsmarke Milkmaid vor Preisabschlägen schützen und gleichzeitig den Kondensmilchumsatz des Unternehmens ankurbeln sollten. Da die Marke Milkmaid in den Vereinigten Staaten allerdings noch nicht etabliert war, hatte diese Marketing-Strategie den unerwünschten Nebeneffekt, dass der Marktanteil der eigenen Billigmarken innerhalb kurzer Zeit grösser war als derjenige der Hauptmarke Milkmaid. Eine langfristige Bindung des Kunden an die Marke Milkmaid wurde dadurch verhindert. Die Kampfmarken schwächten deshalb – anders als bei Borden – nicht die Konkurrenz, sondern in erster Linie die Marktstellung der Anglo-Swiss selbst.176
Die Misswirtschaft im US-Geschäft177 liess den Gewinn des Unternehmens innerhalb von fünf Jahren auf einen Drittel einbrechen, die Börsenkurse sanken, Aktionäre gerieten in Panik und verkauften ihre Unternehmensanteile. Die schlechten Ergebnisse spalteten die Eigentümer der Anglo-Swiss in den 1890er-Jahren in zwei Fraktionen: Auf der einen Seite die Aktionäre aus England und Amerika, welche die Expansion in den Vereinigten Staaten forcieren wollten. Auf der anderen Seite die Schweizer Aktionäre und Finanzinstitutionen, welche das Hauptgeschäft des Unternehmens in Europa sahen und deshalb heimlich eine Unternehmensverschmelzung mit Nestlé suchten. In diesem Interessenskonflikt setzte sich vorerst der expansionistische Kurs der angelsächsischen Fraktion um George Page durch.178
Die Kräfteverhältnisse änderten sich jedoch um die Jahrhundertwende, als mit George Page die federführende Person der Anglo-Swiss verstarb. Unter seinem Sohn Fred Page wurde die Expansionsstrategie in den Vereinigten Staaten aufgegeben und die Sicherung der Märkte in Europa durch eine Fusion mit Nestlé angestrebt. 1902 verkaufte die Anglo-Swiss sämtliche Fabriken, Patente und Marken (mit Ausnahme der Marken Milkmaid und Ideal) in Nordamerika für zwei Millionen Dollar an Borden. Mit dem Verkauf wurde eine bedeutende geografische Marktaufteilung vertraglich festgelegt: Die Anglo-Swiss durfte nicht mehr auf den Märkten Nordamerikas tätig werden, während Borden nicht nach Europa expandieren durfte. Gleichzeitig wurde nun eine Fusion mit Nestlé angestrebt, die am 15. April 1905 schliesslich perfekt war.
Die Verschmelzung hatte für beide Unternehmen Vorteile. Einerseits hatte damit der erbittert geführte Konkurrenzkampf ein Ende. Andererseits eröffnete die Fusion den beiden Schweizer Unternehmen ganz neue Zukunftsperspektiven: Mit einem Aktienkapital von 40 Millionen Schweizer Franken, das beide Unternehmen zur Hälfte beisteuerten, stellte die Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company dank den gebündelten Kräften nun eindeutig das grösste Kondensmilchunternehmen Europas dar.179 Es verfügte neu über 20 Milchfabriken180 und besass ausländische Tochtergesellschaften in England, Deutschland, Frankreich, Norwegen, Spanien, Österreich und in den Vereinigten Staaten.181 Organisatorisch fand zwischen den beiden Gesellschaften zwar keine vertiefte Verschmelzung statt,182 gleichzeitig ergänzten sich die Distributionsnetzwerke von Nestlé und der Anglo-Swiss Condensed Milk Company aber hervorragend: Während Nestlé in Europa ein ausgezeichnetes Vertriebsnetz aufgebaut hatte,183 verfügte die Anglo-Swiss im britischen Empire (Grossbritannien und seine Kolonien) über eine starke Position.184
Mit Schweizer Milch und Milchschokolade zum Weltkonzern
Während die beiden Hauptsitze in Cham und Vevey als Zeichen der vollkommenen Gleichberechtigung zwischen den Fusionspartnern beibehalten wurden,185 entstand 1905 mit dem Zusammenschluss ein zusätzlicher Hauptsitz in London, der zur entscheidenden Schaltstelle der Verkaufsorganisation wurde: Von hier aus versorgte die Nestlé & Anglo-Swiss nicht nur den bedeutenden britischen Heimmarkt, sondern organisierte auch den weltweiten Export ihrer Milchprodukte nach Asien, Afrika, Australien und Lateinamerika.
Mit der Zentralisierung des Exportgeschäfts in London begann auch der Aufbau einer weltweiten, firmeneigenen Verkaufsorganisation. Anstelle von Agenten, welche auf Kommissionsbasis arbeiteten, wurde der Vertrieb in zahlreichen Exportmärkten nun eigenen Leuten anvertraut, die entsprechend geschult waren und sich ausschliesslich mit der Vermarktung von Nestlés Markenprodukten beschäftigten.186 Die permanenten Vertretungen verursachten zwar hohe Kosten, waren aber beim Vertrieb von sensiblen Gütern wie Kindernahrungsmitteln durchaus sinnvoll.187
In den folgenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Nestlé & Anglo-Swiss zum Weltkonzern: Entlang der Wasserstrassen kolonialer Handelsgesellschaften baute das Unternehmen mit über 20 Handelsniederlassungen in Asien, Afrika, Australien und Lateinamerika188 eine äusserst schlagkräftige und feinmaschige Verkaufsorganisation um den ganzen Globus auf.189 Weil der Transport der Schweizer Milch um die halbe Welt hohe Kosten verursachte, begann Nestlé ab 1907 auch in Australien – damals neben Grossbritannien Nestlés bedeutendster Absatzmarkt – Milchfabriken aufzubauen,190 um von dort aus die britischen Kolonien und die Märkte im Fernen Osten zu beliefern.191 Zudem errichtete das Unternehmen zur Versorgung des Britischen Empires 1912 eine weitere Milchfabrik in Ashbourne (Grossbritannien) und erwarb im selben Jahr eine bedeutende Beteiligung an der Galak Condensed Milk Company in Rotterdam, von wo aus sie entrahmte Kondensmilch nach Asien exportierte, die – wie Jean Heer erwähnt – in Südostasien dem Tee beigegeben wurde.192 Die Verbreitung der Schweizer Dosenmilch im asiatischen Raum ist deshalb wohl nicht zuletzt auf die Gewohnheit zurückzuführen, Kaffee und Tee mit Milch zu mischen. Noch heute wird in Malaysia, Indonesien oder Vietnam der traditionelle Kaffee mit Kondensmilch zubereitet.193
Die Länder des Südens wurden dadurch als Absatzmärkte von Nestlés Kondensmilch immer wichtiger. 1913 erzielte das Schweizer Unternehmen fast zwei Drittel seines Umsatzes mit Dosenmilch ausserhalb Europas und Nordamerikas.194 Das globale, firmeneigene Vertriebsnetz stellte dabei einen wesentlichen Vorteil der Nestlé & Anglo-Swiss gegenüber der Konkurrenz dar. Zusammen mit der geografischen Marktabsprache, welche die Anglo-Swiss 1902 mit Borden geschlossen hatte, sicherte dieses dem Unternehmen aus Cham die Vorherrschaft auf den Kondensmilchmärkten Europas und in den Kolonien. Insbesondere im Britischen Empire verfügte Nestlé über zahlreiche Vertretungen. In Lateinamerika begann Borden die Nestlé & Anglo-Swiss ab 1910 zwar ernsthaft zu konkurrenzieren, aber auch hier konnte sich das Schweizer Unternehmen zwei Jahre später mit dem amerikanischen Milchkonzern auf ein Übereinkommen einigen und dadurch seine starke Stellung sichern.195
Zusätzlich verfügte die Nestlé & Anglo-Swiss mit Nestlé’s Kindermehl über eine äusserst einträgliche Spezialität, die 1914 mit einem Anteil von drei Prozent am Gesamtumsatz 16 Prozent des Gewinns erwirtschaftete. Dies erlaubte es dem Unternehmen, auch auf Märkten tätig zu sein, wo die Kondensmilch weniger erfolgreich war.196 Daneben verbreitete Nestlé ebenfalls die Schokolade von Peter & Kohler über ihr Distributionsnetzwerk. Einzig in Nordamerika, wo die Nestlé & Anglo-Swiss aufgrund der Verträge mit Borden nur Kindermehl herstellen durfte und deshalb über kein starkes Distributionsnetz verfügte,197 verkaufte Peter & Kohler ihre Schokolade über die Lamont, Corliss & Co. in New York. Die Umsatzzahlen der Schweizer Schokolade in Nordamerika nahmen allerdings bald derartige Dimensionen an, dass Lamont, Corliss & Co. die Schokolade nicht mehr aus der Schweiz importieren, sondern im Land selber herstellen wollte. Ab 1907 begann das amerikanische Unternehmen deshalb unter der Konzession von Peter & Kohler Milchschokolade in der Nestlé-Fabrik in Fulton herzustellen. 1909 übernahmen die Amerikaner schliesslich die Fabrik in Fulton, womit die Nestlé & Anglo-Swiss in Nordamerika keine Produktionsanlagen mehr besass.198
Trotz dieser Schwachstelle in Nordamerika war Nestlé im Vergleich zu anderen Schweizer Milch- und Schokoladeunternehmen nicht nur grösser,199 sondern auch internationaler aufgestellt: Während die Berneralpen Milchgesellschaft oder die Schweizerische Milchgesellschaft Hochdorf ihre Milchprodukte vor allem nach Afrika und Asien exportierten,200 waren Schokoladeunternehmen wie Suchard201 oder die 1911 aus der Fusion von Cailler und Peter & Kohler entstandene Peter-Cailler-Kohler202 aufgrund der Hitzeempfindlichkeit ihres Produkts vor allem in Europa und Nordamerika aktiv.203 Die Nestlé & Anglo-Swiss dagegen vertrieb sowohl Kondensmilch in den Kolonien als auch Kindermehl und Schokolade in Europa.
Der Erste Weltkrieg und die Krise in der Nachkriegszeit – Nestlé schlittert knapp am Konkurs vorbei
Kondensmilch, Kaffee und Kakao an der Kriegsfront
Nachdem sich bis 1914 eine globale Weltwirtschaft ausgebildet hatte, erlebte der internationale Warenverkehr mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen abrupten Rückschlag.204 Vielfach wird zwischen 1914 und 1945 von einer Periode der «Deglobalisierung» gesprochen. Der wachsende Nationalismus und Protektionismus führten zu einem Rückgang des Welthandels,205 die Lebensmittelindustrie wurde immer mehr durch politische Einflüsse gesteuert und die Nationalität eines Unternehmens zur politischen Angelegenheit.206 Auch Firmen von neutralen Staaten wie der Schweiz gerieten auf schwarze Listen207 von Krieg führenden Parteien und wurden durch ihre internationale Vernetzung zunehmend in die Kriegswirren verstrickt:
Während das auf Deutschland ausgerichtete Schokoladeunternehmen Suchard in Frankreich angefeindet wurde, geriet Nestlé aufgrund der starken Verflechtung mit Grossbritannien bei den Deutschen bald in Ungnade. Um den Schaden in Grenzen zu halten, fasste die Nestlé & Anglo-Swiss ihre Fabriken in Lindau und Hegge im Dezember 1914 in einer neuen Tochtergesellschaft unter dem Namen «Das Milchmädchen Kondensmilch GmbH» zusammen und löste diese teilweise von der Muttergesellschaft ab. Ebenso wurde die Kondensmilch nun nicht mehr unter der Marke Milkmaid, sondern Milchmädchen verkauft, beides um in Deutschland die Spuren der Nestlé nach England zu verwischen.208 Auch in anderen Ländern wie Frankreich, Österreich, Norwegen und Südafrika gründete Nestlé daraufhin angesichts des zunehmenden Nationalismus und Protektionismus eigene Tochtergesellschaften.209
Neben diesen politisch motivierten Attacken brachte der Erste Weltkrieg für die Schweizer Milch- und Schokoladeindustrie aber auch Vorteile mit sich: Viele Unternehmen wiesen durch die steigende Nachfrage der Armee und Zivilbevölkerung nach ihren Produkten einen sehr zufriedenstellenden Geschäftsgang auf. Die gezuckerte Kondensmilch der Nestlé & Anglo-Swiss gehörte ab 1915 zur Notration der britischen Soldaten, was den Bedarf nach Kondensmilch bei den britischen Streitkräften sprunghaft von 181 000 Kisten auf 903 000 Kisten ansteigen liess und das Westschweizer Unternehmen an die Grenzen seiner Produktionskapazitäten brachte.210 Zudem bewarb Nestlé ihre Kondensmilch bei der Zivilbevölkerung als gefragtes Nahrungsmittel in Soldatenpaketen, damit diese an der Front den Tee mit Milch geniessen konnten.211
Aber auch die Zivilisten selber mussten immer öfter auf Dauermilchprodukte wie die Kondensmilch zurückgreifen:212 Weil die Soldaten ein Mehrfaches an Fleisch konsumierten als in Friedenszeiten und der Fleischpreis dadurch gegenüber dem Milchpreis anstieg, schlachteten viele Bauern ihre Kühe, statt ihre frische Milch zu verkaufen.213 Das Frischmilchangebot wurde dadurch immer knapper, was der Nestlé & Anglo-Swiss den Zugang zu neuen, bedeutenden Kundenkreisen ausserhalb der städtischen Ballungszentren erschloss, wo Kondensmilch bis 1914 praktisch unbekannt geblieben war. Nestlés Kondensmilchumsatz vervierfachte sich dadurch bis 1919, womit Europa und insbesondere Grossbritannien zum bedeutendsten Absatzmarkt des Unternehmens aufstieg.214
Ebenso erreichten auf den Britischen Inseln die Umsatzzahlen von Nestlés aromatisierten Kondensmilchsorten Coffee & Milk und Cocoa &Milk neue Dimensionen: Bewegten sich die Verkaufszahlen vor dem Krieg noch unter 20 000 Kisten pro Jahr, schnellten sie 1915 auf 99 000 Kisten an.215 Dabei wurden die beiden Instantgetränke auch in kleineren Mengen der britischen Armee geliefert.216
Nachdem Coffee & Milk 1912 in Ashbourne (Grossbritannien) wesentlich verbessert werden konnte,217 wurde das Produkt in Grossbritannien nun als «Kaffee, wie man ihn in Paris geniesst» unter der Marke Milkmaid Café au lait verkauft. «It is not an essence or anything of that sort – simply the finest, freshly roasted Coffee expertly made with rich, full-cream milk which brings out the exquisite, natural aroma of the Coffee, and sugar added. Far nicer than ordinary Coffee, easy to prepare – only boiling water required – and most economical because it saves the cost of both milk and sugar»,218 wurde der Milchkaffee in den Werbeannoncen bereits damals von den minderwertigen Kaffee-Essenzen klar abgehoben und mit Argumenten beworben, die später auch für Nescafé verwendet werden sollten.
Dabei ist der Aufschwung von Milkmaid Café au lait und seinem kakaohaltigen Pendant Milkmaid Cacao au lait im Zusammenhang mit der allgemeinen Popularisierung von Kakaoprodukten und Kaffeepulver als Stärkungsgetränke der Soldaten zu sehen. Neben Milkmaid Café au lait in Grossbritannien existierten während des Ersten Weltkriegs zahlreiche weitere Instantkaffeemarken wie Belna in Frankreich oder Ruwil und Cefabu-Pulverkaffee im Deutschen Reich.219 Die bedeutendste Instantkaffeemarke im Ersten Weltkrieg war aber der amerikanische G. Washington’s Coffee. Die «Tasse George», wie sie von den US-Soldaten auch genannt wurde, profitierte davon, dass der Röstkaffee durch die Senfgasangriffe der Deutschen vergiftet worden wäre und Kaffee somit nur als Instantkaffee in hermetisch verschlossenen Dosen an die Truppen abgegeben werden konnte. Wie Briefe von der Front berichten, entwickelte sich dieser bei den US-Soldaten in den Schützengräben zu einer äusserst willkommenen Abwechslung.220
Abbildungen 2 und 3: Werbeanzeigen aus dem Jahr 1915 für Milkmaid Café au lait in Grossbritannien. Der Milchkaffee der Nestlé & Anglo-Swiss wurde während des Ersten Weltkriegs als anregendes, Kräfte freisetzendes Getränk für die Soldaten an der Front sowie als günstiges, praktisches und nährreiches Produkt für Zivilisten vermarktet.
Nestlés gewagte Expansionsstrategie zur Sicherung seiner Marktstellung
Der Erste Weltkrieg eröffnete den Herstellern von Kondensmilch, Kaffee- und Kakaogetränken nicht nur gesicherte Absatzbedingungen durch die stetig steigende Nachfrage in den Krieg führenden Ländern. Die Kampfhandlungen erschwerten auch den internationalen Warenverkehr. Besonders der uneingeschränkte U-Boot-Krieg der Deutschen blockierte die Transportwege auf den europäischen Meeren und führte zu einem gewaltigen Preisanstieg auf Rohmaterialien.
Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Rohstoffbeschaffung verschlechterten sich die Qualität und die verfügbaren Mengen auf den Milch-, Kaffee- und Kakaomärkten zusehends: An die Stelle von Kaffee und Kakao traten immer öfter Kaffeesurrogate von fragwürdiger Qualität, welche dem Ruf des Zichorienkaffees schadeten, sowie minderwertiger «Kakao-Tee» aus Kakaoschalen. Ausserdem nahm die Milchproduktion in der Schweiz – von wo aus Nestlé etwa einen Drittel ihrer Milchdosen exportierte – aufgrund von politischen Massnahmen und fehlenden Futtermitteln für die Kühe stetig ab, was schliesslich selbst im damals bedeutendsten Milchexportland zu einer Milchknappheit führte. Anfang November 1915 ermächtigte die Schweizer Regierung das Volkswirtschaftsdepartement, die Kondensmilchproduktion zeitweilig oder dauerhaft einzustellen, um die dadurch freiwerdenden Milchmengen zur Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Trinkmilch verwenden zu können.
Die Nestlé & Anglo-Swiss reagierte auf diese neuen Marktbedingungen, indem sie einerseits bedeutende Vorräte an Waren und Rohmaterialien anlegte, um sich vor Lieferungsengpässen und kurzfristigen Preissteigerungen auf Rohmaterialien zu schützen.221 Andererseits begann sie ab 1915 mit amerikanischen Milchunternehmen Verträge abzuschliessen, um deren Kondensmilch unter den eigenen Marken in Europa verkaufen zu können.222
Als sich die Milchknappheit in der Schweiz im Winter 1916/17 allerdings dermassen zuspitzte, dass die Nestlé & Anglo-Swiss mehrere Schweizer Milchsiedereien schliessen musste und die enorme Nachfrage nach Kondensmilch von den bisherigen Fabrikationsstandorten aus – die sich hauptsächlich in Europa befanden223 – nicht mehr befriedigt werden konnte, geriet Nestlés Hegemonie auf den Kondensmilchmärkten Europas und in den europäischen Kolonien zunehmend in Gefahr: Amerikanische Unternehmen begannen ihre Kondensmilch nach Europa zu exportieren, während australische Gesellschaften auf den Exportmärkten im Fernen Osten tätig wurden.224
Da den kooperierenden US-Gesellschaften die Mittel fehlten, um ihre Produktionskapazitäten auszuweiten, entschied sich die Nestlé & Anglo-Swiss am 6. September 1917, eine bedeutende Delegation nach Amerika zu schicken, um mit Borden über die Auflösung der geografischen Marktaufteilung von 1905 zu verhandeln, welche auf dem Abkommen aus dem Jahr 1902 beruhte. Das Schweizer Unternehmen sollte damit die Möglichkeit erhalten, der Milchknappheit durch die Übernahme und den Ausbau ihrer verbündeten Milchunternehmen in den Vereinigten Staaten zu begegnen. Am 27. Dezember 1917 wurde mit Borden schliesslich eine Lösung225 gefunden, welche Nestlé sowohl die Fabrikation von Kondensmilch in Nordamerika als auch den Eintritt in den amerikanischen Kondensmilchmarkt ermöglichte. Damit war das Startsignal für den Aufkauf zahlreicher amerikanischer Unternehmen durch die Nestlé & Anglo-Swiss gegeben:
Mit der Hires Condensed Milk Company in Philadelphia und der John Wildi Evaporated Milk Company in Columbus erwarb Nestlé 27 Fabriken, welche etwa acht Millionen Kisten Kondensmilch produzierten. Damit hatte Nestlé ihre Produktionskapazitäten auf einen Schlag verdoppelt, doch der enorme Expansionsdrang war damit noch nicht beendet. Bis 1920 übernahm das Unternehmen mit der International Condensed Milk Company, der Wisconsin Milk Company, der Alpine Milk Company226 sowie sechs weiteren Milchsiedereien insgesamt weitere 18 Fabriken in den Vereinigten Staaten.227
Zeitgleich mit der Expansion nach Amerika schloss Nestlé auch mit verschiedenen australischen Unternehmen wie der Baccus March Concentrated Milk Company Kontrakte ab, in denen sich diese bereit erklärten, ihre Produkte unter Nestlés Marken zu verkaufen. Die Abkommen brachten für beide Parteien Vorteile: Nestlé konnte damit eine ernsthafte Gefährdung ihrer Stellung auf den südostasiatischen Märkten verhindern, andererseits konnten die australischen Unternehmen ihre Kondensmilch unter der Marke Milkmaid teurer verkaufen als unter den eigenen Marken, da diese als Qualitätsprodukt wahrgenommen wurde. 1920 übernahm Nestlé die australischen Unternehmen schliesslich.228 Ein Jahr später gründete Nestlé 1921 mit dem Bau einer Milchfabrik in Araras (Brasilien) ebenfalls ihre erste industrielle Niederlassung in Lateinamerika. Sie stellte die erste Produktionsanlage des Unternehmens in den Tropen dar, wo die Milchproduktion noch praktisch inexistent war.229
Die Expansion nach Amerika stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der Nestlé & Anglo-Swiss dar. Während sich die Produktion des Unternehmens bis 1916 schwerpunktmässig auf die Schweiz, Norwegen und Grossbritannien konzentriert hatte und die Nestlé & Anglo-Swiss von dort aus ein Milchimperium aufgebaut hatte, welches Europa und seine Kolonien umfasste, veränderten sich die Verhältnisse bis 1919 grundlegend: Die Vereinigten Staaten entwickelten sich neu zum wichtigsten Produktionsstandort des Unternehmens, wo Nestlé nun fast die Hälfte der Kondensmilch herstellte, während die Schweiz ihre einstige Bedeutung auf diesem Gebiet verlor. Grossbritannien blieb zwar weiterhin ein beachtlicher Produktionsstandort und wichtigster Absatzmarkt des Unternehmens, verlor gegenüber anderen Produktionsstandorten in Amerika und Australien aber ebenfalls an Gewicht. Die aussergewöhnliche Produktionsverlagerung ist dabei auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Nestlé damals glaubte, ihre führende Stellung auf den Weltmärkten nur dann langfristig halten zu können, wenn sie in den Vereinigten Staaten tätig wurde. Denn die amerikanische Milchindustrie stellte zu jener Zeit rund dreimal mehr Kondensmilch her als die aller anderen Länder der Welt, hatte diese allerdings aufgrund der grossen Binnennachfrage nicht in grösserem Umfang ins Ausland exportiert.230