Kitabı oku: «Steine zählen», sayfa 2

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Matti

Matti hinkte über den Hof. Mit dem Stock hieb er nach den Steinen, die ihm in die Quere kamen. Das Gehen fiel ihm schwer. Die Hüften. Seit Jahren taten sie nur noch Dienst nach Vorschrift. Wäre er zum Arzt gegangen, hätte der ihm garantiert künstliche Gelenke aufgeschwatzt. Und wo das hinführte, sah er ja bei Oksanen. Der saß seither im Rollstuhl.

Er schlug nach einem weiteren Stein. Traf er nicht beim ersten Mal, so gab es keinen weiteren Versuch. Er hätte sonst stehen bleiben müssen. Und das ging ja nicht, da er sich dann auf den Stock abstützte. Am Anfang hatte er noch mitgezählt, wie manchen Stein er auf Anhieb getroffen hatte. Seit die Trefferquote stetig abnahm, hatte er es aufgegeben.

Traf der Stock, so gab der Alte ein glucksendes Geräusch von sich. Es war Arto, dem er den Hieb verpasste. Seinem Schwager, diesem falschen Hund. Und Marja. Natürlich steckte seine Schwägerin hinter allem. Sie hatte Märta so lange beackert, bis diese weich geworden war. Bis sie eingewilligt hatte in den nächsten Akt dieses Trauerspiels.

Der Hund, der neben ihm hertrottete, schielte ängstlich nach dem Stock. Der Alte beachtete ihn nicht. Er ging quer über den Vorplatz, hinüber zum leeren Hühnerhof, dessen Gehege gleich angrenzend an den Brennholzschuppen lag. Das Drahtgeflecht war an mehreren Stellen vom Rost zerfressen und hing durch. Die kotverspritzte Leiter zum Hühnerhaus war eingebrochen. Das Holz war dort schwarz und schwammig. Um das Hühnerhaus, das auf hohen Beinen wie auf Stelzen stand, wucherte ein Urwald von Brennnesseln.

Der Alte blieb stehen. Sein Stock kam zur Ruhe. Lange stierte er durch die ramponierten Drähte und zählte die Hühner ab, die der Fuchs im Lauf der Jahre an Ort und Stelle gerupft oder fortgetragen hatte. Aus Fuchsfellen hatte er sich nie etwas gemacht. Wenn er einen Fuchs geschossen hatte, oder auch einen Marder, dann hatte er die blutigen Tierkörper an die Vogelbeerbäume hinter dem Haus gehängt. Zur Abschreckung. Die Krähen hackten ihnen die Augen aus. Die Fliegen setzten ihre Brut darin ab. Erst wenn die Maden sich im verwesenden Fleisch dick und gelb ringelten und der Gestank unerträglich wurde, verscharrte er die Kadaver in der kleinen Grube am Ende des Fahrweges. Weg damit! Er wollte nichts damit zu tun haben. Was sollte er mit einem Haus voller verstaubter Fuchsschwänze?

Er machte sich eigentlich auch nichts aus Hühnern. Aber als junger Mann hatte er die Eier roh geschlürft. Und mit einem kräftigen Schluck Wodka anschließend die Speiseröhre geputzt. Da war er so richtig im Saft gewesen. Er gluckste. Im Saft war er gewesen. Mutwille und Kraft fuhren wie Stromstöße durch seinen Körper. Er fühlte sich niemandem unterlegen. Niemand! Wie auch?! Was er fühlte, war das Leben. Das Leben, das er verkörperte, er selber. Es gab Augenblicke, da bewegte er sich nahe an der Unsterblichkeit. Ja, so war das gewesen. Gewesen.

Der Husten schüttelte ihn.

Eier. Später hatte Märta die dicken Eierpfannkuchen gebacken, nach dem Rezept ihrer Großmutter. Eine Spezialität der Åland-Inseln. Er hatte sich nie satt essen können daran.

Aber irgendwann waren dann auch vom letzten Huhn nur noch ein paar schäbige Federn zurückgeblieben, und er hatte sich geweigert, ein weiteres Mal neue Hühner zu kaufen.

»Wir haben einen nichtsnutzigen Hund«, hatte er Märta beschieden. »Das reicht. Oder glaubst du, ich will auch noch alle hergelaufenen Füchse ernähren?«

Nur: Die Füchse hatten ihm das nicht abgenommen mit dem leeren Hühnerhof. Die strichen nachts trotzdem ums Haus. Was wusste dieser Nyström schon? Keine Ahnung hatte er. Zugezogen war er, nicht von hier. Stand immer auf der Seite der Frauen, auch wenn seine eigene … Aber er hatte ja wieder eine neue.

Der Alte hieb mit dem Stock auf das Drahtgeflecht, dass es schepperte. Der Hund machte erschrocken einen unbeholfenen Sprung zur Seite. Matti hatte sich mit dem Stock in den Zaunmaschen verheddert und wäre beinahe gestürzt, als er ihn endlich herausreißen konnte.

»Teufel auch!«, fluchte er.

Er war ein verdammt alter Mann geworden. Mit trüben Augen und unsicheren Beinen. Manchmal schlug diese Hilflosigkeit in ohnmächtige Wut um. Früher hätte er alles kurz und klein geschlagen. Früher. Bis wann hatte dieses früher gedauert? Seit wann konnte er nicht einmal mehr mit den Zähnen knirschen?

Und schießen? Bestenfalls in die Luft. Da lachten sich die Füchse krumm. Dabei hatte es eine Zeit gegeben, da war nichts vor ihm sicher gewesen. Da hatte er auf alles geschossen, was sich in seinem Waldrevier bewegte. Oder auch nur am falschen Ort stand. Das war vom einsamen Fliegenpilz über keifende Elstern und streunende Hunde gegangen, bis zu den mit dem Bus aus Bulgarien oder der Ukraine hergekarrten Beerenpflückern.

Der Hund winselte.

»Komm her«, sagte der Alte.

Das Tier bewegte die Ohren, blieb aber auf Distanz.

»Blödmann!«, zischte Matti.

Er schlug mit dem Stock nach ihm und schwankte. Der Hund wusste, dass er außerhalb der Reichweite des Stocks saß. Er rührte sich nicht, ließ aber den Alten nicht aus den Augen.

»Hau ab!«, brüllte Matti. »Hau ab!«

Der Hund leckte sich am haarlosen Bauch, dann trollte er sich.

»Ja, geh nur – geht nur, alle miteinander!«, schrie Matti. »Verdammtes Pack!«

Plötzlich durchfuhr ihn ein Schüttelfrost, als hätte er Fieber. Seine rechte Hand schmerzte, und als er hinsah, blutete sie noch immer.

Er ging zurück zum Haus. Auf der Vortreppe musste er sich ausruhen. Früher hatte er die drei Stufen in einem Schritt überwunden.

In der Küche lagen die Glasscherben wie kleine, glitzernde Eisstücke auf dem Tisch. In den Pfützen auf dem Wachstischtuch trieben zerquetschte Fliegen.

Matti setzte die Schnapsflasche an und schluckte, bis er husten musste. Er trug die Flasche zum Ausguss und goss den restlichen Inhalt über die blutende Hand. Vor Schmerz verzog er das Gesicht. Er sah es im Spiegel, der an der Wand hing. Alt war er geworden. Und schwach. Die Jahrringe kerbten sich immer tiefer ein. Er wusste es. Und die anderen wussten es auch. Er war verwundbar geworden. Sie bliesen zur Jagd. Jetzt hatten sie ihm Märta genommen. Das Wild war angeschossen. Glaubten sie. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn zur Strecke bringen würden. So lautete ihre Rechnung. Sie hatten die Polizei geschickt. Das Gewehr war weg. Vom Jäger war er plötzlich zum Gejagten geworden.

Ein Zittern lief durch die verletzte Hand. Der brennende Schmerz blieb. Matti ging in die Vorratskammer und holte eine neue Flasche. Er stellte sie auf den Tisch, aber er öffnete sie nicht.

Als er zum Haus gekommen war, stand die Tür offen. Er hatte sie wohl nicht richtig geschlossen, als er mit dem Hund in den Wald gegangen war. Aber dann hörte er, dass jemand im Haus war. Aus der Schlafkammer im Obergeschoss vernahm er das quietschende Reiben von Schubladen, die aufgezogen und zugeschoben wurden. Wer kam denn auf die absurde Idee, in dieser armseligen Hütte etwas stehlen zu wollen? Beinahe hätte er laut aufgelacht bei diesem Gedanken. Nein, das war irr! Trotzdem versuchte er, sich leise zu bewegen, als er zum Schrank ging im Flur und das Gewehr hervorholte. Das Knacken, als er den Hahn spannte, durfte der Eindringling dann ruhig hören. Einen Augenblick blieb es oben ganz still.

»Bist du das, Matti?«

Es war Märtas Stimme, und im ersten Moment war er froh, dass sie es war. Er stellte das Gewehr in den Treppenaufgang.

»Was zum Teufel machst du da oben?«, fragte er, und die Erleichterung hatte sich bereits wieder verflüchtigt.

»Märta!«, rief er, weil sie nicht Antwort gab.

»Gleich«, rief sie jetzt, und er hörte, dass sie herunterkam.

»Haben sie dich rausgeschmissen?«, grinste er, als sie auf dem Treppenabsatz stehen blieb.

»Wie meinst du das?«, fragte sie.

»Na, weil du schon zurück bist.«

»Ich bleibe nicht«, sagte Märta.

Das Zittern in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Du bleibst nicht?«

»Nein. Ich wollte nur ein paar zusätzliche Sachen holen.«

Er sah sie scharf an. So scharf, wie das bei seinen Augen noch möglich war. Märta zuckte zusammen und wich seinem Blick aus.

Matti sah, dass sie log. Eigentlich hatte sie sagen wollen: Ich bleibe nicht länger hier. Sie hatte sich nie verstellen können, ihm gegenüber nicht und auch sonst niemandem. Ein offenes Buch war sie, eine miserable Schauspielerin.

»Du willst mich verlassen«, sagte er kalt.

Sie zuckte zusammen.

»Matti …«

»Ich weiß alles«, sagte er.

»Nein, Matti, ich …

»So weit hat dich diese Brut also gebracht«, stellte er fest. »Hetzt meine Ehefrau gegen mich auf!«

Er presste die Worte durch die Zahnstummel, dass der Speichel spritzte.

»Du verstehst das falsch«, versuchte Märta ihn zu beschwichtigen.

»Du konntest noch nie lügen«, gab er zurück.

»Es geht doch nur um ein paar Tage«, sagte Märta.

»Erzähl das deiner fürsorglichen Schwester«, zischte Matti. »Soll sie dich behalten! Vielleicht wird der Schwager noch mehr Freude an dir haben.«

»Ich bitte dich, Matti«, flehte Märta.

Ihre Stimme hatte jetzt diesen weinerlichen Ton, den Matti über alles hasste.

»Geh nur – los, geh!«, sagte er. »Hau einfach ab!«

Verängstigt versuchte sie, sich an ihm vorbeizudrücken, um zur Tür zu gelangen. Er hinderte sie nicht.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht …«

»Was tut dir leid?«, brüllte er.

Sie sah, dass er nach dem Gewehr griff, und eilte zur Tür hinaus.

Matti humpelte ihr nach durch den Flur, in der einen Hand den Stock, in der anderen das Jagdgewehr.

»Dann soll es dir auch leidtun!«, schrie er ihr nach.

Als er endlich auf der Vortreppe stand, war Märta bereits in den Waldweg eingebogen. Er hob das Gewehr in die Luft und erschrak selber, als sich plötzlich ein Schuss löste.

Der Knall hatte ein Loch in den Himmel gerissen, und irgendwo war ein großer Vogel aus den Bäumen aufgeflattert.

Das Brennen in der Hand hatte etwas nachgelassen. Der Alte starrte auf die Flasche. Die Flasche glotzte ihn an. Seine Hand zuckte. Aber er hielt sich zurück. Vor wenigen Jahren noch hätte er die Flasche gegen die Wand geschmissen. Die volle Flasche. Und hätte zugesehen, wie Märta die Sauerei wortlos aufputzte. Die andere Hand, die unverletzte, war wieder unruhig geworden und ging ihrer spinnenhaften Tätigkeit nach. Aber die Fliegen waren ihr bald zu wenig. Sie hatte Lust, in etwas Größeres zu greifen, in etwas Weiches, Zartes. Sie hatte Lust, zuzudrücken und nicht mehr loszulassen, bis dieses so aufreizend Unschuldige sich nicht mehr regte. Genau das machte den Alten so fuchsteufelswild: dieses ahnungslos Unschuldige, das niemandem etwas zuleide tun konnte.

Plötzlich besann er sich auf die Kaninchenpistole. Seine Augen bekamen einen seltsamen Glanz. Kaninchen besaß er zwar schon seit Jahren nicht mehr. Aber die Waffe war noch da. Er überlegte, wo er sie hingelegt hatte. Soweit er sich erinnerte, musste sie sich in der Werkstatt befinden. In einer Schublade. Doch Schubladen gab es viele in der Werkstatt.

Ächzend stand er auf. Als er die Haustür öffnete, erhob sich der Hund, der auf der Vortreppe gelegen hatte, zog den Schwanz ein und ging dem Alten aus dem Weg.

Olli

Olli hatte das Fenster weit geöffnet. Für seine Begriffe war die Nacht richtiggehend schwül. Als ob sich die ganze Hitze des vergangenen Sommers noch in der Wohnung staute. Er hielt es jedenfalls nur in T-Shirt und Unterhose aus. Die Lautstärke des PCs hatte er leiser gestellt, damit die Nachbarschaft im Haus das Gestöhne nicht mitbekam. Reklamationen waren das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Wie immer, wenn er zu neuem Stoff gekommen war, hatte er ausgiebig gekifft. Nun fläzte er sich auf dem Sofa und sah zu, wie sie es auf dem Bildschirm miteinander trieben. Er befand sich bereits zu tief in einer Wolke von Trägheit, als dass er noch hätte Hand an sich legen können.

Rauchen, trinken, Hand an sich legen: Bei einigen Dingen pflegte er sich jeweils gewählter auszudrücken, als man ihm zugetraut hätte. Seit Irma ihn verlassen hatte, war er abgesackt. Da gab es nichts zu beschönigen. Nur die Sprechweise hatte er aufrechterhalten können. Alles andere schlitterte immer wieder gefährlich am Abgrund vorbei. Fünf Jahre war er mit Irma verlobt gewesen. Zu einer Heirat hatte er sich nie entschließen können. Weiß der Teufel, was ihn daran gehindert hatte.

Er stierte mit offenem Mund auf den Bildschirm. Ohne Stöhnen war das nichts. Er hätte aufstehen und das Fenster schließen müssen, um den Ton lauter machen zu können. Die Anstrengung lohnte sich nicht. Vielleicht war Irma auch nur gegangen, weil er sie irgendwann gefragt hatte, ob sie beim Sex nicht mal ein wenig, also richtig, also hemmungslos geil stöhnen könnte. Irma wollte nicht. Sie fand das taktlos und abstoßend. Eine Zumutung. Überhaupt: eine Schweinerei! Irma wollte nicht stöhnen. Sie wollte geheiratet werden. Das Geschäft war nicht zustande gekommen.

Natürlich hatte es nach Irma noch ein paar andere Frauen gegeben. Auch solche, die stöhnten. Schließlich war er mit siebenunddreißig noch nicht aus dem Rennen gewesen. Aber an jeder hing wieder ein unüberblickbarer Wust von Zwängen, Familie, Job und der ganze psychologische Scheiß, der seine kalten Finger um den Hals der Beziehung legte. So gab er es schließlich auf, entsagte, besann sich auf sich selber und die Vorteile des Internets, das sich per Tastendruck und Mausklick zu- oder ausschalten ließ.

Die Zeit verging. Die Tage schrumpften, die Jahre versanken in Bedeutungslosigkeit. Nun war er bereits vierundvierzig. Irma sah er ab und zu, die Stadt war ja trotz ihrer Größe provinziell geblieben. Irma war jetzt verheiratet und hatte zwei Kinder, die bereits eingeschult waren. Er ging ihr aus dem Weg. Jedes Mal wenn er sie sah, beim Einkaufen, beim Eislutschen mit den Kindern, bei einer Auseinandersetzung mit der Tochter, deren vorpubertäre Ausbrüche erste Kratzer am Familienidyll hinterließen, jedes Mal kam eine seltsame Verlegenheit über ihn. Wie etwas Peinliches, er wusste nicht, was es war. Nein, er hatte nichts verpasst, schüttelte er unwillig den Kopf. Das war es doch, was ihm das Unterbewusstsein einflüstern wollte: Du hast es vermasselt. Du allein. Das alles hättest du haben können. Deine Kinder könnten es sein, deine Frau. Sie hätten dich aus dem Sumpf herausgezogen, worin du steckst, deine Frau und deine Kinder. Du hättest die Chance gehabt, endlich so zu werden wie alle anderen. Aber du hast es nicht gepackt. Du hast es weggeworfen. Du warst zu feige, du warst zu faul!

Und wenn schon.

Er angelte nach der Bierdose, die neben dem Bildschirm auf dem Couchtisch stand. Statt sie zu fassen, stieß er sie um. Der Inhalt, zum Glück nicht mehr viel, ergoss sich über den angebissenen Rest Pizza im Karton, der vom Fett schon ganz pampig geworden war. Pampig wie sein Bauch, den er sich in den eineinhalb Jahren zugelegt hatte, seit er vom Sozialdienst lebte und keiner regelmäßigen Arbeit mehr nachging.

Olli seufzte. Seine Augen suchten nach dem Plastikbeutel mit dem betörend duftenden Gras. Vielleicht lag er hinter dem Pizzakarton. Aus seiner halb liegenden Stellung konnte er ihn nicht sehen. Jedenfalls war das Gras nicht nass geworden. Mehr konnte man vom Leben nicht verlangen. Tat er ja auch nicht.

Aber die Sache mit dem Sozialamt war schon mühsam. So mühsam, wie alles geworden war, seit er die Stelle verloren hatte. Jetzt hatten ihn auch die auf dem Arbeitsamt als kaum mehr vermittelbar eingestuft. Bei Pulkkinen & Söhne hatte er seinerzeit eine Anlehre als Maurer gemacht und anschließend im Betrieb bleiben können. Der Seniorchef, der seinen Vater kannte, hatte stets ein Auge oder zwei zugedrückt, wenn Olli, wie das quartalsweise vorkam, zu spät oder gar nicht zur Arbeit erschienen war.

»Na, Olli«, brummte er jeweils, »wieder mal über die Stränge geschlagen? Jetzt aber los, in die Hände gespuckt, wir brauchen dich!«

Und Olli hatte, beinahe militärisch stramm, die Hacken zusammengeschlagen vor so viel Großmut.

Er hatte an einigen Wohnblocks mitgebaut, die hier an der Peripherie der Stadt standen, Blocks wie der, in dem er wohnte. Keine hochstehende Architektur. Nutzbauten eben. Aber man hatte am Abend sein Tagewerk überblicken können. Stein auf Stein, sauber gepflastert. Frisch gegossene Betonpfeiler und Betondecken. Und man hatte gewusst, warum man müde war, weshalb der Rücken schmerzte. Woher die Schwielen stammten an den Händen und die grauen Spritzer im Gesicht. Auch das Bier, das verdiente, hatte anders geschmeckt.

Als der alte Pulkkinen in Pension gegangen war, hatten die Söhne den Betrieb umgekrempelt. Restrukturierung war das zugehörige Wort. Da war für ihn und ein paar andere kein Platz mehr gewesen. Primär müsse die Firma überleben, hatte es geheißen. Es tue ihnen leid, besten Dank für die geleisteten Dienste, man arbeite an einem Sozialplan. Nur wurde dann nichts daraus. Widrige Umstände. Schulterzucken. Das war‘s.

Eigentlich hatte er ja alles, was er brauchte. Das Sozialamt bezahlte die kleine Wohnung. Die Arbeit fehlte ihm irgendwann auch nicht mehr. Im Gegenteil. Er benötigte für alles plötzlich viel mehr Zeit. Die Langsamkeit hatte ihn entdeckt, die Trägheit stand ihm zur Seite, und er fragte sich, woher er früher die Zeit genommen hatte, um überhaupt zur Arbeit zu gehen.

Natürlich wäre er, wie einige ehemalige Kollegen, lieber mit einem dieser alten Ami-Schlitten herumgefahren, Spannweite drei Meter im Heck und Kotflügel so groß wie der Rumpf eines Kleinflugzeugs. Stattdessen hockte er noch immer in dem zerbeulten Volvo ohne Radkappen, der aussah wie ein zuschanden gerittenes Pferd. Wenn er durch das Quartier kurvte, blickten sich alle nach ihm um, weil der Motor röhrte, als falle gleich der Auspuff ab. Tat er aber nicht.

Manchmal fuhr er mit der Kiste nach Norden, über Asikkala und Padasjoki nach Kasiniemi, geografisch und geschichtlich zurück in die Gegend, in der er aufgewachsen war und wo der Hof der Eltern stand. Er trauerte dieser Zeit nicht nach. Er fuhr nur hin, wenn eine finanzielle Zusatzspritze unumgänglich war. Die Allgemeinheit bezahlte weder Auto noch Gras. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als bei seinen Alten vorzutraben und diese dazu zu bringen, dass sie etwas locker machten.

Taten sie aber längst nicht immer. Es kam ganz darauf an, in welcher Verfassung man den Vater antraf. Und die Verfassung hing nicht nur von dessen Gesundheitszustand ab. Der Alte war unberechenbar. Nach wie vor. Und gewalttätig. Keiner wusste das besser als Olli. Mit zunehmendem Alter war das nicht anders geworden. Aber es war immerhin einfacher, seinen physischen Attacken auszuweichen. Dafür hatte der Vater verbal noch zugelegt.

»Wenn du wenigstens anständig saufen würdest«, hatte er letzthin gesagt. »Aber diese hirnschwache Kifferei. Richtige Männer saufen! Alles andere ist Weiberzeug. Oder schwul.«

Klar: Wenn er nur gesoffen hätte, wenn er nur schwul gewesen wäre, oder auch beides zusammen, dann hätten sie ihn sogar beim Militär genommen. Aber einen, der Illegales konsumierte und auch noch damit handelte … Tat er aber schon lange nicht mehr. Nur noch Eigenbedarf. Alles andere war zu aufreibend. Er vertrug das nicht mehr. Es gab Bluthochdruck, Magengeschwüre, Gallensteine. Stress, einfach nur Stress. Hatte er alles im Internet gelesen. Er wusste zu viel. Ihm konnte keiner mehr etwas vormachen.

»Hosenscheißer!«, hatte sein Alter ihn betitelt. »Hypochonder!«

Woher er den Ausdruck hatte? Er wusste ja nicht einmal, wie man einen Computer startete. Keine Ahnung hatte er. Und als Vorbild – hach! Nur nicht so werden wie der Alte. Vielleicht lag genau darin der Schlüssel, dass er, der Sohn, aus der Rolle gefallen war.

Olli versuchte sich aufzurichten. Er wollte weder rauchen noch saufen. Genug für heute! Er war ganz einfach wütend. Wütend über den Alten, der ihn in die Welt gesetzt hatte. Wütend über die Mutter, die sich von diesem Mistkerl hatte unter die Röcke greifen lassen. Und wütend über sich selber, weil er sich wieder in geistige Turbulenzen hatte verwickeln lassen. Reine Energieverschwendung!

Und jetzt war sie dahin, die Energie. So ging es immer. Eigentlich wusste er es ja. Das machte die Wut nicht kleiner. Nicht einmal das Aufsitzen gelang noch. Das Letzte, was ihm durch den Kopf ging, bevor nach den Muskeln auch die Schaltzentrale ausfiel, war das Telefongespräch mit dem Alten. Er hatte ihn am frühen Abend angerufen, um sein Kommen für den folgenden Tag anzukünden. Und um die allgemeine Lage zu sondieren. Die allgemeine und die spezielle. Ob es überhaupt Sinn machte zu fahren. Ob es sich auch auszahlen würde.

Der Alte war nicht gerade gesprächig gewesen. Aber das war er eigentlich nie. Ausgenommen die Phasen, in denen er außer sich geriet und eine seiner Tiraden gegen alle und alles loslassen musste. Aber das umging man besser. Da war stets Vorsicht und Taktik angebracht.

»Also, dann bis morgen«, hatte er gesagt.

»Morgen«, hatte der Alte wiederholt.

Sonst hatte er nichts gesagt. Nur dieses eine Wort. Morgen. Weder fragend, noch zustimmend. Und das Seltsamste war, dass er nach einer Weile, in der beide nur in die Leitung schwiegen, noch hinzugefügt hatte: «Das musst du mit deiner Mutter ausmachen.«

Als ob die Mutter jemals etwas zu sagen gehabt hätte. Natürlich war sie es, die ihm ab und zu etwas zuschob. Heimlich, hinter Mattis Rücken. Er durfte nichts davon erfahren. Auf gar keinen Fall. Wie und wo die Mutter etwas abzweigen konnte, ohne dass es der misstrauische Alte mitbekam, blieb ihr Geheimnis.

Was sollte er denn mit der Mutter ausmachen? Matti – er brachte das Wort Vater schon lange nicht mehr über die Lippen –, wusste Matti mehr, als er preisgeben wollte? Zuzutrauen wäre es ihm. Andrerseits glaubte Olli nicht daran. Über Geld musste man mit dem Alten nicht diskutieren. Jedenfalls nicht, wenn es nicht etwas Zusätzliches einzubringen versprach.

Ollis Einwand wurde nicht mehr weitergeleitet. Der Alte hatte bereits aufgelegt.

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