Kitabı oku: «Hotel Budapest, Berlin ...», sayfa 3

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Gründerfigur

In die Epoche der Gründerzeit hinein wird György Bernát Löwinger am 13. April 1885 in Budapest geboren. Der Vater József Löwinger aus Szeged und die Mutter Adel Wertheimer aus Wien hatten den jüdischen Namen in den ungarischen Lukács geändert. 1899 wurde die Familie geadelt, der Vater jung Direktor der EnglischÖsterreichischen Bank in Budapest. Georg, sein älterer Bruder János und die jüngere Schwester Mici wuchsen in bürgerlichem Wohlstand auf. Die Eltern führten ein gastfreies Haus mit vielen Autoren, Malern und Schauspielerinnen als Gästen, ein Haus voller Bücher und Bilder, die der Vater im Laufe der Jahre erwarb. Künstler brauchten Förderung, lautete seine Devise.

Der Werdegang im wohlhabenden Elternhaus, die frühe Berührung mit Kultur und den zwei Sprachen, Ungarisch und Deutsch, beide nahezu gleichrangig, waren üblich für einen ungarischen Intellektuellen seiner Generation. Der junge György besuchte das evangelische Gymnasium in Budapest. »Aus rein jüdischer Familie«, notiert Lukács in den letzten biographischen Aufzeichnungen vor seinem Tod und fährt fort: »Gerade darum: Ideologien des Judentums gar keinen Einfluss auf geistige Entwicklung.« Das ist das Credo des jüdischen Bürgertums in Budapest und anderswo, ein dialektisches Credo: Gerade wenn Töchter und Söhne aus frommen jüdischen Familien stammten, wurden sie zu Juden ohne Judentum, ohne die eigenen, über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte entstandenen Traditionen. József Lukács, ein Zeitgenosse von Theodor Herzl, wurde Konsul von Palästina, aber auf den Weg dorthin, und sei es nur zu Besuch, machte er sich nicht. Es zeugt nicht nur von tiefer Ironie, es liegt geradezu eine historische Wiederkehr des Verdrängten darin, dass Thomas Mann im Zauberberg Georg Lukács als konvertierten, also abtrünnigen Juden aus orthodoxer Familie literarisch verwandelt wiederkehren lässt:

»Leo Naphta stammte aus einem kleinen Ort in der Nähe der galizisch-wolhynischen Grenze. Sein Vater, von dem er mit Achtung sprach, offenbar in dem Gefühl, seiner ursprünglichen Welt nachgerade weit genug entwachsen zu sein, um wohlwollend darüber urteilen zu können, war dort schochet, Schächter gewesen – und wie sehr hatte dieser Beruf sich von dem des christlichen Fleischers unterschieden, der Handwerker und Geschäftsmann war. Nicht ebenso Leos Vater. Er war Amtsperson und zwar eine solche geistlicher Art. Vom Rabbiner geprüft in seiner frommen Fertigkeit, von ihm bevollmächtigt, schlachtbares Vieh nach dem Gesetz Mosis, gemäß den Vorschriften des Talmud zu töten, hatte Elia Naphta, dessen blaue Augen nach des Sohnes Schilderung einen Sternenschein ausgestrahlt hatten, von stiller Geistigkeit erfüllt gewesen waren, selbst etwas Priesterliches in sein Wesen aufgenommen, eine Feierlichkeit, die daran erinnert hatte, daß in Urzeiten das Töten von Schlachttieren in der Tat eine Sache der Priester gewesen war.«

Thomas Mann im Hause Lukácz in der Gyopárstraße (Budapest), um 1913.

Thomas Mann war mit der Familie Lukács bekannt; József Lukács verwaltete die Honorare seiner gerade in Ungarn weitverbreiteten Werke. Eine Geschäftsbeziehung, die übers rein Geschäftliche hinausging: Der Bankdirektor lud den Dichter und seine Familie in sein Budapester Haus ein. Der revanchierte sich auf seine Weise, ein Dichterdank, und nahm die Familie in sein Werk auf. Deren Schilderung im Zauberberg ist nicht frei von Stereotypen, mit denen man zu jener Zeit Juden wahrnahm. Wir finden deutliche Züge der Lukács in seinem Roman, wenn Thomas Mann den frommen Vater beschreibt, Leos christlich geprägte Schulausbildung, protestantisch bei Georg, katholisch-jesuitisch im Zauberberg, oder das frühe Studium von Marx und Hegel, das Leo und Georg teilen. Die dichterische Freiheit verschafft sich viel Raum in den Gesprächen über Gesundheit und Krankheit, die Leo Naphta auf einem der langen Schneespaziergänge zu einem Existenzial erhebt. »Im Geist also, in der Krankheit beruhe die Würde des Menschen und seine Vornehmheit; er sei, mit einem Worte, in desto höherem Grade Mensch, je kränker er sei, und der Genius der Krankheit sei menschlicher als der der Gesundheit.«

Aber kehren wir vom Zauberberg in die historischen Ebenen von Budapest zurück: Im Sommer 1902 legt Georg das Abitur ab, veröffentlicht früh Theaterkritiken und macht sich auf die erste Auslandsreise nach Skandinavien mit einem Besuch bei Henrik Ibsen, einem der damals führenden Dramatiker.

Sosehr Leben und Werk von Georg Lukács vom 20. Jahrhundert geprägt sind und Kunst wie Literatur dieses Jahrhunderts haben neu sehen lassen, so wenig sind ihm Historiker bislang gerecht geworden. Es gibt keine umfassende Biographie über ihn.

In Berlin und in Budapest schreibt Lukács an einem Buch über das moderne Drama, genauer: über die Soziologie des modernen Dramas. Den größten Fehler in der soziologischen Kunstbetrachtung sieht er darin, dass sie zwischen dem Kunstwerk und »bestimmten wirtschaftlichen Verhältnissen eine gerade Linie ziehen« wolle. Darauf folgt der Satz, der zum Grundsatz von Lukács’ ganzer Ästhetik werden wird: »Das wirklich Soziale aber in der Literatur ist: die Form.« Erst die Form – und ihre Analyse – macht das »Erlebnis« des Dichters – und Erlebnis ist der Schlüsselbegriff der Philosophie jener Zeit – aus, indem es die Wirkung des Kunstwerks freisetzt. Auf Wirkung setzte vor allem das naturalistische Drama, die Stücke von Tschechow, Gorki, von Strindberg und Ibsen, von Gerhart Hauptmann, die die Theater damals zeigten. Die Premiere von Hauptmanns Die Ratten, einem spätnaturalistischen Drama, könnte Lukács 1911 in Berlin gesehen haben. Gerade 19-jährig, hatte er 1904 in Budapest die Thália-Gesellschaft mitbegründet, in der, wie in der Berliner Freien Bühne oder dem Théâtre Libre in Paris, die Stücke der damaligen dramatischen Avantgarde aufgeführt wurden.

Die Seele und die Formen

1911 erscheint in Berlin eine Sammlung von Essays unter dem Titel Die Seele und die Formen. Ihr Verfasser Georg von Lukács hatte einige der Aufsätze vorab schon auf Ungarisch in der Zeitschrift Nyugat veröffentlicht, der Westen. Genau in diese Himmelsrichtung strebten die Zeitschrift wie Lukács’ Beiträge. Sie handeln von Novalis, von Stefan George, der Wiener Moderne, von Kierkegaard, Theodor Storm, von allem, was von Budapest aus gesehen westlich lag. Und an den Anfang stellte der junge Autor einen Brief an seinen früh verstorbenen Freund Leo Popper, in dem er über die Form der nachfolgenden Beiträge meditiert: den Essay. Lukács nennt ihn eine Kunstform: »In der Wissenschaft wirken auf uns die Inhalte, in der Kunst die Formen; die Wissenschaft bietet uns Tatsachen und ihre Zusammenhänge, die Kunst aber Seelen und Schicksale.« In den Schriften des Essayisten, also seinen, schreibt Lukács, werde die Form zum Schicksal. Die Seele nimmt in den Formen der Kunst Gestalt an. Der Essay, so heißt es am Schluss der Einleitung, »ist eine Kunstart, eine eigene restlose Gestaltung eines eigenen, vollständigen Lebens. Jetzt erst klänge es nicht widerspruchsvoll, doppelsinnig und wie eine Verlegenheit, ihn ein Kunstwerk zu nennen und doch fortwährend das ihn von der Kunst Unterscheidende hervorzuheben: er steht dem Leben mit der gleichen Gebärde gegenüber wie das Kunstwerk, doch nur die Gebärde, die Souveränität dieser Stellungnahme kann die gleiche sein, sonst gibt es zwischen ihnen keine Berührung.«

Gegen diese Form des Essays erhob die Schulphilosophie erhebliche Einwände, Max Weber riet dem Autor, »in rein logischer, sozusagen juristisch-praeciser Form den Sinn Ihrer Grundbegriffe« zu entfalten, ein »Skelett straffen Denkens«. Genau das wollte aber Lukács nicht. Er hielt an der Kunstform fest, die den Inhalt vorgibt.

Immer nämlich geht es in seinen Essays um seelische Zustände, die zu ästhetischen Formen kristallisieren, zu erkennbaren Aggregatzuständen der historischen Wirklichkeit. Der Essayist stellt sie deutlich heraus: Es sind der typische Dichter und der Platoniker bei Rudolf Kassner, ein bedeutender Kulturphilosoph jener Zeit, die Trennung als entscheidende Geste und Gebärde bei Sören Kierkegaard, der sich von seiner Verlobten lossagt, die Bürgerlichkeit bei Theodor Storm, Einsamkeit und Kälte als ein Zusammenhang bei Stefan George, die Sehnsucht bei Charles-Louis Philippe, der Tod bei Richard Beer-Hofmann als ein Grundmotiv von dessen Epoche, die Rolle von Gott in den Tragödien von Paul Ernst.

In jedem dieser Essays sind es die ersten Sätze, die wirkungsvoll und kräftig das Folgende orchestrieren: »Denn immer und überall bin ich Menschen begegnet, die außerordentlich gut ein Instrument spielten, ja in ihrer Weise auch komponierten und im Leben dann, draußen von ihrer Musik nichts wußten. Ist das nicht merkwürdig?« Mit dieser Frage von Rudolf Kassner hebt der erste Aufsatz von Lukács an und stellt Kassners Grundzug heraus, das Wesentliche zu sehen:

»Er vermag mit so suggestiver Kraft, Dinge nicht zu sehen, daß sein Blick die Menschen aus ihrer Hülse schält und wir von dem Augenblick an die Hülse als Spreu empfinden und nur das als wichtig, was er als Kern betrachtet. Eine der Hauptkräfte Kassners liegt darin, daß er so vieles nicht sieht. Die Kategorien des täglichen Lebens und der schablonenhaften Geschichtsschreibung existieren für ihn einfach nicht.«

Oft stellt Lukács eine Frage, die, wie in seinem Essay über Richard Beer-Hofmann, im Grunde auf eine ganze kurz gefasste Skizze der Wiener Moderne hinausläuft:

»Jemand ist gestorben, was ist geschehen? Nichts vielleicht, und vielleicht alles. Vielleicht wird es nur der Schmerz von ein paar Stunden, Tagen, vielleicht Monaten, und dann ist alles wieder ruhig und das alte Leben geht weiter. Vielleicht zerreißt etwas in tausend Fetzen, das einmal wie Zusammengehörigkeit aussah, vielleicht verliert ein Leben mit einem Schlage all seinen hineingeträumten Inhalt, oder es blühen vielleicht neue Kräfte aus unfruchtbaren Sehnsüchten. Vielleicht fällt etwas zusammen, vielleicht baut sich etwas anderes auf, vielleicht geschieht keines von beiden und vielleicht beides. Wer weiß es? Wer kann es wissen?

Jemand ist gestorben. Wer war es? Es ist einerlei. Wer weiß, was er dem Andern war, dem Jemand, dem Allernächsten, dem ganz Fremden? Ob er ihnen jemals nahe war? Ob er darin war in ihrem Leben? Ob er in Jemandes Leben war, in irgend jemandes wirklichem Leben? Oder war er nur der mutwillig umhergeschleuderte Ball seiner verspielten Träume, nur das Sprungbrett, das einen irgendwohin aufschnellt, nur die einsame Mauer, an der sich eine ewig fremde Pflanze empor rankt? Und wenn er Einem wirklich etwas war, was war er ihm, wie und womit? Mit seiner Eigenart Gewicht und Wesen, oder durch Gaukelbilder geschaffen, durch ein unbewußt gesprochenes Wort oder eine zufällige Geste? Was kann ein Mensch dem andern Menschen sein?«

Wenn man diese Sätze liest, fragt man sich unwillkürlich: Woher nimmt ein gerade 23-Jähriger solche Einsichten, solche Fragen. Im Wesentlichen aus dem, was er liest, aber auch erlebt und erleidet? Es sind zwei Schicksalsschläge: Leo Popper, der nächste Freund jener Zeit, an den er den einleitenden Brief richtet, stirbt vor Drucklegung des Buchs an Tuberkulose, Irma Seidler, mit der Lukács eine leidenschaftliche Liebe verband, wohl die erste, die scheiterte, stürzte sich in die Donau. Ihrem Andenken hat Georg sein erstes Buch gewidmet.

Es zeichnet ein Epochenbild der Jahrhundertwende und bezieht dabei den Autor als Betrachtenden mit ein. Darin liegt die große Souveränität seines Buches. Den Zusammenhang von Einsamkeit, betont kultivierter Einsamkeit und Kälte in Georges Gedichten hat der junge Kritiker als Erster herausgestellt, bevor er in Berührung mit dem Dichter und seinem Kreis in Heidelberg kam. Es gelingt Lukács, »aus wenigen, zumeist bloß intuitiv erfassten Zügen einer Richtung, einer Periode etc. synthetisch allgemeine Begriffe zu bilden, um dann deduktiv zu den Einzelerscheinungen herabzusteigen und so eine großzügige Zusammenfassung zu erreichen«, wie er selber sein Verfahren beschreibt, ein Verfahren der großzügigen Zusammenfassung. In seinem Essay über Novalis gibt Lukács ein Bild der Frühromantik:

»Jena am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Eine Episode im Leben weniger Menschen, welche für die große Welt nur von episodischer Bedeutung waren. Überall dröhnt die Erde von Schlachten, vom Zusammenbruch ganzer Welten, aber in einer kleinen deutschen Stadt kommen ein paar junge Menschen zusammen, zu dem Zwecke, aus diesem Chaos eine neue, harmonische, alles umfassende Kultur zu schaffen. Sie stürmen darauf los mit jener unbegreiflichen, tollkühnen Naivität, die nur krankhaft bewußten Menschen gegeben ist und diesen auch nur in einer Sache ihres Lebens und auch hier wieder nur für wenige Augenblicke. Es war ein Tanz auf glühendem Vulkan, es war ein strahlend unwahrscheinlicher Traum; nach vielen Jahren mußte die Erinnerung daran in der Seele eines Zuschauers als etwas verwirrend Paradoxes leben. Denn bei allem Reichtum des von ihnen Erträumten und Ausgestreuten ›lag dennoch etwas Ruchloses im Ganzen‹. Ein geistiger Babelturm sollte errichtet werden, Luft wäre sein ganzer Unterbau gewesen; er mußte einstürzen, aber in seinen Erbauern brach auch alles mit seinem Sturze zusammen.«

Im Bild von der Zusammenkunft einiger junger Menschen in Jena, vom geistigen Babelturm, von der Hybris erkannte sich der junge Autor selbst und antizipierte den Zusammenbruch.

Der Sonntagskreis

Lukács schreibt über die romantischen Traumwelten, die in den Salons zur Sprache kamen, wenn sie auch nie wirkliche Gestalt annahmen, nicht annehmen konnten. Er hatte selber in Budapest einen Salon nach deutschem Muster mit errichtet und angeführt. Alle Zeitgenossen berichten, wie sehr Lukács die bestimmende Gestalt dieses Kreises war, bestimmend zwar, aber auch offen, neugierig, vielseitig, überredend charmant. Der Jenaer wie der Berliner Salon des frühen 19. Jahrhunderts nahm in Budapest neue, andere, zeitgemäße Gestalt an. Ab Herbst 1915, als Georg Lukács zum Militärdienst nach Budapest zurückberufen wurde – ohne in den Krieg ziehen zu müssen –, kamen junge Gelehrte sonntags um 17 Uhr zusammen, um über Fragen der Zeit zu diskutieren. Der Dichter Béla Balázs und Lukács versammelten diesen Sonntagskreis um sich, der unter diesem Namen in die Geschichte einging. Der Heidelberger Professor Eberhard Gothein besuchte im Frühjahr 1918 »die jungungarische Akademie«, eine ganz eigenartige, geistreiche, bezaubernde Zusammenkunft mit einem Zusatz Bohème: »Sonntag abends finden sie sich in einem Privathause des Dichters, Balázs, zusammen. Um 8 Uhr bricht alles auf, um in einem benachbarten Gasthaus Abendessen einzunehmen, um dann wieder alle an den gleichen Platz zurückzukehren.« »Diskutieren sei ein Lebenselement der jungen ungarischen Welt«, weiß Gothein seiner Frau nach Heidelberg zu berichten, »es sind Idealisten, als solche vielleicht etwas zu bewusst […] Lukács weiß seine Absichten ebenso liebenswürdig wie dialektisch und mit ständiger Berufung auf seine Autorität durchzuführen.« Und der Gast aus Deutschland fügt hinzu: »Der Ton ist ebenso lebhaft wie gehalten, auch die Frauen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen durchaus ohne Affektation und ohne starre weibliche Dogmatik, die Unterhaltung bald gemeinsam, bald in Gruppen, so wie man es sich wünscht.«


Béla Balázs und Georg Lukács, 1910er Jahre.

Edit Gyömrői, damals Anfang zwanzig, beschreibt die Zusammenkünfte in der Rückschau so: »Also saßen wir an den Sonntagen zusammen und versuchten zu diskutieren, was warum so ist. Wir wollten einfach wissen, was in der Welt schiefgelaufen ist.« Weil aber so viel schiefgelaufen war, konnte niemals eine Diskussion ein Ende finden. Die Streitgespräche über ethische Fragen, die politische Lage in Ungarn am Ende des Ersten Weltkriegs, über Liebe, Religion, Kunst zogen sich in der Regel bis zum Morgengrauen hin und wurden dann auf langen Heimwegen auf den Straßen Budapests fortgeführt. Sie sprachen über Architektur, Bildhauerei, Malerei, über die Ethik. Lukács’ Grundthese war – in der Nachfolge von Kierkegaard und Dostojewski – die Substantialität der Seele: »Wir müssen immer wieder betonen, dass das einzig Essentielle doch nur wir sind, unsere Seele … Die reelle Macht der Gebilde kann freilich nicht geleugnet werden … Ja, der Staat ist eine Macht – muss er aber deshalb als Seiendes, im utopischen Sinn der Philosophie: im essentiell handelnden Sinn der wahren Ethik anerkannt werden? Ich glaube nicht« – führt Lukács in seinen Notizen zu Dostojewski aus. Der Individualismus steht gegen »den sinnlosen, rasenden Kollektivismus des Krieges«.

Wie ein Brennglas sammelte der Sonntagskreis Debatten der Jahre von 1915 bis 1918, Debatten, die man erst über sechzig Jahre später in ihren Inhalten, ihrer Zusammensetzung, ihrer historischen Reichweite erkannte, als Éva Karádi und Erzsébet Vezér die Erinnerungen einzelner Teilnehmer oder Gäste der Zusammenkünfte, Aufsätze und Briefe von ihnen sammelte. Der Sonntagskreis war in seiner Zusammensetzung historisch einzigartig.

Anna Lesznai weiß in ihren Erinnerungen zu berichten, dass an den Budapester Sonntagen am häufigsten von der Liebe die Rede war, der Liebesphilosophie. Die Gespräche vertraute sie einem Tagebuch an, extreme moralische Probleme, die Frage, warum sie das Märchen, die Stickerei, die Ornamentik »als frauliche Kunstgattungen« empfände. Wollte man die Aufzeichnungen der Dichterin und Künstlerin nur referieren, träte man gleich unter einen weiten Deutungshorizont sehr großer Begriffe. Dass die Gespräche oft vom Nachmittag bis zum Morgengrauen dauerten, hat auch damit zu tun. Die Themen allein erschließen noch nicht die Intensität der Gespräche, ihre Widersprüche und Wendungen, ihren moralischen Rigorismus, dass es um Wesentliches und nur um Wesentliches gehe. Und manchmal sank die Seelenmacht der Liebe sanft auf die Teilnehmenden nieder – sie verliebten sich ineinander, auch wenn das mit dem strengen Anspruch in Konflikt geriet.

So notiert Béla Balázs, als Herbert Bauer 1884 in Szeged geboren, im Dezember 1915, neben – nach seinem Gefühl zu oft nach – Lukács der andere leitende Kopf des Sonntagskreises: »Wir philosophieren immer. Das ist vielleicht nicht gut, weil es mich des sinnlichen und praktischen Teils meines Berufes entzieht, und auch deshalb nicht, weil Gyuris [Georgs] egozentrisches Interesse und philosophischer Hochmut dies leitet und mein Selbstgefühl dabei Schaden nimmt.« Ursprünglich am Sonnabend, dann am Sonntagnachmittag fand bei Béla Balázs ein »Herrenjour« statt, zu dem sich rasch Frauen hinzugesellten. Aus den Zusammenkünften, so hofften die Teilnehmenden, würde vielleicht eines Tages eine Akademie des »Geistes« oder der Seele entstehen:

»Nur ›ernsthafte‹ und zur Metaphysik neigende Leute werden eingeladen. Jeder neue Gast wird vorher proponiert, und jedes Mitglied der Gesellschaft hat Vetorecht. Es ist schon bei der ersten Gelegenheit so gut gelungen, wir spürten alle eine so ›gute Atmosphäre‹, dass es zur Herzenssache aller Anwesenden wurde. Gyuri, Béla Fogarasi, Mannheim, Emma Ritoók. Doch der Kreis wird noch wachsen.«

Wie sehr die jungen Leute zur Metaphysik neigten, zeigen schon die Themen ihrer Diskussionen, die immer wieder um die Seele kreisen, um Distanz und Einsamkeit, die Revolution, um Atheismus, die Grundzüge einer Wissenssoziologie, den Kapitalismus und Kommunismus. Einige Mitglieder führten die sonntäglichen Gespräche in ihren Tagebüchern fort, die ein Bild von der Lebhaftigkeit und Intensität der Gespräche vermitteln. Andere wiederum haben teilweise Jahre später in Aufsätzen niedergelegt, was seinen Anfang in den Gesprächen dieses Kreises nahm: Béla Balázs schrieb über die Feier des hundertsten Geburtstags von Dostojewski 1921. Der russische Dichter war für Lukács und den Sonntagskreis der Säulenheilige ihrer Reflexionen und Diskussionen, wie sich auch in der Anlage der Theorie des Romans zeigt. Balázs wird später in Berlin einer der frühen und federführenden Filmkritiker und schreibt früh über Charlie Chaplin als Revolutionär. Dieser bäume sich gegen die ganze Maschinen- und Werkzeugwelt seiner Zeit auf, gegen die der Einzelne in seinen Filmen Sturm läuft, sie mit Witz und Einfallsreichtum austrickse. Winzige Wirklichkeitsdetails erfülle Chaplin, der Dichter, mit Seele und verleihe ihnen so einen symbolischen Sinn im Aufbegehren gegen die kapitalistische Dingwelt. So begegnete Charlie Chaplin in Budapest Karl Marx.

1917 schließlich erwuchs tatsächlich aus dem Sonntagskreis die Freie Schule der Geisteswissenschaften, eine Universität der anderen Art. Sie setzte entschlossen auf das, was nicht populär war, keine Kathedergelehrsamkeit. Anspruchsvoll und selbstbewusst heißt es in einer überlieferten Ankündigung:

»Wir möchten die Weltanschauung des neuen Spiritualismus und Idealismus verbreiten und uns mit ihren Problemen beschäftigen. Wir messen dem gerade heute große Wichtigkeit bei, da es offensichtlich wurde, dass die europäische Kultur nach dem Positivismus des 19. Jahrhunderts wieder eine entschiedene Wende zum metaphysischen Idealismus genommen hat.«

Metaphysischer Idealismus prägte die Vorlesungen und Vorträge, wie es die Gespräche im Sonntagskreis taten. Während die Gespräche aber nur indirekt durch Tagebuchaufzeichnungen überliefert sind, gibt es hier einige Mitschriften, Stichworte und Skizzen der Vorträge – über Ästhetik, Grundprobleme der Kulturphilosophie, über die Seele, der Budapester Schlüsselbegriff, über eine Theorie des Verstehens, über lyrische Sensibilität und die Geschichte der menschlichen Einsamkeit. Immer geht es um einen idealen Gehalt und dessen metaphysische Ausdeutung.

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