Kitabı oku: «Tod eines Jagdpächters», sayfa 4

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Ralf und Jessica

Ralf hatte nur wenige Stunden geschlafen. Das Stroh piekte und er grübelte. Obwohl dicht aneinandergeschmiegt und trotz der warmen Schlafsäcke, hatten er und Jessica ein wenig gefroren.

Er wiegte die Glock in seiner Hand. Damit konnten sie sich Geld beschaffen. Dann nichts wie ab. Vielleicht nach Holland, oder sogar nach Spanien. Ein Freund aus dem Heim hatte ihm von Amsterdam erzählt und die Stadt als einen Ort beschrieben, an dem viele junge Ausreißer recht einfach unterkamen. Aber südliche Sonne, Strand und Meer wären noch tausendmal besser.

Im Heim hatte es ein paar Typen gegeben, die bewaffnete Raubüberfälle begangen hatten. Diese Typen hatten ihm früher imponiert. Doch Ralf erkannte, dass er sich in der letzten Zeit von seiner Vergangenheit immer mehr löste. Die Zeit bei den Dederichs hatte etwas in seinem Denken bewirkt. Er hatte ein Gefühl für etwas wie einen gradlinigen Weg entwickeln können. All die Monate bei der Pflegefamilie war ihm dieses neue Denken gar nicht richtig bewusst geworden, doch er hatte sich mit sich selbst viel mehr vertraut gefühlt. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er gespürt, dass er kein schlechter Kerl war. Sogar die Schule hatte ihm mehr und mehr Spaß gemacht. Er hatte einiges schnell aufarbeiten können und sogar ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein in einem Bereich entwickeln können, über den er sich vorher höchstens lustig gemacht hätte. Es war ein tolles Gefühl gewesen, zu entdecken, nicht dumm zu sein. Er hatte die erstaunliche Tatsache kennengelernt, von Lehrern beachtet und nicht missachtet zu werden. Es war in etwa so gewesen, wie Frieden nach einem langen, unnötigen Krieg zu schließen. Und es war sogar relativ einfach gewesen. Hatte er in den Jahren davor Aufmerksamkeit durch Stören, Aggression und Desinteresse erzielt, so hatte er diese in den letzten Monaten durch Mitarbeit, Ruhe und Interesse erhalten. Er war zu einem vernünftigen Jungen herangereift. Einen gradlinigen Weg zu gehen lohnte sich wirklich. Das hatte er von den Dederichs lernen können. Vor allem wegen Jessica, die dieses Gefühl verstärkte. Dieses starke Gefühl von Sicherheit.

Aber nun hatte seine Vergangenheit ihn eingeholt. Er würde sich wieder so verhalten, wie er es früher gelernt hatte. In einer Notwehrsituation bis aufs Ganze gehen. Hart sein, rücksichtslos. Er sah keinen anderen Weg. Jessica und er brauchten jetzt schnell Geld und das war nur auf die altbekannte Art zu beschaffen. Eine Bedrohung war aufgetaucht, an der er keine Schuld trug, so wie er für die Dinge in seinen jungen Jahren keine Schuld trug, und er konnte noch nicht mal den Dederichs vertrauen.

Okay, er und seine Kumpel hatten die Hochstände verwüstet. Purer Übermut war das gewesen. Warum sie das getan hatten, wussten sie alle drei selbst nicht genau. Manchmal war da einfach nur Scheiße im Kopf. Markus und Oli waren im Grunde normale Kids, aber die beiden hatten die Initiative für diesen Unsinn ergriffen. Auch sie konnten ganz schön durchtriebene Jungs sein, deren Unfug bisher aber zu nichts Drastischem geführt hatte.

Hätte Ralf ausschließlich brave Jungs in Loch und Umgebung kennengelernt, wäre er vor Einsamkeit eingegangen. Markus und Oli waren genau richtig gewesen. Nicht so hart wie die Heimkids, aber auch nicht brav angepasst wie die meisten Langweiler aus der Umgebung. Die Verwüstung der Hochstände hätte ihn seine Bewährung kosten können – das war ihm natürlich klar. Insofern war es besser, die Tracht Prügel erhalten zu haben. Als Nirbach und Klötsch auf ihn losgingen, hatte dies tatsächlich Mordlüste in ihm geweckt, aber er hatte den Mann nicht getötet, und war entschlossen, es gar nicht erst darauf ankommen zu lassen, dass ihm niemand glaubte.

Pflegeeltern und Lehrern hatte er gelernt, bis zu einem gewissen Grad zu vertrauen. Polizei und Justiz jedoch würden aber wahrscheinlich nie zu Institutionen zählen, denen er trauen mochte.

Er brauchte einen Grundstock für den Start in ein neues Leben zusammen mit Jessica. Im Ausland würden sie sich eine Arbeit suchen, eine gemeinsame Wohnung und sich Stück für Stück etwas aufbauen. Er musste einen Plan entwickeln und zwar schleunigst. In dieser Scheune wollte er auf keinen Fall eine weitere Nacht verbringen. Sie mussten so schnell wie möglich weg aus der Eifel und aus Deutschland.

Jessica räkelte sich. Sie vertraute ihm und Ralf fühlte sich in der Beschützerrolle stark wie nie zuvor in seinem Leben. Er würde ihr eine ganz neue Zukunft bieten. Egal zu welchem Preis.

Sie breitete die Arme aus und lächelte ihn an. Sofort ließ er die Grübelei sein und nahm sie in die Arme. Die Wärme war wieder da. Jessica und er waren eine Einheit. Er wusste, sie würde alles für ihn tun und er für sie. Nie wieder würde ihr Vater eine Hand an sie legen und nie wieder würde Ralf in ein Heim oder den Knast gehen. Er war stark genug, sie beide aus dieser verflixten Erwachsenenwelt zu befreien.

Ein Geräusch riss die beiden aus ihrer Umarmung. Die alte Scheune war undicht und gab an einigen Stellen den Blick nach draußen frei. Ralf griff sofort nach der Glock, als er den Streifenwagen den Feldweg herauffahren sah. Jessica klammerte sich ängstlich an ihn. Er überlegte, sich hinter dem Scheunentor zu platzieren, um die Bullen zu überraschen. Aber der Polizeiwagen war noch weit genug entfernt, so dass eine Flucht mit dem Roller gelingen musste.

»Wir müssen zum Roller, aber nicht durch das Tor!«, zischte er aufgeregt und wies auf die Strohballen, die sich bis zur Scheunendecke hin stapelten. »Wir springen hinten raus. Schnapp deine Sachen.«

Jessica folgte seinen Anweisungen und wollte sich daranmachen, ihren Schlafsack aufzurollen. »Nein, dafür ist keine Zeit! Die Schlafsäcke lassen wir hier, mach schnell.«

Ralf steckte die Glock in die Jackentasche, aber die Walther konnte er nicht finden. Dann sah er die zweite Pistole. Sie war zwischen zwei Strohballen nach unten gerutscht. Ein Blick nach draußen ließ ihn zu der Entscheidung kommen, auf die zweite Waffe zu verzichten.

Jessica war schon an dem Fenster oberhalb der seitlich gelagerten Strohballen angekommen. Sie mussten etwa zweieinhalb Meter tief springen.

»Lass mich zuerst«, hielt Ralf sie zurück.

»Wieso?«

Jessica war schon unten, bevor Ralf antworten konnte. Er warf die hastig gepackte Tasche hinunter und sprang dann selbst. Schnell brachte er die Kabel zusammen, mit denen er bereits gestern Abend den Roller kurzgeschlossen hatte, schwang sich auf das Gefährt und fuhr zusammen mit Jessica los.

Der Polizeiwagen parkte mit knirschenden Reifen vor der Scheune. Aber das knatternde Motorengeräusch des Rollers verriet die beiden. Der Wagen startete sofort wieder und schoss mit durchdrehenden Reifen hinter die Scheune.

Jessica hatte die Tasche umgehängt und sich fest an ihren Freund geklammert. Der Polizeiwagen scherte, eine Staubwolke verursachend, ebenfalls Richtung Wald ein. Auf dem holprigen Weg konnte das Auto nicht schnell aufholen, es kam dennoch immer näher. Die Tachonadel des Rollers näherte sich der vierzig. Bei dieser Geschwindigkeit war es nicht möglich, die Schlaglöcher zu umfahren. Die Stoßdämpfer stießen hart auf, und der Junge musste den Lenker mit aller Gewalt festhalten. Immer wieder sah er nach hinten.

Der Streifenwagen fuhr gefährlich dicht auf. Nun war er nur noch wenige Meter hinter ihnen. Jetzt stieg der Weg auch noch an und der Roller verlor immer mehr an Geschwindigkeit. Der Streifenwagen näherte sich bis auf höchstens drei Meter. Ralf schaltete runter, aber auch in den tieferen Gängen nahm der Roller bei dem Anstieg keine Geschwindigkeit auf. Er scherte nach rechts aus. Quer durch den Wald, wo es wieder nach unten ging. Die ganze Zeit hielt Jessica sich fest an ihn geklammert.

Nun stoppte das Polizeifahrzeug und die Beamten sprangen heraus.

Von dem Gefälle her gab der Roller nun wieder alles, aber das Unterholz war im Weg. Ralf konnte die Polizisten einfach nicht abhängen, obwohl sie nun zu Fuß unterwegs waren. Plötzlich sah er den Pfad, der höchstens zehn Meter unterhalb und eben verlief. Die Polizisten keuchten und fluchten, während Ralf auf der ebenen Strecke in den nächsthöheren Gang schaltete und endlich die Verfolger abschüttelte.

Gedicht Nummer zwei

Nachdem der Notarzt beim Beerdigungszug eingetroffen war, konnten Beltel und Funk sich wieder ihrer eigentlichen Arbeit widmen. Aber sie hatten in Schweinheim weniger Glück als in Loch. Der Erdbeerbauer war in Euskirchen unterwegs und niemand vermochte zu sagen, wann er zurückkam. Unter den Saisonarbeitern war kein Übersetzer, so dass keine Verständigung stattfinden konnte. Dann kam der Anruf von den Rheinbacher Kollegen. Beltel erfuhr von Klötschs Verletzung und dass er sich im Krankenhaus Euskirchen befand. Beltel wollte sich unbedingt die als Falle konstruierte Nagelpistole ansehen. Die Befragung in Schweinheim musste später nachgeholt werden.

Vor dem Waldhotel Rheinbach standen zwei Streifenwagen, sowie ein Fahrzeug von der Spurensicherung. Die Treppen wurden noch untersucht, so dass Beltel und Funk noch nicht ins Hotelinnere durften. Ihre Geduld wurde nicht zu sehr strapaziert. Nur etwa zehn Minuten nach ihrer Ankunft trat Wolfgang Langen von der Spurensicherung nach draußen. Den Zettel in seiner rechten Hand hielt er mit einer Pinzette in Augenhöhe.

»Hans, Manfred«, er nickte den Kollegen zu, »das hing in einem der unteren Räume hinter die Tür geklebt.«

Beltel hatte seine Brille schon aufgesetzt.

Schaffe, schaffe Häusle baue

Las Dir nix vom Nirbach klaue

Dieses miese, üble Schwein

Zerstört den Traum vom Eigenheim

Kassiert nur Dein gutes Geld

Liefert nicht das, was Du bestellt

Nie mehr geh in die Psychiatrie

Vielmehr fick diesen Kerl ins Knie

»Was soll das denn nun schon wieder?« Beltel steckte seine Brille in die Innentasche seines Jacketts.

»Unser Poet hat sich wieder gemeldet«, sagte Funk. »Ich habe es geahnt. Die erste Botschaft kam mir allerdings weniger verschlüsselt vor.«

Langen übergab den Zettel einem Kollegen, der das Papier sorgfältig eintütete.

»Die zweite Botschaft?«, hakte der Mann von der Spurensicherung nach.

Funk ging zum Auto und holte das Tütchen, in das er die ersten Gedichtzeilen gesteckt hatte. »Ja, das hier hatten wir heute Morgen unter dem Scheibenwischer.«

Wolfgang Langen nahm das Tütchen entgegen. Durch die Folie hindurch konnte er die Zeilen lesen. »Hört sich echt schräg an. Wer soll denn diese Ivonna Martiniak sein?«

Funk erklärte kurz, was sie bezüglich Ivonna Martiniaks Schwangerschaft herausgefunden hatten.

»Scheint, als ob da jemand Spuren legt. War dieser Nirbach nicht Bauunternehmer?«, fragte Langen.

Beltel nickte. »Schaffe, schaffe Häusle baue. In diesen Zeilen spielt der anonyme Schreiber anscheinend auf unschöne Erfahrungen mit dem Bauunternehmer Nirbach an.«

»Unschöne Erfahrungen ist sehr mild ausgedrückt«, sagte Funk. »Dieses miese, üble Schwein. Da schreit jemand ziemlichen Hass heraus.«

»Genau wie du sagst, Wolfgang, jemand legt Spuren. Mit den ersten Reimen hat er uns auf einen zweiten Verdächtigen aufmerksam gemacht. Wenn wir erfahren, was hinter diese Zeilen steckt, werden wir wahrscheinlich auf eine weitere oder vielleicht sogar mehrere Personen stoßen, die ein Motiv für den Mord an Nirbach hatten«, schlussfolgerte Beltel.

Bevor Langen oder Funk antworten konnten, klingelte Beltels Handy. Sein Gesicht verfinsterte sich. Er stellte ein paar knappe Fragen, lauschte und legte dann auf.

»Ralf Schmitter und Jessica Carlius sind in einer Scheune aufgespürt worden«, erklärte er.

»Schön«, sagte Funk. »Damit hätten wir schon mal den Hauptverdächtigen.«

Beltel schüttelte missmutig den Kopf. »Sie sind entwischt, und bei der Durchsuchung der Scheune wurde eine Waffe gefunden. Der Junge hatte also eine Waffe dabei. Die hat er wohl in der Eile liegengelassen.«

»Dieser Fall beginnt mir langsam wirklich zu stinken«, fluchte Funk.

»Ich beneide euch nicht, Kollegen. Das Einzige, was ich jetzt für euch tun kann, ist mit der Arbeit dort drinnen weiterzumachen. Vielleicht finden wir ja noch was Interessantes«, sagte Langen.

Kaum hatte er ausgesprochen, trat einer seiner Mitarbeiter nach draußen. »In einem der Kellerräume haben wir Flusen auf dem Boden gefunden. Wahrscheinlich von einem Schlafsack«, erklärte der Mann.

Langen wandte sich noch mal an Beltel und Funk: »Ihr seht, in den Räumen ist noch was zu holen. Wir geben euch Bescheid.«

Der Plan geht auf

Die Polizei war eifrig bei der Arbeit und bei dem Blick durch das Fernglas machte sich ein befriedigendes Lächeln auf seinem Gesicht breit.

Dieser Kriminalhauptkommissar und sein Partner machten einen guten Eindruck. Bedächtige, ruhige Männer. Das sprach für Grips. Sie passten genau in den Plan. Ein Spiel, bei dem die Polizei sich seinem Tempo anpassen musste. Die beiden Bullen sahen nach den passenden Gegenspielern aus, deren Geduld noch auf die Probe gestellt werden würde, denn einfach würde er es ihnen nicht machen.

Der Mann ließ das Fernglas sinken und reckte sich. Die Nacht auf dem Betonboden verlangte nach ein wenig Gymnastik. Mit offenen Handflächen berührte er den Boden und dehnte Rücken und Beine. Er hatte eine kleine Wohnung gemietet, aber trotzdem schlief er gelegentlich im Wald, oder eben in so einer Kellerbaustelle. Verrückt? Nein, ganz und gar nicht. Menschen waren nicht dafür geschaffen, ständig in weichen Betten zu liegen. Er konnte ohne Probleme auf hartem Beton schlafen. Ob auf einer Matratze oder einem Steinboden, er brauchte nur wenig Zeit bis zum Einschlafen.

Nachdem er gestern Abend die Nagelpistole aufgestellt hatte, hatte er die Nacht im Keller verbracht. Es wäre nicht nötig gewesen. Er hätte heute Morgen zurückkommen können, um den Kompressor der Nagelpistole einzuschalten. Aber er liebte diese Übungen aus seiner Ausbildungszeit und wollte sie nicht aufgeben. Übungen, die damals für den Ernstfall trainiert worden waren. In der Lage sein, in verfallenen Gebäuden zu nächtigen, an Flüssen, Moorgebieten oder auf windigen Ebenen zu schlafen. Mit allen Gegebenheiten zurechtzukommen. Die meisten Menschen waren einfach viel zu verweichlicht.

Nochmals das Fernglas ansetzend sah er die Polizisten wegfahren. Er würde seinem Rücken noch etwas Gutes mit ein paar Dehnübungen tun und dann wie ein gewöhnlicher Bürger in seine kuschelige, bürgerliche Wohnung zurückkehren. Askese beinhaltete eine sehr simple Weisheit: Wer eine Nacht auf hartem Beton verbrachte, konnte erst richtig den Wert einer angenehm weichen Matratze schätzen.

Teambesprechung

Aufgrund eines Installations-Problems herrschte an diesem Morgen im Bonner Polizeipräsidium großes Durcheinander. Beltel hatte von der verstopften Abflussleitung gehört und sich noch gedacht, dass mancher Kollege auf seiner Etage wohl zu viel Zeit auf der Toilette verbrachte. Nun war das Chaos perfekt! Wasser drang aus den Toilettenräumen bis auf den Flur. Es roch übel. Doch die Installateure waren bereits in den Waschräumen zugange und der Presslufthammer dröhnte extrem. Alle auf der Etage, die sich mit konzentrierter Arbeit befassen mussten, wichen auf Räumlichkeiten in anderen Stockwerken aus, sofern welche vorhanden waren.

Beltel hatte sein Team in die sechste Etage gebeten, in der nur ein leises Brummen des Presslufthammers aus dem zweiten Stock zu hören war. Der Geruch war zwar bis einige Etagen weiter hinauf erhalten geblieben, aber hier oben war die Luft in Ordnung.

Beltel und Funk betraten zusammen den viel zu kleinen Besprechungsraum, in dem schon etliche Kollegen anwesend waren. Sie saßen dicht an dicht und es gab kaum Platz, sich zu bewegen. Es war ärgerlich, dass es nur dieses kleine Räumchen zum Ausweichen gab, aber sie waren schließlich nicht das einzige Team, das von den derzeitigen Problemen betroffen war und in Ersatzräume ausweichen musste. Im Präsidium ging es heute Morgen geschäftig wie in einem Ameisenhaufen zu, so dass man froh sein konnte, überhaupt irgendwo tagen zu können.

Holters war noch nicht anwesend, er würde wie gewöhnlich ein wenig später eintreffen. Er gehörte zu den nikotinsüchtigen Kollegen, die vor jeder Besprechung den langen Weg vom Raucher- zum Besprechungsraum immer noch nicht richtig einschätzen konnten. Und nun lag dieser Raum auch noch ein paar Stockwerke höher. Beltel wusste, dass einige Kollegen von diesem Verhalten genervt waren, Holters hatte sich schon heftige Beschwerden anhören müssen. Beltel, als Leiter der Kommission, sah über diese kleine Schwäche hinweg. Da war er ja schon – und nur zwei Minuten zu spät. Holters war ein sehr guter Mann und mit dieser Macke konnte Beltel durchaus leben.

Beltel hatte das Team seiner Mordkommission sorgfältig zusammengestellt. Alles erfahrene Leute, mit denen er schon sehr oft zusammen gearbeitet hatte.

Außer Beltel hatten alle an dem quadratischen Tisch Platz genommen, der für die Anzahl der Personen ebenfalls zu klein war. Die Unterlagen, die die Teilnehmer vor sich ausgebreitet hatten, waren teilweise von den Unterlagen des Nachbarn überdeckt. Die Enge trug nicht unbedingt der Konzentration bei. Beltel stellte sich neben ein Flipchart.

Nachdem das Rascheln der Unterlagen und das Rücken der Stühle aufhörte, begrüßte er sein Team.

»Fassen wir zusammen, was wir haben. Eben habe ich erfahren, dass es sich bei der Mordwaffe um ein Präzisionsgewehr mit dem Namen McMillan TAC-50 handelt. Das ist ein US-amerikanisches Gewehr, das in erster Linie von den kanadischen Streitkräften verwendet wird. Kaliber 12,7 x 99mm.« Er nahm den Filzschreiber von der Ablage und begann zu schreiben. »Kein Wunder, dass Nirbachs Schädel in tausend Stücken über den Boden verteilt wurde. Das McMillan stellt den Rekord auf, was die Distanz für einen Todesschuss angeht: 2450 Meter. Unser Schütze hat aus ungefähr zweihundert Metern getötet. Aus dieser Entfernung muss man zwar nicht der absolute Meisterschütze sein, aber nachts im Wald ist auch so ein Treffer keinem Anfänger zuzutrauen. Was ich aber noch wichtiger finde, ist die Tatsache, dass man an so eine Waffe nicht ohne weiteres rankommt. Die kann man nicht so einfach unter der Hand kaufen. Wir haben es also mit einem Profi zu tun, der gute Kontakte zu Topwaffenschiebern hat.« Beltel räusperte sich, dann fuhr er fort. »Auf das McMillan passt ein Schalldämpfer mit der Bezeichnung Typ BR Tuote T8M. Auch dabei handelt es sich um ein höchst professionelles Utensil. Den fünfzehnjährigen Verdächtigen Ralf Schmitter, der mit seiner Freundin flüchtig ist, möchte ich daher als Täter erst mal ausklammern. Das betrifft natürlich nicht die Fahndung nach ihm.« Er notierte den Namen des Jungen.

»Gibt es da schon was Neues, Petra?«

Kriminalhauptkommissarin Petra Tollas war die Verbindungsfrau zu den Rheinbacher und Euskirchener Kollegen, die sich auf der Suche nach den Jugendlichen befanden. »In der Scheune, in der sich der Junge und das Mädchen versteckt hatten, hat man eine Pistole gefunden. Dabei handelt es sich um eine Walther P1, die frühere Standardpistole der Bundeswehr. Sie lag zwischen zwei Strohballen«, gab sie Auskunft. »Wir haben die Seriennummer überprüft und festgestellt, dass sie einem gewissen Horst Richter, wohnhaft in Aichen gehört. Nach der Flucht aus der Scheune hat man den von den Kids geklauten Roller an der Steinbachtalsperre gefunden. Von dort könnten sie mit einem Bus weitergefahren sein. Die Kollegen von der Schutzpolizei befragen gerade die diensthabenden Busfahrer. Natürlich könnte es auch sein, dass die Jugendlichen ein anderes Fahrzeug zur weiteren Flucht geklaut haben, aber bislang liegt keine Diebstahlanzeige vor. Sollten sie zu Fuß unterwegs sein, wäre das für uns am leichtesten, denn die Schutzpolizei durchkämmt großflächig die umliegenden Waldgebiete, Felder und Dörfer.«

Beltel nickte verdrossen. Die Sache mit den Jugendlichen war eine brenzlige Angelegenheit, die total aus dem Ruder laufen konnte. »Wilfried«, wandte er sich an Holters, »du kümmerst dich um diesen Richter. Stell fest, wie der Junge in den Besitz der Waffe gekommen ist.« Beltel unterbrach sich für einen Moment, um dann fortzufahren: »Petra, wenn es dir irgendwie gelingen könnte, den Kids klarzumachen, dass wir sie nicht für Mörder halten, dann könnte ich mir sogar vorstellen, dass sie aufgeben. Je mehr der Junge sich jedoch in die Ecke gedrängt fühlt, desto gefährlicher wird er.«

»Manfred, ich bin immer noch der Meinung, dass du dem Jungen zu wenig Aufmerksamkeit widmest. Er ist und bleibt unser Hauptverdächtiger«, warf Funk erneut ein. »Seine Flucht, jetzt die Waffe, so viel spricht gegen ihn. Was ist, wenn einer seiner Freunde uns die dämlichen Gedichte zukommen lässt, einfach um von Ralf abzulenken?«

»Auch da muss ich einwenden, dass ich die Jungs für keine Privatdetektive halte. Unser anonymer Schreiber hat ganz schön viel Privates über den Ermordeten in Erfahrung gebracht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Jugendlichen – du hast sie selbst gestern kennen gelernt – diese Infos in so kurzer Zeit zusammenbekommen hätten. Außer Petra sind noch eine Menge Schutzpolizisten hinter Ralf Schmitter und Jessica Carlius her, und das reicht im Moment. Sollte sich herausstellen, dass dieser Horst Richter auch ein Präzisionsgewehr der Marke McMillan im Besitz hatte, dann werde ich meine Ansicht revidieren und wir werden uns intensiv um den Jungen und seine Freundin kümmern.« Beltels letzter Satz und der Ton, in dem er ihn ausgesprochen hatte, ließen erkennen, dass er diese Diskussion keinesfalls weiterführen wollte.

Funk nickte. »Gut, wenn du meinst. Du bist der Chef, und deine Argumente machen Sinn.«

Beltel schaute in die Runde. Auch die anderen schienen einverstanden zu sein.

»Wie allen bekannt sein dürfte, gibt es jemanden, der uns anonyme Botschaften zukommen lässt«, ging Beltel zum nächsten Punkt über und schrieb »Poet« auf den Papierblock. »Durch diesen Anonymus, den wir ›Poet‹ genannt haben, sind wir auf eine Person namens Dariuz Martiniak gestoßen«, fuhr er fort und notierte den Namen. »Nirbach hat Martiniaks Schwester anscheinend geschwängert und zu einer Abtreibung gezwungen. Unseren Informationen zufolge hat Martiniak sich deshalb mit Nirbach angelegt. Man hat uns erzählt, dass Nirbach seinem Widersacher danach einen Diebstahl unterschob und ihn so ins Gefängnis gebracht hat. Dariuz Martiniak ist Pole. Nach seiner Haft in Deutschland wurde er nach Polen abgeschoben. Das sind im Moment nur Informationen aus zweiter Hand, denen wir nachgehen müssen, denn sollten sie stimmen, könnten sie ein Motiv für einen Mord sein.«

Dirk Wagner hob den Finger. Beltel nickte ihm zu.

»Und dieser Poet hat euch auf die Spur dieses Polen gebracht?«, wollte Wagner wissen.

»Ja, und das hat mit Sicherheit etwas zu bedeuten. Aber unser Poet legt es darauf an, uns zu verwirren. Wir haben bereits einen zweiten Hinweis erhalten, und ich glaube, es werden weitere folgen. Aber auf diesen anonymen Schreiberling werde ich zum Schluss noch mal eingehen. Betrachten wir erst mal das, was er uns geliefert hat.« Beltel wandte sich an Kriminalhauptkommissar Joachim Elze. »Hat die Anfrage bei den Kollegen in Polen schon etwas ergeben?«

»Leider noch nichts. Aber wir alle wissen ja, dass so was mit ausländischen Kollegen immer dauert. Ich werde dran bleiben und denen ein wenig auf die Nerven gehen.« Durch den Raum ging ein bestätigendes Raunen. »So funktioniert es in der Regel dann etwas schneller.«

Elze kramte in seinen Unterlagen und zog zwei Fotos hervor.« Ich habe ein Foto von Martiniak auftreiben können und bin dabei auf etwas Interessantes gestoßen. Vor etwa sechs Wochen wurde eine Kreissparkasse in Rurberg überfallen. Der Täter hatte einen osteuropäischen Akzent und ein Bankangestellter, der sich mit Akzenten ein wenig auskennt, ist sich sicher, dass es Polnisch war. Obwohl der Täter maskiert war und das Bild der Überwachungskamera nicht sehr deutlich ist, konnte ich eine große Ähnlichkeit mit Martiniak entdecken. Die Größe des Täters stimmt ebenfalls mit der Martiniaks überein.«

Er reichte die Bilder Wolfgang Langen, der rechts von ihm saß. Es handelte sich um ein Foto, das bei Martiniaks Verhaftung aufgenommen worden war, sowie ein Fahndungsfoto von dem Bankräuber. Langen, der einen längeren Blick auf die beiden Fotos geworfen hatte, gab sie an seinen Nachbarn weiter.

»Es könnte also sein, dass sich Martiniak nach seiner Rückkehr nach Deutschland auf diese Art Geld beschafft hat.«

Beltel trat hinter Dieter Stochaus Stuhl und warf einen Blick auf die Fotos. An dieser Theorie konnte in der Tat was dran sein.

»Dieser Spur werden wir nachgehen. Martiniak hat in Deutschland als Saisonarbeiter gearbeitet, und wenn er tatsächlich zu einem Rachefeldzug zurückgekehrt sein sollte, braucht er Geld. Die Ähnlichkeit zwischen dem Bankräuber und Martiniak kann natürlich Zufall sein. Dieter, am besten, du setzt dich mit den Kollegen vom Raubdezernat wegen diesem Bankraub in Rurberg in Verbindung«, wandte sich Beltel an Stochau. »Hans und ich waren heute in Schweinheim, wo Martiniak und seine Schwester gearbeitet haben, aber aufgrund des Vorfalls im Waldhotel mussten wir dort nach kurzer Befragung wieder weg«, fuhr Beltel fort. »Joachim, du fährst heute noch mal in Schweinheim vorbei und befragst alle, die Martiniak kennen. Vor allem den Erdbeerbauern. Versuche etwas über den Diebstahl herauszufinden. Höre dir so viele Meinungen wie möglich über den Polen und seine Schwester an. Außerdem haben wir noch den Namen eines Polen, der Martiniak angeblich ein gestohlenes Motorrad untergeschoben hat. Darek heißt dieser Mann. Leider haben wir nur den Vornamen, aber vielleicht kannst du auch etwas über ihn in Erfahrung bringen.«

Beltel schrieb Klötschs Namen auf das Flipchart. »Herrmann Klötsch ist der Bauleiter der Firma, die seit einiger Zeit Nirbachs Frau gehört. Bei Klötsch sehen wir zwar noch kein Motiv und außerdem scheint irgendjemand es nun sogar auf ihn abgesehen zu haben, aber ich möchte, dass auch Klötsch unter die Lupe genommen wird. Wir wissen, dass Klötsch und auch Nirbach früher im Kölner Milieu angesiedelt waren. Da wäre es doch interessant zu erfahren, inwieweit da heute noch Kontakte bestehen. Möglich, dass unser Täter aus diesen Kreisen kommt. Ich habe da noch ein paar Quellen in Köln. Hans und ich werden dort nachhaken. Irgendwie schwant mir, dass die beiden einigen Dreck am Stecken haben, entweder immer noch im Milieu, oder in anderen Bereichen. Und da sind wir bei unserem nächsten Punkt. Gedicht Nummer zwei: Die Anspielung auf Betrügereien im Baugewerbe. Konnten wir diesbezüglich schon etwas herausfinden?«

Dirk Wagner meldete sich zu Wort. »Gegen Nirbach wurde ein Betrugsverfahren eingeleitet. Anscheinend hat er für Arbeiten an Eigenheimen Gelder im Vorfeld bekommen und dann die Arbeiten nicht geleistet. Die Geschädigten haben sich zusammengeschlossen und gemeinsam eine Klage eingereicht. Das Verfahren läuft noch.«

»Sehr interessant. Mein Instinkt sagt mir, dass wir damit der Bedeutung von Gedicht Nummer zwei schon sehr nahe gekommen sind«, sagte Beltel. »Dirk, du setzt dich mit den Geschädigten in Verbindung und bringst in Erfahrung, was da gelaufen ist. Unser anonymer Gedichtschreiber könnte eventuell einer der Geschädigten sein.«

Beltel schrieb Viola Nirbachs Namen auf das Flipchart. »Was wissen wir über diese Dame? Da sie zum Zeitpunkt des Mordes in Urlaub war, kommt sie wohl nicht in Frage. Aber wir wollen auch über sie so viel wie möglich wissen. Ist das Alibi Spanien wasserdicht? Kommen wir an Zeugen aus dem Hotel ran, die aussagen können, dass Frau Nirbach tatsächlich dort war? Aber vor allem möchte ich wissen, hätte auch sie ein Motiv gehabt? Als Täterin möchte ich sie an und für sich ausklammern, aber sie könnte einen Auftrag erteilt haben. Einen Killer, der den Mord für Geld erledigt hat. Meine Kontaktquelle in Köln unterliegt zwar der Verschwiegenheit den eigenen Kreisen gegenüber, aber ich denke, ich kann da wenigstens ein paar oberflächliche Infos bekommen, die unser Puzzle vielleicht etwas vervollständigen. Ferdi«, sprach er den Kollegen Franzen an, »ich möchte dass du dich um Frau Nirbach kümmerst, sobald sie aus Spanien zurück ist. Dann möchte ich die Dame umgehend hier im Präsidium sehen. Überreiche ihr eine offizielle Einladung.«

Jetzt umkreiste Beltel mit seinem Stift die Bezeichnung »Poet« auf dem Flipchart. »Kommen wir also noch mal zu unserem Schreiberling«, fuhr er fort. »Außer Viola Nirbach, die sich im Ausland aufhält, könnte praktisch jeder unserer Verdächtigen der anonyme Hinweisgeber sein. Aber auch sie könnte dahinterstecken, indem sie jemanden beauftragt hat. Fragen wir uns also, was mit diesen Hinweisen beabsichtigt ist.«

»Ablenken?«, meldete sich Wagner zu Wort. »Für mich sieht es danach aus, dass uns da jemand verwirren will. Um uns so vom wahren Täter abzulenken.«

»Mir kam gerade in den Sinn, dass es theoretisch auch mehrere Täter sein könnten. Was meint ihr: Ein Komplott gegen einen gemeinsamen Feind?«, fragte Dieter Stochau.

Beltel wartete auf weitere Wortmeldungen, aber es folgten keine. »Mehrere Täter? Interessant. Ja, interessant. Aber mir ist auch der Gedanke gekommen, ob uns da nicht jemand etwas über Nirbach und nicht unbedingt über den Täter sagen möchte. Das ist nur so eine Überlegung von meiner Seite, aber alle Gedanken sind wichtig. Wir sollten in alle Richtungen schauen. Welches Motiv hat der Poet für seine Hinweise? Lasst euch diese Frage durch den Kopf gehen, vielleicht kommen wir so weiter. Wir dürfen uns nicht von ihm oder vielleicht auch von ihr verwirren lassen, wir müssen das Spiel so schnell wie möglich durchschauen.« Beltel blickte in die Runde. Die Gesichter waren allesamt konzentriert. Offenbar ließ jeder Einzelne das Besprochene langsam in sich sacken.

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