Kitabı oku: «Nebra», sayfa 5

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7

Das Büro von Dr.Moritz Feldmann lag ein Stockwerk höher, am Ende des Gangs. Hinter einem gewaltigen Schreibtisch, auf dem bis an die Grenze der Belastbarkeit Bücher, Zeitschriften und sonstige Dokumente gestapelt waren, saß ein drahtiger älterer Mann, dessen graue, ruhelose Augen hinter einer edlen Brille mit halbrunden Gläsern hervorstachen. Seine Haare waren ebenfalls grau und kurzgeschoren, und sein modisch gestutzter Dreitagebart ließ die Konturen seines Gesichts unnatürlich hart hervortreten. Salopp in Jeans und ein weißes Hemd gekleidet, hätte man ihn durchaus für einen Mann aus der Werbebranche halten können, wäre da nicht diese straffe Haltung und die unnahbare Aura gewesen, die ihn wie der Geruch eines zu scharfen Aftershave umgab. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er auf Hannahs Besuch gewartet hatte.

»Treten Sie ein«, sagte Feldmann, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. »Und schließen Sie bitte die Tür.«

Hannah begann sich unwohl zu fühlen. Wieso nur hatte sie in Feldmanns Gegenwart immer das Gefühl, wieder eine Studentin zu sein?

»Nehmen Sie Platz, und bedienen Sie sich mit Kaffee, wenn Sie mögen.«

Hannah ging auf die andere Seite des Raumes, der mit Büchern geradezu überfrachtet war. In den Regalen reihten sich Ordner neben Kunstbänden und verstaubte Dissertationen neben Hochglanzbroschüren seltener Antiquitäten. Am Fenster, von dem aus man den Marktplatz überblicken konnte, stand eine Kaffeemaschine. Ein uraltes Gerät, das in dem neuen Büro wie ein Fremdkörper wirkte. Während sie sich eine Tasse Kaffee einschenkte, riskierte sie einen Blick über Feldmanns Schulter. Ihr war bisher noch nie aufgefallen, dass er mit der Hand schrieb. Noch dazu mit einem Füllfederhalter. Sehr ungewöhnlich. Ein Verdacht keimte in ihr auf. Sie trat näher, um sich die Handschrift anzusehen. Es war eine andere als auf dem anonymen Brief. Nicht so markant. Aber das wollte nichts heißen. Handschriften konnte man imitieren, wenn man über das nötige Talent verfügte.

In diesem Moment drehte Dr.Feldmann sich um. Fragend blickte er sie an. Sie schrak zurück. »Bitte entschuldigen Sie, ich wollte nicht spionieren«, murmelte sie. Mit hochrotem Kopf begab sie sich an ihren Platz zurück.

»Ich muss nur noch diesen Brief zu Ende schreiben«, sagte er. Ihn schien ihre Neugier nicht im Geringsten zu stören. »Ich bin gleich fertig. Ein Dankesschreiben an den Kulturdezernenten von Basel für seine aufopferungsvolle Arbeit während der Ausstellung. Für den Einsatz seiner Mitarbeiter, die Sicherheitsmaßnahmen sowie den Rücktransport der Leihgaben.« Er wedelte mit der Hand in der Luft herum. »Die üblichen Honneurs, Sie wissen schon.«

Hannah tat so, als wüsste sie, und nahm einen Schluck Kaffee. Das alles schien mehr mit Politik zu tun zu haben als mit Archäologie. Sollte das der Weg sein, den man einschlug, wenn man die Karriereleiter emporstieg? Es war jedenfalls nicht ihr Weg. Politik war nichts für sie. Sie war in ihren Augen ein schmutziges Geschäft. Voller Fallen, die sich vor einem auftaten und in die man unweigerlich hineinstolperte, wenn man nicht aufpasste.

»So.« Schwungvoll unterschrieb Feldmann den Brief, faltete ihn und steckte ihn in ein Kuvert. »Das war’s. Die Ausstellung war ein großer Erfolg, wie Sie sicher wissen. Da ist ein kleines Dankeschön angebracht. Es war sicher nicht die letzte Ausstellung dieser Art. Die Schweizer sind ein wohlhabendes Volk und gerne bereit, für Wissenschaft und Kultur ein paar Franken auszugeben. Und damit sie das weiterhin tun, bin ich bereit, Klinken zu putzen. Geben und nehmen, verstehen Sie?«

Er lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf.

»Aber nun zu Ihnen. Ich hatte gestern Abend noch Zeit, Ihren Bericht zu lesen, den Sie mir per E-Mail zugeschickt haben. Bevor ich etwas dazu sage, wüsste ich gern, wie Sie selbst über die Reise denken.«

Hannah zögerte. Sie spürte, dass dies eine Fangfrage war. Jetzt war Vorsicht geboten.

»Es ist noch zu früh für eine abschließende Bewertung«, begann sie zaghaft. »Dazu müsste ich erst die Fotografien auswerten. Sie wissen schon, Vermessung, Winkelstellungen, Alter, Herkunft, das ganze Programm. Die Parallelen zwischen der Bildsprache der Ägypter und den Erbauern der Himmelsscheibe sind nicht zu übersehen. Eindeutig ein Beleg für die kulturellen Kontakte, die zwischen den Kontinenten bestanden haben. Es gibt allerdings auch Unterschiede. Bedeutende Unterschiede, zum Beispiel bei der Darstellung des Sternenhimmels. Trotzdem würde ich die Reise als Erfolg werten.« Sie machte eine Pause. Sie fühlte, dass ihr der Abgang nicht gelungen war. Ein Wort wie trotzdem zu benutzen, war immer ungeschickt, es klang nach Beschönigung. Feldmann hatte keine Miene verzogen. Er wartete, lauernd, wie ein Kater, ehe er seine Krallen ausfuhr.

»Haben Sie irgendwelche Abbildungen der Himmelsscheibe gefunden?«

»Nein.«

»Irgendwelche Antworten auf unser Sternenproblem?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es muss aber Verbindungen gegeben haben«, gab sie zu bedenken. »Die Sonnenbarke, die Plejaden. Das kann unmöglich ein Zufall sein.«

»Dann werten Sie die Reise also als Erfolg?«

Sie reckte das Kinn vor. »Das tue ich.«

Feldmann beugte sich vor. »Wollen Sie wissen, was ich davon halte?«

Hannahs Blick verdüsterte sich. »Sie scheinen höchst begierig zu sein, es mir mitzuteilen.«

»Ich halte sie für rausgeworfenes Geld. Ich habe es Ihnen vorher gesagt, und ich bin immer noch dieser Meinung. Gewiss, manche werden fragen, warum ich mich so aufrege. Was sind schon zweitausend Euro für Reisekosten, Spesen und Bestechungsgelder, wenn man über einen Forschungsetat von fünf Millionen verfügt. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Ein bisschen hier, ein bisschen da, und auf einmal ist alles weg. Dann hat man plötzlich nicht mehr genug Geld, um sich die paar Briefmarken für ein Bewerbungsschreiben zu leisten. Hinzu kommt, dass die fünf Millionen mit der Erwartung verbunden sind, dass dieses Geld in den nächsten Jahren seinen Weg wieder zurück in die Kassen des Landes findet. Der Kulturhaushalt des Landes Sachsen-Anhalt ist äußerst knapp bemessen, und die Himmelsscheibe von Nebra ist einer der wenigen Publikumsmagnete in diesem Land. Aber ein Magnet kann an Kraft verlieren. Mir sitzen immer noch die Zweifler im Nacken. Diese ewigen Nörgler, die behaupten, es handle sich vielleicht doch um eine Fälschung. Immer wieder liest man die Behauptung, es gäbe Möglichkeiten, das Material künstlich altern zu lassen. Natürlich gibt es die, das wissen Sie genauso gut wie ich.«

»Aber nicht auf die Art und Weise, wie es bei der Himmelsscheibe der Fall ist«, erwiderte Hannah. »Allein der Kristallisationsgrad der oxidierten Bronze …«

Feldmann winkte ab. »Diese Leute werden nicht schweigen, ehe ich ihnen nicht Funde präsentiere, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Scheibe stehen. Irgendetwas, auf dem die Scheibe abgebildet ist. Wenn wir unsere Theorien nicht bald untermauern können, wird unsere Entdeckung in Vergessenheit geraten, und die Geldquellen werden versiegen.«

Hannah verdrehte im Geiste die Augen. Feldmann war mal wieder bei seinem Lieblingsthema angelangt – dem lieben Geld. Mit gerötetem Gesicht stand er auf und begann mit einem Vortrag, den Hannah so oder so ähnlich schon mindestens dreimal gehört hatte.

»Sie wissen doch, wie das ist mit dem Gedächtnis der Menschen«, fuhr er fort. »Es ist löchrig wie ein Sieb. Muss ständig gefüttert werden. Die Halbwertszeit von Nachrichten beträgt nicht mal einen Monat. Wer redet heute noch von BSE, Vogelgrippe oder Aids? Heute regt sich alle Welt darüber auf, doch schon morgen kann sich kein Mensch mehr daran erinnern. Und genauso ist es auch mit Funden wie unserem. Was meinen Sie, warum ich so bestrebt bin, die Scheibe dauernd in Umlauf zu halten, warum ich den Aufwand auf mich nehme, ständig neue Ausstellungen zu organisieren? Das Interesse der Öffentlichkeit bleibt nur bestehen, wenn wir es weiterhin mit neuen Erkenntnissen füttern. Am besten mit Erkenntnissen, die geeignet sind, es auf die Titelseiten des Spiegel oder des Stern zu bringen. Können Sie mir die liefern? Nein. Hat Ihre Reise dazu beigetragen, dass wir diesem Ziel ein Stück näher kommen? Nein.« Feldmann hob die Hand, als Hannah Widerspruch einlegen wollte. »Und kommen Sie mir bitte nicht mit Ihren angeblich so neuen Erkenntnissen über die Plejaden und die Sonnenbarke. All das haben wir schon lange vorher gewusst – oder zumindest vermutet. Es ist so viel im Vorfeld darüber geschrieben und berichtet worden, dass der Beweis unserer These bestenfalls noch dazu taugt, bei einigen Fachleuten ein Anheben der Augenbraue zu bewirken.« Er setzte sich wieder und schüttelte den Kopf. »Es fällt mir schwer, Ihnen das zu sagen, aber Ihre Anstellung hat sich für mich bisher noch nicht ausgezahlt.«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen«, protestierte Hannah. »Ich habe die Materialanalyse für Sie abgeschlossen. Die metallurgischen Gutachten liegen vor, ebenso die Bewertungen über Alter, Ursprung und Funktionsweise der Scheibe. Ich habe bewiesen, dass die Scheibe kein Importprodukt ist, sondern tatsächlich hier gefertigt wurde. Dass die spezielle Lage und Größe der Horizontbögen nur den Schluss zulässt, dass die Scheibe in unseren Breiten eingesetzt wurde. Sie ist praktisch eine Miniaturausgabe der jungsteinzeitlichen Kreisgrabenanlage von Goseck, ein tragbares Sonnenobservatorium. Vor diesem Hintergrund dürften die Ergebnisse auch den letzten Kritiker zum Schweigen gebracht haben.«

»Leider nicht. Sie wissen doch selbst, wie das ist: Den endgültigen Beweis für die Echtheit können wir nur erbringen, wenn wir es schaffen, die Scheibe in eine Reihe von Funden einzuordnen, die in einem Bezug dazu stehen. Parallelfunde – Münzen, Tontafeln, Stanzungen, Ritzungen oder Reliefe – irgendetwas, auf denen das verdammte Ding zu sehen ist.« Er zuckte die Schultern. »Segen und Fluch zugleich, dass wir es hier mit einem Unikat zu tun haben.«

»Aber wenn es überhaupt Abbildungen gibt, so kann es Jahre dauern, sie zu finden. Ich kann keine Wunder vollbringen.«

»Das ist schade, denn genaugenommen war das der Grund, warum ich Sie eingestellt habe.« Er lehnte sich zurück. »Ihr Ruf im Aufspüren ungewöhnlicher Funde ist Ihnen vorausgeeilt. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass Ihre Anstellung an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Wenn Sie mir nicht liefern können, was ich von Ihnen erwarte, werden sich unsere Wege wieder trennen.«

Hannah stand wie vom Donner gerührt.

»Sie wollen mir das Projekt entziehen?«

»So leid es mir tut.«

»Aber …«

»Frau Dr.Peters, ich verstehe Ihren Unmut, aber Sie müssen sich in meine Lage versetzen. Sie haben gute wissenschaftliche Basisarbeit geleistet, gewiss. Aber das hätte auch jemand anderer vollbringen können. Jemand aus meinem Stab. Das wäre bei weitem billiger gewesen. Ihre Anstellung hat mich einen Haufen Geld gekostet, und dafür möchte ich Resultate sehen.«

Hannah ballte die Fäuste. Sie konnte vor Wut kaum atmen. Sie hatte so viel herausgefunden, und jetzt wollte Feldmann jemand anderen engagieren, der sich ins gemachte Nest setzte? Jemanden, der von ihrer Forschungsarbeit profitierte und womöglich den ganzen Ruhm für sich erntete? Ausgeschlossen.

Obwohl sie innerlich kochte, zwang sie sich zur Ruhe. Mit Feldmann einen Streit vom Zaun zu brechen brachte nichts. Er saß am längeren Hebel. Ihr Vertrag lief am ersten Juni aus. Ihr blieben also noch knappe sechs Wochen, um ein kleines Wunder zu vollbringen. Verdammt wenig Zeit. Sollte es ihr nicht gelingen, irgendetwas auszugraben, das ihre Weiterbeschäftigung in seinen Augen rechtfertigte, so würde sie alles verlieren: Die versprochene Prämie und ihr Forschungsauftrag wären dahin. Sie würde die Himmelsscheibe höchstens noch wie ein ganz gewöhnlicher Museumsbesucher hinter Panzerglas zu sehen bekommen.

Hannah sah Feldmann direkt in die Augen. Wie immer hatte er sein Pokerface aufgelegt. Hannah drehte sich um und schickte sich an, das Büro zu verlassen. An der geöffneten Tür hielt sie noch einmal kurz inne. »Haben Sie schon mal etwas von der Theorie gehört, dass es vielleicht mehr als nur eine Scheibe gegeben haben könnte?«

Feldmann hob die Augenbrauen. »Was sagen Sie da?«

»Nicht so wichtig. Nur so ein Gedanke.«

Sie ließ die Tür hinter sich zufallen.

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8

Ohne sich bei ihren anderen Kollegen zurückzumelden, lief sie die Treppen hinunter und zur Vordertür hinaus. Die Hände in ihren Taschen geballt, überquerte sie den Marktplatz, vorbei an der Universität, immer weiter. Egal wohin, Hauptsache, raus. Die frische Luft half ihr, klare Gedanken zu fassen. Der Regen war mittlerweile in feinen Niesel übergegangen, der ihr Gesicht benetzte und ihre Haare durchdrang. Das schlechte Wetter war wie ein Spiegel ihrer Seele. Konnte Feldmann seine Drohung wirklich wahr machen? Natürlich konnte er. Die Frage war nur: würde er auch? Oder wollte er sie nur antreiben? Bei jemandem wie ihm konnte man nie genau sagen, was er beabsichtigte. Er war in dieser Hinsicht so undurchschaubar wie eine Sphinx. Was sollte sie tun, wenn er sie wirklich auf die Straße setzte? Gewiss, bei ihrer Reputation würde sie schnell einen neuen Job bekommen, aber keinen wie diesen. Die Himmelsscheibe von Nebra war etwas, wovon so ziemlich jeder Archäologe auf der Welt träumte. Sie repräsentierte alles, warum ein Mensch sich jemals mit Archäologie beschäftigt hatte.

Mit energischen Schritten eilte sie durch die Stadt, immer Richtung Norden. Sie tat dies nicht bewusst, es passierte von ganz allein. Irgendetwas zog sie magisch an. Als sie von der Magdeburger- in die Ludwig-Wucherer-Straße einbog, legte der Regen noch einmal an Heftigkeit zu.

Nach etwa zwei Kilometern tauchte vor ihr das Gebäude des Landesmuseums auf. Mit seinem quadratischen Grundriss, der an den südlichen Ecken von Rundtürmen flankiert wurde, wirkte es wie eine trutzige Burg. Wieder standen etliche Busse vor dem Haupteingang, Zeichen dafür, dass sich geschichtsinteressierte Reisegruppen und Schulklassen ins warme Innere des Museums geflüchtet hatten. Die Menschen kamen, um den Fund zu besichtigen, nachdem er von seiner langen Reise nach Spanien, Österreich und der Schweiz endlich nach Hause zurückgekehrt war. Der Fund, der Deutschland urplötzlich ins Blickfeld der Archäologie gerückt hatte. Man durfte sich keinen Illusionen hingeben: Die Himmelsscheibe von Nebra war und blieb der Angelpunkt der Ausstellung. Ohne sie war dies nur ein ganz gewöhnliches Museum.

Patschnass stieg sie die breite Prachttreppe zum Haupteingang empor. Der Pförtner winkte ihr zu.

»Was für ein Wetter«, sagte er mit einem Blick in den bleigrauen Himmel. »Da möchte man nicht mal seinen Hund vor die Tür scheuchen.« Er blickte auf Hannah, die wie ein begossener Pudel vor ihm stand. »Na, Mädel, du machst ja ein Gesicht, gegen das sich das Wetter wie ein Sommertag ausnimmt.«

»Nimm’s mir nicht übel, Herbert, aber ich bin gerade nicht zum Plaudern aufgelegt. Ein andermal, in Ordnung?«

»Ärger mit dem Chef, hm? Ich verstehe. Na denn immer ’rin in die gute Stube.« Er öffnete die Tür. Hannah ließ ein dankbares Lächeln über ihr Gesicht huschen, dann drückte sie sich an der Loge vorbei in den Ausstellungsbereich. Hier war es wenigstens warm. Das Museum war vor kurzem umgebaut worden, eine Maßnahme, die erst durch den überwältigenden Erfolg der Himmelsscheibe möglich geworden war. Dreihunderttausend Besucher, das war eine Zahl, die im Landtag für Aufsehen gesorgt hatte. In Dreierreihen hatten die Zuschauer um den Museumsklotz herum angestanden, um einen Blick auf das rätselhafte Objekt zu werfen. Der Landesregierung von Sachsen-Anhalt, der schlagartig klargeworden war, dass Archäologie nicht zwangsläufig ein Zuschussgeschäft sein musste, hatte etliche Millionen lockergemacht, um dem ältesten frühgeschichtlichen Museum Deutschlands eine Verjüngungskur zu spendieren.

Im Klartext hieß das, dass sämtliche Büros und Labors ausgelagert und das Museum in den Zustand zurückgeführt worden war, für den es im Jahre 1911 erbaut worden war. Als reines Ausstellungsgebäude. So alt und ehrwürdig es von außen auch wirken mochte, innen war es luftig, hell und vor allem modern. Nach neuesten pädagogischen Prinzipien konzipiert, führte die Ausstellung den Besucher von der frühen Menschwerdung bis zum Ende des Mittelalters. Angereichert mit lebensecht wirkenden Rekonstruktionen, Landschaftsmodellen, farbigen Schautafeln und interaktiven Elementen, konnte das Museum durchaus mit vergleichbaren Ausstellungen in London oder Paris mithalten. Ein Vorzug, den vor allem Kinder zu schätzen wussten. Lachend und quiekend rannten einige von ihnen um den »Denker«, einen Vorfahren des Neandertalers, der so versonnen in die Ferne blickte, dass man ihn ungern dabei stören mochte.

Immer noch in Gedanken versunken, stieg Hannah die Treppe zum zweiten Stock empor. Dort, im Südwestflügel, lag die Abteilung Bronzezeit. Das Herzstück der Sammlung. Hier waren die schönsten Stücke versammelt, die in den letzten hundert Jahren in dieser Region gefunden worden waren. Und das waren nicht eben wenige. Schwerter, Schmuck, Kleidung und Musikinstrumente reihten sich neben Töpferwaren und Kunstgegenständen. Auch eine Replik des Sonnenwagens von Trundholm war hier ausgestellt, ein Objekt, das so schön war, dass es im museumseigenen Shop in einer Miniaturausführung bereits hundertfach verkauft worden war.

Die Himmelsscheibe von Nebra befand sich nur noch eine Armlänge von ihr entfernt. Auf eine spezielle Art beleuchtet, sah sie aus wie ein Zeuge aus einer anderen Welt. Der Fotograf, der gleichzeitig Lichtkünstler war und für die Beleuchtung des gesamten Museums verantwortlich war, hatte dem Herz der Sammlung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Streiflichter ließen jedes Detail hervortreten. Man glaubte das Metall durch eine Lupe zu sehen, so überdeutlich zeichneten sich Linien, Falten und Oberflächenstrukturen ab. Hannah war die Scheibe inzwischen so vertraut, dass sie die Unebenheiten beinahe mit den Fingern spüren konnte. Das rauhe korrodierte Kupfer, die scharfkantigen Blattgoldbeschläge, die runden Stanzlöcher. Was für ein Meisterstück handwerklicher Metallverarbeitungskunst. Was mochte dieses Objekt für ein Geheimnis bergen, dass es so anziehend auf die Menschen wirkte? Welchen tieferen Sinn hatten seine Schöpfer verfolgt?

Hannah schrak auf. Ihr Handy klingelte. Mit einem Blick auf das Display ging sie ein paar Schritte, bis sie an der Balustrade stand, von der aus man in den überdachten Innenhof blicken konnte, dann drückte sie den grünen Hörer.

»Ja? Hallo?«

»Hannah?«

Es war John.

Sie hätte nicht damit gerechnet, seine Stimme so bald wieder zu hören. Seine Stimme kam mit beträchtlicher Verzögerung und zudem ziemlich verrauscht. Sie musste sich das linke Ohr zuhalten, um ihn zu verstehen.

»Hast du einen Moment Zeit?«

Sie seufzte. »Was ist denn? Es ist gerade ein ungünstiger Moment.«

»Verstehe.« Die Verbindung wurde kurzzeitig durch ein heftiges Knacken unterbrochen, dann war seine Stimme wieder zu hören.

»… habe dir eine Mail geschickt. Das Bild solltest du dir mal ansehen … könnte für deine Arbeit ganz interessant sein.«

»Ein Bild? Was für ein Bild?«

Sie glaubte ein Lachen am anderen Ende der Leitung zu hören.

»Lass dich überraschen.«

Hannah legte auf, verließ das Museumsgebäude durch den Hintereingang und ging über den Hof. Die Labors und Werkstätten lagen in einem Neubau, der an den nordwestlichen Flügel des Museums angrenzte. Sie überquerte einen Parkplatz und ging auf einen flachen, zweistöckigen Neubau zu, zu dem das Schild Technische Labors der Universität Halle wies. Sie griff in die Brusttasche, entnahm eine Magnetkarte und zog sie durch das Lesegerät rechts neben dem Eingang. Dann durchschritt sie die elektronisch gesteuerte Sicherheitstür und betrat das Innere. An der Decke befanden sich Videokameras. Die Fenster waren mit Wärmesensoren gesichert. Kleine Öffnungen, zehn Zentimeter über dem Boden, deuteten auf lasergestützte Bewegungsmelder hin. So unscheinbar dieses Gebäude auch aussah, es war in Wahrheit ein einziger Safe. Immer noch hing der Geruch nach frischer Farbe in der Luft. Rechts vom Gang lag der große Werkraum. Hier wurden Fundstücke von Schmutz und Ablagerungen befreit, präpariert und haltbar gemacht. Hier wurden aber auch Abgüsse gemacht, die danach an Museen rund um die Welt gingen. Hannah mochte diesen Raum am liebsten. In Regalen entlang der Wände reihten sich Abdampfschalen, Erlenmeyerkolben und Titrationsgeräte jedweder Größe und Form. Daneben standen Flaschen mit Salz- und Salpetersäure. Die Mitte des Raumes wurde von sechs großen Arbeitstischen dominiert, die randvoll mit Werkstücken, Abgussformen, Bunsenbrennern und einer unüberschaubaren Anzahl von Werkzeugen bedeckt waren. Überall wurde gearbeitet. An einem Tisch wurden mittels chemischer Analyse Farbreste an einer Keramik analysiert, während am Nachbartisch eine bronzene Sichel mit Werkzeugen repariert wurde, wie sie vor dreitausend Jahren benutzt wurden. Verhaltenes Gemurmel lag in der Luft, Ausdruck der angespannten und konzentrierten Atmosphäre, die hier herrschte.

»Entschuldigung«, sagte Hannah. »Ist Bartels hier?«

Neugierig hoben einige der Mitarbeiter ihre Köpfe.

»Ist in seinem Büro«, sagte eine der Frauen und deutete über den Gang. Hannah bedankte sich und verließ das Labor.

Dr.Stefan Bartels, Chefrestaurator und Leiter der Werkstätten, war diplomierter Chemiker. Ein kleiner gedrungener Mann mittleren Alters mit einer roten großporigen Nase, die von seiner Vorliebe für Hochprozentiges zeugte. Er war ein überzeugter Junggeselle mit einigen ziemlich merkwürdigen Marotten. Trotzdem war er ein netter Kerl, ganz abgesehen davon, dass er eine Koryphäe auf seinem Gebiet war. Ein Mann mit goldenen Händen. Sein Büro lag gleich um die Ecke.

Hannah klopfte an und trat ein. Sie hörte, wie ein Wasserhahn abgestellt wurde. Dann öffnete sich die Tür. Ein Schopf grauer Haare tauchte auf.

»Hannah!« Ein Lächeln breitete sich unter der roten Nase aus.

»Wie schön, dich zu sehen. Seit wann bist du zurück?«

Er schnappte sich ein Handtuch und begann umständlich, seine Hände zu trocknen.

»Heute Morgen angekommen.«

Er sah sie über den Rand seiner Brille hinweg an. »Und? Hast du die Totenruhe der Ägypter mit deinen Fragen gestört?«

»Mir ist leider kein einbalsamierter Pharao begegnet, wenn du das meinst.«

Bartels wartete einen Moment, dann fragte er: »Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Sag schon: Wie ist es gelaufen?«

Sie suchte nach den richtigen Worten, fand sie aber nicht.

Bartels nickte. »So schlecht also.«

Hannah entgegnete mit einem Schulterzucken: »Nein, es ist halb so wild. Der Flug steckt mir noch in den Knochen.«

Der Chemiker blickte sie tadelnd an. »Mein Schatz, du redest, als wärst du um die halbe Welt gejettet. Kairo ist gerade mal drei Flugstunden von hier entfernt, mit einem Zeitunterschied von einer Stunde. Ein Jetlag kann es also nicht sein. Was ist passiert?«

Hannah überlegte kurz, ob sie Bartels ihr Herz ausschütten sollte, entschied sich dann aber, sich zurückzuhalten. Bevor sie anderen von ihrem Problem erzählte, musste sie erst mal versuchen, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Bartels, der sensibel genug war, um zu bemerken, dass ihr der Sinn nicht nach Plauderei stand, wechselte das Thema. »Du bist etwas blass um die Nase«, sagte er. »Scheint der Kreislauf zu sein. Vielleicht versuchst du es mal mit Sport. Dreimal in der Woche zehn Kilometer laufen, und du bleibst ewig jung. Außerdem hilft es, Stress abzubauen und persönliche Probleme besser zu verarbeiten – habe ich mir sagen lassen.«

Jetzt konnte Hannah sogar wieder lächeln. Bartels war bekennender Nichtsportler. Er rauchte, und es war kein Geheimnis, dass er gern und reichlich dem Alkohol zusprach. Seine ganze knittrige Erscheinung zeugte von einem höchst ungesunden Lebenswandel.

»Schieß los«, sagte er. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich müsste mal kurz eine Mail abrufen. Darf ich an deinen Rechner?«

»Bitte …« Er wies auf seinen Stuhl.

Hannah zog ihre Jacke aus, hängte sie über die Lehne und setzte sich. Dann loggte sie sich in ihren E-Mail-Account ein. Johns Mail stand an oberster Stelle. Das Datenpaket war knappe drei Megabyte groß.

»Was Interessantes?« Bartels’ rote Wange war nur Zentimeter von ihrer entfernt. Der schwache Geruch von Alkohol wehte ihr um die Nase. »Kann ich noch nicht sagen. Irgendetwas mit der Himmelsscheibe.«

»Aha. Na ja, ich werde mal wieder rübergehen und mich um meine Studenten kümmern. Es behagt mir nicht, sie so lange allein zu lassen. Außerdem ist da gerade eine verdammt hübsche Gastdozentin von der Uni Tübingen. Ich glaube, da werde ich mal mein Glück versuchen. Lass den Rechner einfach laufen, wenn du fertig bist.«

Hannah wartete, bis er draußen war, ehe sie sich der Mail widmete. Bartels war wirklich ein netter Kerl, aber im Moment war sie lieber allein. John hatte ihr die Nachricht ohne jeden Kommentar geschickt. Sie bestand aus einer einzigen Bilddatei. Hoffentlich war es kein Erinnerungsfoto vom Tempel der Hatschepsut. Wie denn auch, sie hatte keine Kamera bei ihm bemerkt.

Sie öffnete die Datei. Verwundert beobachtete sie, wie sich das Bild Zeile für Zeile aufbaute. Es war eine Satellitenaufnahme. Vermutlich mit einem Programm wie Google Earth erstellt. Der Ausschnitt einer Landschaft im Maßstab eins zu fünfzigtausend. Der Harz. Hannah runzelte die Stirn. Wenn das ein Scherz sein sollte, so war es kein guter. Warum schickte John ihr eine Karte von einer Gegend, die direkt vor ihrer eigenen Haustür lag? Der Harz war nur knappe hundert Kilometer entfernt. Was sollte das? Es waren keine Besonderheiten hervorgehoben – nichts, was darauf hindeutete, was er ihr zu sagen versuchte. Warum hatte er ihr nicht wenigstens ein paar Zeilen geschrieben?

Ratlos blickte sie auf die Ebenenfunktion des Programms. Plötzlich bemerkte sie, dass es noch eine zweite Bildebene gab. Sie hatte sie nur deshalb nicht erkannt, weil sie auf transparent geschaltet worden war. Hannah klickte auf einen Schieberegler und änderte die Deckkraft. Ein Foto der Himmelsscheibe erschien. Zweifelsfrei das Foto, das sie ihm geschickt hatte. Er hatte die Aufnahme passgerecht über den Kartenausschnitt gelegt. So weit, so gut. Sie zog den Regler erst nach links, bis die Karte von der Scheibe restlos verdeckt wurde, dann wieder nach rechts. Die Scheibe verblasste, und die Karte tauchte wieder auf. Ratlos wiederholte Hannah den Vorgang. Sie begriff immer noch nicht, worauf er eigentlich hinauswollte. Ihr Blick fiel auf die Plejaden. John hatte die Scheibe so über die Karte gelegt, dass sich das Siebengestirn mit der höchsten Erhebung des Harzes, dem Brocken, deckte.

Sterne … Erhebungen?

»Das ist es«, flüsterte Hannah. Noch einmal zog sie den Regler. Jedes der Goldplättchen auf der Scheibe deckte sich mit einer Erhebung des Harzes, einem Berg, einem Hügel oder einem Buckel. Zunächst hielt sie das für eine optische Täuschung, doch als sie den Vorgang wiederholte, war sie sich sicher. Jedem der kleinen Goldplättchen auf der Scheibe entsprach ein Berg – beziehungsweise ein Hügel – auf dem Satellitenbild.

»Du meine Güte«, flüsterte sie. »Wie genial ist das denn?«

Es war, als wäre die Scheibe eine Art Karte, eine Luftbildaufnahme des Harzes, mit dem Brocken als zentralem Element. Ein paarmal noch zog sie den Regler hin und her, so begeistert war sie von dieser ungewöhnlichen Bilddatei. Doch nach einer Weile meldete sich der Verstand wieder zu Wort. So faszinierend die Idee auch sein mochte, sie war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Wie hätten die Bewohner dieser Gegend vor viertausend Jahren Luftbildaufnahmen anfertigen sollen? Völlig ausgeschlossen. Blieb natürlich noch die Möglichkeit, dass sie das Land mittels Triangulation vermessen hätten. Aber waren die damaligen Menschen dazu überhaupt in der Lage gewesen? Immerhin ging es dabei um die großräumige Vermessung der Erdoberfläche mittels Winkelberechnung. Und dann noch mit solcher Präzision? Man durfte nicht vergessen, die Gegend war damals dicht bewaldet gewesen. Selbst auf Hügeln dürfte kaum genügend Fernsicht geherrscht haben, um präzise Landvermessung zu betreiben. Dann war die Übereinstimmung der Sterne mit den Hügeln also nur ein Zufall? Fünfundzwanzig Sterne und die Plejaden als sechsundzwanzigstes Element? Ein ziemlich großer Zufall.

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