Kitabı oku: «NachtTaxi», sayfa 3
Filmreife Szene
Eine Menschentraube steht vor einem Chinarestaurant, die Asiaten diskutieren laut miteinander und gestikulieren wild dabei. Ich nähere mich im Schritttempo.
Als eine junge Asiatin mein Taxi sieht, löst sie sich sofort von der Gruppe, kommt zu mir herüber und öffnet die Beifahrertür. Sie bleibt aber draußen stehen und spricht erregt mit den anderen, die ein Stück näher an mein Taxi herangerückt sind. Ich kann kein Wort verstehen, sie sprechen chinesisch für mich. Der Lautstärkepegel nimmt stetig zu, ein heftiger Streit ist im Gange. Zeitweise schreien alle Beteiligten durcheinander. Ich warte mindestens fünf Minuten, doch der Disput scheint kein Ende zu nehmen. Das Mädchen macht keine Anstalten, sich ins Taxi zu setzen, während sie zur Menge gewandt immer verzweifelter spitze Laute hervorstößt.
Plötzlich springt sie blitzartig auf den Sitz, schlägt die Tür zu und sagt aufgeregt: »Bitte schnell, Türen zu machen! Fahren Sie!« Während ihrer Worte kommt es neben meinem Taxi zu einem Tumult, irgendjemand wird von den anderen zurückgehalten. Ich suche nach dem Knopf für die Zentralverriegelung, kann ihn aber nicht finden. Dieses ältere Mercedes-Modell besitzt anscheinend gar keinen.
Als ich anfahre, reißt jemand aus der Menge die Wagentür hinten rechts auf. Meine Beifahrerin schreit laut auf: »Neiiiinnn! Fahren Sie, schnell, schnell!« Die Verzweiflung der jungen Frau veranlasst mich zu einem Kick down, die alte Mercedesautomatik kommt aber nicht in die Gänge. Der junge Mann streckt bereits einen Fuß ins Taxi. Die Angst des Mädchens überträgt sich auf mich. Ich fühle mich plötzlich selbst in Gefahr und gebe ohne Rücksicht auf Verluste weiter Vollgas, ich will ihn abschütteln. Der Mann greift mit einer Hand an die halb geöffnete Tür, mit der anderen klammert er sich an den Türrahmen, eines seiner Beine hat er schon im Auto untergebracht, mit dem anderen hüpft er auf dem Asphalt hinterher. Mit letzter Kraft hechtet er auf die Rückbank. Ich stoppe.
Die anderen Asiaten rücken nach und der Streit geht munter weiter. Das Mädchen schreit nun im Auto mit vermutlich ihrem Freund auf der Rückbank. Sie scheint vor ihm eine panische Angst zu haben. Nach einer Weile fleht sie mich mit weinerlicher Stimme an: »Bitte, helfen Sie mir!«
»Soll ich die Polizei über Funk rufen?«, frage ich.
Die Diskussion setzt sich fort, ohne dass ich eine Antwort bekomme. Erst als ich die Frage zum dritten Mal stelle, ringt sich die junge Asiatin ein »Ja, Polizei« ab.
Während ich drohend meine Hand über die Funktaste halte und auf einen Moment warte, in dem der Funkverkehr etwas nachlässt, beruhigen sich alle Beteiligten etwas. Schließlich sagen alle einmütig: »Doch keine Polizei.«
Das Mädchen spricht mit dem jungen Mann auf der Rückbank. Plötzlich wird es ganz still und der junge Mann bringt leise mit leicht gesenktem Haupt einige Worte mühsam hervor. Nach einer lautstarken Erwiderung des Mädchens wiederholt er noch einmal lauter und deutlicher seine zuvor artikulierten Laute. Ich bin mir sicher, dass sich ihr Partner entschuldigen oder irgendein Versprechen abgeben muss, ohne dass ich auch nur den Sinn eines einzigen Wortes erahnen kann. Dann steigen beide wieder aus. Der Mann hat sein Ziel erreicht.
Auf der Flucht
Aus dem Halbdunkel stürzt ein Mann mit schräg nach oben gestrecktem Arm hervor und läuft fast vor meinen Wagen. Ich mache eine Vollbremsung und komme gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Der Mann schlurft um die Kühlerhaube herum und steigt ein.
»Zum Glück habe ich Sie gesehen«, sage ich, »das war ganz schön knapp«. Der Mann zeigt keine Reaktion, aber mir steckt der Schreck noch in den Gliedern.
»Da haben Sie Glück gehabt, dass ich zufällig vorbeigekommen bin. Um diese nachtschlafene Zeit können Sie hier in Buchholz lange auf ein freies Taxi warten, oder haben Sie eines bestellt?«
»Nein, ich habe keines bekommen«, sagt der Mann monoton.
Ich bin irritiert: Was soll das bedeuten? Entweder er hat bestellt oder nicht. Jetzt bemerke ich erst, dass er nur im Pullover unterwegs ist und das bei fünf Grad Außentemperatur. Wir fahren zunächst schweigend Richtung Zentrum.
»Können Sie nicht das Radio anmachen?«, unterbricht mein Beifahrer die Stille. Nun bewegen wir uns mit Musik und weiterhin ohne Gespräch fort.
»Ich bin psychisch krank«, sagt mein Fahrgast plötzlich, »ich bin gerade aus der Medizinischen Hochschule ausgebrochen. Ich habe dort jemanden niedergeschlagen, der wollte mich nicht gehen lassen.« Nach kurzer Pause fügt er noch an: »Manche Leute haben ja was gegen psychisch Kranke!?« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er mich dabei prüfend anguckt.
»Ich finde nicht, dass sie ausgegrenzt werden sollten«, sage ich sicherheitshalber.
»Ich habe fünf Polizisten auf einmal verprügelt.«
»Wirklich?«, lache ich.
»Glauben Sie mir etwa nicht?«, fragt er mit einem drohenden Unterton.
»Doch, doch«, versuche ich ihn zu beschwichtigen, »ich finde es nur gut. Das würde ich auch manchmal gern machen.«
»Wenn mir niemand etwas will, bin ich ruhig, aber sonst werde ich böse. Ich war früher einmal Boxer.«
Damit gibt er mir unmissverständlich zu verstehen, dass mir ja nicht einfallen sollte, die Polizei zu benachrichtigen. Er spricht mit etwas starrem Blick und steifer Körperhaltung immer nach vorn gewendet. Zwischendurch regt er sich bei seinen Erzählungen etwas stärker auf, woraufhin ich versuche, ihn wieder zu beruhigen.
»Ich kann nur sagen: Das wünsche ich niemandem. Psychisch krank zu sein ist das Schlimmste. Bei mir weiß ich, wodurch die Psychose ausgelöst worden ist. Ich hatte einmal einen schweren Autounfall …«
Ich denke sofort: »Aha, wohl eine körperliche Ursache, bestimmt eine Gehirnverletzung.« Aber ich habe mich getäuscht.
»Bei dem Unfall sind eine Frau und ihr kleines Kind gestorben. Ich habe das jetzt einigermaßen verarbeitet, aber manchmal muss ich noch daran denken.« Sein Gesicht verzerrt sich und er beginnt leise zu schluchzen. »Seit drei Monaten war ich jetzt in der MHH, ich musste einfach raus.«
»Geld haben Sie aber dabei?«, frage ich.
»Natürlich, ich bin nicht doof! Manche Leute denken: ›Ach, ein Psychopath‹ und man hat keine Chance mehr. Dabei habe ich Abitur und alles gemacht.«
Gegen Ende der Fahrt fragt er mich: »Bist du psychisch krank? Du bist so hemmungslos.« Er meint ›gehemmt‹ und hat offensichtlich meine Anspannung und Angst bemerkt, aber sicherlich nicht sich selbst als Ursache vermutet.
Am Steintor bezahlt er mit einem Fünfziger, den er womöglich geklaut hat, vergewissert sich noch mal, dass ich keinesfalls die Polizei rufe und verschwindet im Rotlichtviertel. Ich teile es trotzdem sofort dem Funker mit. »Na dann werde ich mal bei der MHH anrufen und fragen, ob dort jemand fehlt«, ist sein lapidarer Kommentar.
Lost in Hildesheim
An einem ruhigen Samstagnachmittag bekomme ich einen Auftrag von der Polizei in der Herschelstraße. Eine Polizistin empfängt mich. »Hier ist ein Herr, der muss nach Hildesheim.«
Meine Herzfrequenz erhöht sich aus Freude über die weite Fahrt. Meistens trudeln die guten Touren ein, wenn man gar nicht auf sie angewiesen ist. Diesmal ist aber sogar der Zeitpunkt ideal, denn es gibt momentan kaum Aufträge.
»Er hat sich jetzt beruhigt, Sie brauchen keine Angst zu haben«, fährt die Polizistin fort. »Er ist aus einer Betreuungsanstalt für geistig Behinderte abgehauen und mit dem Zug nach Hannover gekommen – ohne Geld und Fahrkarte. So ist er schließlich hier gelandet.«
Ohne auf irgendeinen Zettel zu gucken, teilt sie mir mit: »Er muss ins Krugfeld … 12.« Ich frage noch mal nach: »Krugfeld, ja?«. Nach der wie selbstverständlich vorgetragenen Mitteilung der Beamtin denke ich, dass es sich um eine bekannte Adresse in Hildesheim handeln müsse. »Wir haben im Heim angerufen, die Fahrt wird dort bezahlt.« Währenddessen luge ich gespannt durch die Glastür, hinter der ich einen Polizisten auf einen mittelgroßen Mann von kräftiger Statur einreden sehe. Der Mann lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand, die Hände hat er hinter seinem Gesäß verschränkt. Er wirkt nervös. Ein paar Minuten später geleitet ihn der Polizist in den Vorraum, in dem ich stehe. Dort wird er mir als mein neuer Fahrgast vorgestellt. Man sieht ihm die geistige Behinderung nicht an – bis auf leichte Anomalien in den Körperbewegungen.
Wir gehen zu meinem Wagen und ich lasse ihn auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Bevor wir losfahren krame ich meinen Großraumplan hervor, um meine Zieladresse zu suchen. Unter »Krug« ist in Hildesheim aber nur eine Krugstraße verzeichnet und kein Krugfeld. Da es aber überhaupt nichts anderes mit »Krug« gibt, schlussfolgere ich, dass das die richtige Straße sein muss. Etwas zu denken gibt mir allerdings, dass die Straße auf dem Plan sehr kurz ist und in einem etwas abgelegenen Dorf – Sorsum – liegt, das gerade noch so zu Hildesheim zählt. Zur Sicherheit frage ich meinen Fahrgast, ob Hildesheim-Sorsum richtig ist. Er überlegt eine Weile, sagt dann aber: »Ja.«
»Sorsum ist richtig?«, vergewissere ich mich ein zweites Mal.
»Ja. Sorsum.«
Mir ist klar, dass ich auf seine Bestätigung womöglich nicht viel geben kann. Aber ich will ihm glauben, um nicht noch einmal mit ihm zurück zur Polizei gehen zu müssen. Ich kann ihn nicht allein im Wagen sitzen lassen – vielleicht ist er bei meiner Rückkehr verschwunden. Ich beruhige mich damit, dass er eigentlich ganz normal wirkt. Während der Fahrt versuche ich immer wieder, eine Konversation in Gang zu bringen. Dies scheitert jedoch an meinem Beifahrer, der nichts erzählen kann. Er antwortet meist nur mit ja oder nein. Über die Schnellstraße und Autobahn erreichen wir Hildesheim nach nur fünfundzwanzig Minuten.
Am Ortseingang frage ich noch mal: »Wir fahren jetzt also nach Sorsum?«.
Mit »Ja, Sorsum«, bleibt er bei seiner Aussage, der ich nun kaum noch glauben kann. Zu deutlich sind die geistigen Defizite, die ich bei meinem Anvertrauten ausgemacht habe.
Ich schlage mich mühsam durch die Stadt und nutze jede rote Ampel, um den Stadtplan zu studieren. Nach einem längeren Umweg erreichen wir endlich Sorsum. Meine Hoffnung, dass doch alles seine Richtigkeit haben wird, entpuppt sich nun endgültig als reines Wunschdenken. In Sorsum in der Krugstraße ist die Hausnummer, die ich suche, nicht auffindbar und auch kein Gebäude, das einem Behindertenheim ähnelt. Langsam wird mir bewusst, in welch misslicher Lage ich mich befinde. Ich bin mit einem hilflosen Passagier an einem mir völlig unbekannten Ort und weder mein Fahrgast noch ich haben die leiseste Ahnung wohin wir müssen. Lost in Hildesheim!
In meiner Not steuere ich den einzigen in Sichtweite befindlichen größeren Gebäudekomplex an. Es ist zwar ein anderer Straßenname, aber es gibt wenigstens die richtige Hausnummer! Ich steige mit meinem »Patienten« aus und wir versuchen, Zugang zu dem Gebäude zu bekommen. Es wird langsam dunkel. Die Türen sind verschlossen. Nach einigen vergeblichen Versuchen finden wir doch einen Zugang. Aber drinnen ist niemand zu sehen. Wir starren hilflos in die leeren Gänge bis irgendwann eine Nachtschwester auftaucht. Sie kann uns jedoch auch nicht weiterhelfen. Wir sind eindeutig falsch, nämlich in einem Altenheim des Diakonischen Werkes. Also marschieren wir wieder zurück zum Taxi. Ich frage meinen Gast, ob er nicht einen Ausweis mit Adresse hat, was er verneint. Mein bis jetzt unkomplizierter Fahrgast wird nun langsam ungeduldig. Er bekommt auch mit, dass alles nicht zum Besten steht. Immer häufiger versetzt er seinen Oberkörper in eine vor und zurück schwingende Bewegung. »Ich bekomme langsam Hunger!«, teilt er mir bedrohlich mit. Zu der ausweglosen Situation kommt nun auch noch die neben mir sitzende Zeitbombe. Ich kann vor Aufregung nicht klar denken. Von wem kann ich erfahren, wohin ich meinen Mitfahrer bringen muss? Nur von der Polizeidienststelle in Hannover. Aber ich bin weit außerhalb des Funkempfangs der Zentrale. Also bleibt nur das Handy. Immer wenn man die Dinger dringend braucht, ist der Akku natürlich so gut wie leer. So auch diesmal. Ich rufe unter regelmäßigem Akkupiepen und »Ich habe Hunger« meine Zentrale an und bitte den Funker, die Telefonnummer der Polizeidienststelle in der Herschelstraße herauszusuchen. »Okay. Ich rufe sie dann gleich zurück«, erwidert mein Gesprächspartner aus der Taxizentrale. Meine Gebete, dass der Akku wenigstens noch den Rückruf durchhält, wurden erhört, und ich bin nach ein paar Minuten im Besitz der rettenden Telefonnummer. Nun zwinge ich mein Mobilfunkgerät, die letzten Energiereserven für den Anruf bei der Polizei zu mobilisieren. Nach Schilderung meiner Situation und meines Anliegens bekommen meine Hoffnungen einen Dämpfer. »Ja, ich erinnere mich an den jungen Mann. Aber die Kollegin, die ihn vorhin aufgenommen hat, hat leider schon Feierabend. Ich gucke mal, ob ich irgendetwas in den Akten finde …«, erklärt mir die freundliche Stimme am Apparat. Ich kann nur nicht mehr lange auf die Antwort warten. Piep … Piep. Jeden Moment muss mein Handy seinen Betrieb einstellen. Ich warte. Piep … »Ich habe jetzt wirklich Hunger!« … Piep … Die Zeit scheint sich derart zu dehnen, dass mir eine Minute wie eine Ewigkeit vorkommt.
Endlich meldet sich mein Gesprächspartner zurück: »Ich habe die Adresse gefunden: Im Krugfeld 12.« Ich kann mich nicht mehr für die Auskunft bedanken: Unmittelbar nachdem ich die richtige Adresse bekommen habe, schaltet sich mein Mobiltelefon ab.
Damit erklärt sich alles: Im Straßenverzeichnis kann man die Straße nur unter »I« wie »Im« finden. Da mir aber die unscheinbare Präposition vorenthalten worden ist, konnte ich unmöglich auf das »Krugfeld« stoßen.
Nun müssen wir im Dunkeln in den Stadtteil Himmelsthür zurückfahren, den wir schon vor über einer Stunde durchquert haben. Die Stimme meines Nachbarn wird energischer und mit dem Wippen seines Oberkörpers macht er kaum noch eine Pause. Kurz vor »Im Krugfeld« kommen wir an einen kleinen Bahnübergang, bei dem sich just in dem Moment die Schranken schließen, als wir die Gleise überqueren wollen. Erneut übernimmt die zäh fließende Zeit das Kommando. Ich bemerke, wie mein Beifahrer versucht, Blickkontakt mit mir herzustellen. Das hat er bisher gründlich vermieden. »Ich muss jetzt essen!«. Gleich wird er handgreiflich werden, male ich mir schon aus. »Nur noch einen Moment, gleich haben wir es geschafft!«, versuche ich ihn zum wiederholten Male zu beschwichtigen. Nach einer kleinen Ewigkeit können wir die Fahrt fortsetzen. Ich kann den richtigen Straßennamen auf einem Straßenschild entziffern. Wir sind so gut wie am Ziel, nur noch die Hausnummer suchen – denke ich. Doch plötzlich ist ein Sackgassenschild aufgestellt, wir können nur noch bis zur Baustelle weiterfahren. Die Straße ist durch die Baustelle in zwei Teile getrennt und wir sind auf der falschen Seite. Wie soll ich auf die andere kommen? Es ist keine Umleitung ausgeschildert und so muss ich wieder zurück über den – diesmal zum Glück freien – Bahndamm, einen riesigen Bogen fahren und versuchen, über irgendwelche kleinen Nebenstraßen auf das »Krugfeld« zu kommen.
Ein Stadtplan auf dem Schoß, ein Hungriger neben mir, unbekannte Straßen vor mir, Verzweiflung in mir: ein Gedicht.
Die ersten Versuche scheitern kläglich an neuen Sackgassen. Aber das Ende meiner Odyssee steht kurz bevor. Ich gelange bald auf den richtigen Straßenteil und finde auch die Hausnummer. Wider Erwarten befinden wir uns vor einem freistehenden Einfamilienhaus. Wir werden schon sehnsüchtig erwartet. Vier geistig Behinderte hüpfen vor Freude wild herum und rufen: »Da ist er! Da ist er endlich!« Der nette Betreuer der kleinen Wohngemeinschaft bittet mich herein und zahlt – nach kurzer Zusammenfassung meiner Odyssee – anstandslos die hohe Rechnung von 68 Euro, bei direktem Weg wären es nur ungefähr 45 Euro gewesen.
Im Wahn
Ich stehe in Gedanken versunken vor einer roten Ampel, da wird blitzschnell meine Beifahrertür aufgerissen und ein Mann springt auf den Sitz.
»Ich muss schnell zum Bahnhof«, sagt er schnaufend, »wie viel kostet es bis nach Braunschweig?«
»Mit dem Taxi?«, frage ich zurück. »Ja.«
»So um die achtzig Euro.«
Wenn er seinen Zug verpasst, will er wohl mit dem Taxi fahren, überlege ich.
»Gut, wir fahren erst zum Bahnhof – ich brauche Wasser – und dann nach Braunschweig. Machen wir achtzig Euro fest?«
»Ja, in Ordnung«, besiegele ich unsere Abmachung. Richtige Freude aber über die weite Fahrt will sich bei mir nicht einstellen. Meine Gedanken drehen sich nur um den seltsamen Mann neben mir. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm: Er steckt in schmuddeligen Klamotten, sein Stoppelbart und die fettigen Haare werten seine äußere Erscheinung auch nicht gerade auf. Kurz, er sieht nicht so aus, als hätte er achtzig Euro übrig. Er ist ein hagerer Typ, die Konturen seines Gesichts stechen hart hervor, die Augen sind hellwach und er scheint zu allem entschlossen – eigentlich das Musterbeispiel eines Schurken.
»Bitte fahren Sie«, unterbricht er meine beunruhigenden Gedanken, »schnell, ich habe meine Tropfen vergessen!«
»Es tut mir leid, ich kann die Ampel auch nicht schneller auf Grün springen lassen«, entgegne ich. Wir stehen immer noch an der Kreuzung, an der er zugesprungen ist. Der Ampel ist es egal, dass es 1.30 Uhr mitten in der Nacht ist und nur wenige Fahrzeuge auf den Straßen sind – sie zieht knallhart ihre langen Signalphasen durch. Mein Fahrgast scheint es indessen kaum noch auf seinem Sitz auszuhalten. Seine zunehmende Nervosität beunruhigt mich jetzt am meisten.
»Nun fahren Sie doch! Ich bitte Sie!«, fleht er mich an, »ich kriege nur ganz schlecht Luft, schnell!« Seine Stimme klingt trotz seiner Aufregung sanft und gutmütig – ein auffälliger Widerspruch zu seiner restlichen Erscheinung. Plötzlich holt er eine kleine Plastiktüte hervor und hält sie sich vor den Mund. Ich öffne das Beifahrerfenster, um frische Luft hereinzulassen. »Nein, nein!«, ruft er sofort aufgeschreckt und ich schließe das Fenster wieder. Endlich springt die Ampel um und ich gebe Vollgas. Zum Glück liegt der Bahnhof nur einen Kilometer entfernt. Die Panik meines Beifahrers beruhigt mich paradoxerweise. Sie scheint mir ein Indiz für dessen Harmlosigkeit zu sein. Er hat bestimmt nur ein gesundheitliches Problem. Nach kurzer Zeit erreichen wir unser erstes Ziel. Er drückt mir ein paar Münzen in die Hand und sagt: »Als kleine Anzahlung.« Dann hüpft er aus dem Taxi und rennt in die Bahnhofspromenade. Schon nach zwei Minuten kommt er wieder angehetzt, steigt ein und sagt: »Wir müssen zu einer Tankstelle, hier hat alles zu.« Ich fahre so schnell es geht in Richtung Autobahn.
»Bitte schneller, ich brauche etwas zu trinken!«, fängt er wieder an zu flehen. Jeder noch so kurze Aufenthalt ist ihm eine große Qual. »Ich habe Panikzustände! Ich hyperventiliere. Sie wissen was das ist? So schlimm war es noch nie«, fügt er hinzu. Er nimmt erneut seine Plastiktüte vor den Mund und atmet durch sie ein und aus.
»Kann es auch Orangensaft sein?«, frage ich ihn, »dann könnte ich Ihnen meinen geben«, biete ich an, ohne seine Antwort abzuwarten. Nach kurzer Denkpause antwortet der Mann: »Nein, ich brauche ein paar Bier.«
Nun kommen meine Zweifel zurück. Was für eine Krankheit soll das denn sein? Vielleicht hat er ja Entzugserscheinungen und braucht deshalb Alkohol. Noch in Zentrumsnähe muss ich an einem Zebrastreifen stoppen. Eine größere Menschenmenge überquert die Straße, mehr nach- als nebeneinander. Es ist »Tanz in den Mai«, so dass auch zu dieser nächtlichen Stunde noch viele auf den Beinen sind. Immer wenn sich eine kleine Lücke im Fußgängerstrom auftut, treten wie selbstverständlich weitere Passanten auf die Straße. Ich habe das Gefühl, wenn ich mich zwischen sie drängte, würde ich das unsichtbare Band zwischen den Gruppenmitgliedern zertrennen. Ich sehe keine Möglichkeit weiterzufahren, bevor nicht der letzte Nachzügler den Fahrdamm passiert hat.
»Das dauert mir zu lange«, sagt der Mann, »ich gehe schnell in die Kneipe da drüben.« Er steckt mir zehn Euro zu – etwas mehr als bereits auf dem Taxameter steht – und verlässt fluchtartig mein Taxi. Ich liebäugele damit, einfach abzuhauen. Ich habe ja bis jetzt keinen Verlust zu beklagen und wäre die Probleme mit einem Schlag los. Der panische, kranke Mann, der mir Rätsel aufgibt und mich zu Geschwindigkeitsübertretungen und Rotlichtverstößen animiert, könnte der Vergangenheit angehören. Aber die Aussicht auf das große Geld lässt mich am Straßenrand verharren. Ich sehe durch die breite Glasfront der Gaststätte, wie er ein paar Worte mit dem Wirt wechselt und dann direkt zur Toilette geht. Kurz darauf huscht er schon wieder zum Ausgang. Ohne ein Bier getrunken zu haben, kommt er zurück.
»Wollen Sie nun noch zur Tankstelle?«, frage ich nach.
»Ja«, sagt der Mann geradezu empört über die dumme Frage, »fahren Sie so schnell wie möglich dorthin.«
Leider gibt es in Hannover viele Ampeln und die meisten zeigen Rot, wenn man sie erreicht. Daher wiederholt sich das immer gleiche Spiel. Mein Fahrgast beschwört mich: »Nun fahren Sie doch, schnell, ich bitte Sie!«, und ich antworte: »Es tut mir leid, aber ich kann bei Rot nicht fahren, dann bin ich womöglich meinen Führerschein los.«
»Ich merke schon, dass meine Atmung schwächer wird«, erhöht mein Beifahrer den Druck, »wenn ich umkippe, fahren Sie mich bitte sofort ins nächste Krankenhaus!«
»Soll ich Sie nicht lieber gleich dorthin bringen?«, frage ich, »bis Braunschweig dauert es mindestens noch eine halbe Stunde, vielleicht halten Sie nicht mehr so lange durch.«
Der Hauch eines Zweifels huscht über sein Gesicht, aber er sagt sich selbst Mut zusprechend: »Nein, nein! Wir versuchen es.«
Wir erreichen die Tankstelle. Er kauft ein Sixpack und Traubenzucker. Die Cola, die er mir ausgeben wollte, vergisst er.
»So, und jetzt schnell nach Braunschweig!«, sagt der Mann merklich entspannter. »Ich brauche meine Tropfen, bitte fahren Sie schnell, ich gebe Ihnen auch Trinkgeld!« Er öffnet eine Bierflasche und wir fahren weiter.
»Was haben sie denn für eine Krankheit?«, frage ich.
»Ich weiß es doch nicht!«, prustet er mir verzweifelt entgegen. Das versetzt mir einen imaginären Schlag in die Magengegend: Er muss schnell nach Hause, um Tropfen einzunehmen, ohne zu wissen wogegen? Spielt er mir etwa die ganze Zeit nur etwas vor? Aber nein, so ein guter Schauspieler kann er nicht sein. Seine Angst ist echt, in seinen Augen zeigt sich wahre Verzweiflung. Kurz vor der Auffahrt zur Autobahn haben wir einen Wagen vor uns, der sich penibel an die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 50 Stundenkilometer hält.
»Überholen Sie ihn doch! Fahren Sie doch bitte schneller«, setzt mein Nachbar sofort wieder ein. Seine Verschnaufpause hat keine fünf Minuten gedauert.
»Der Wagen da vorne will etwas von uns«, sagt er, »das sehen Sie doch auch! Der ist schon die ganze Zeit hinter uns her.«
Jetzt dämmert mir, was mit meinem Fahrgast wirklich los ist. Er leidet unter Verfolgungswahn, er hat eine Psychose. Dieser scheinbar sichere Erkenntnisgewinn beruhigt mich allerdings nicht, sondern lässt in mir Angst aufsteigen. Wozu ist ein Mensch in einer psychischen Ausnahmesituation wohl so alles fähig? Ich fahre auf die Autobahn und bereue, mich nicht mit den zehn Euro begnügt zu haben. Hätte ich ihn doch in der Kneipe sitzen lassen. Nun ist es zu spät. Vielleicht bekomme ich noch nicht einmal das versprochene Geld.
»Fahren Sie schneller!«
»Ich fahre so schnell ich kann.«
»Hören Sie das auch?«, fragt er erregt, »was ist denn das?«
»Das ist der Wind«, erkläre ich, »wir haben oben auf dem Taxi so einen komischen Aufbau für die Werbung. Wenn man schneller fährt, pfeift der Wind da oben ganz schön.«
Die nächsten Minuten bleibt die Gemütsverfassung meines Gastes unverändert angespannt, aber wenigstens verschlechtert sie sich nicht. Für mich völlig überraschend hat er dann plötzlich Muße für einen Smalltalk.
»Seit wann fahren Sie denn Taxi?«
»Heute schon seit 17 Uhr.«
»Das lohnt sich heute?!«
Ich zögere mit der Antwort. Will er mich jetzt ausfragen, ob ich viel Geld in meiner Kasse habe, weil »Tanz in den Mai« ist?
»Wie meinen Sie das?«
»Das ist doch bestimmt eine gute Fahrt für Sie.«
»Ach so, ja das ist natürlich eine sehr gute Fahrt für mich«, atme ich auf, »meine mit Abstand weiteste Tour heute«, schiebe ich noch nach, damit er nicht auf den Gedanken kommt, ich hätte schon viel eingenommen. Ich bin verunsichert, dass er zwischendurch so normal erscheint. Plant er womöglich doch, mir mein Geld abzunehmen? Plötzlich beginnt er auf seinem Sitz herumzurutschen und seinen linken Arm in mein Sichtfeld zu halten, so dass ich erschrecke. Ich gucke zu ihm hinüber und bemerke, dass er nur versucht, seine Jacke auszuziehen. Er stellt sich dabei so ungeschickt an, dass er eine offene Bierflasche umkippt, die er im Fußraum abgestellt hat.
»Können Sie das Dextroenergen für mich aufmachen?«, fragt er, als er sich seiner Jacke entledigt hat, »Ich schaffe es nicht; meine Finger zittern zu sehr.«
Ich rase mit 180 Stundenkilometern über den Asphalt und fingere mit einer Hand am Traubenzucker herum. Da ich zum Öffnen aber beide Hände benötige, lenke ich kurzzeitig mit einem Knie.
Immer wieder guckt sich mein Fahrgast hektisch um.
»Der Wagen hinter uns verfolgt uns schon die ganze Zeit!«
»Bestimmt nicht. Den habe ich gerade erst überholt.«
»Gucken Sie doch mal nach hinten! Sind sie sicher?«
»Ja, hundertprozentig.« Egal was ich sage, er glaubt es nicht. Er ist wie besessen davon, dass wir verfolgt werden, obwohl wir alle Autos schnell überholen und dann weit hinter uns lassen.
»An der nächsten Tankstelle fahren Sie bitte raus!«
»Wir sind aber spätestens in zehn Minuten in Braunschweig.«
»Ich muss trotzdem noch was holen, es geht nicht anders, glauben Sie mir!«
Der Rasthof »Zweidorfer Holz« ist schon angezeigt und wir erreichen ihn eine Minute später. Unaufgefordert gibt er mir die nächste Ratenzahlung: fünfzig Euro. Somit habe ich insgesamt genau das, was bis hierher auf der Uhr steht.
Er steigt aus und erneut überlege ich, einfach abzuhauen. Doch wie soll der arme Kerl dann von hier wegkommen? Außerdem kann ich sowieso erst in Braunschweig von der Autobahn herunter. Wenn er aber gar kein armer Kerl ist, was dann? Er ist mir noch genauso unheimlich wie zu Beginn unserer Fahrt.
Wie ein aufgescheuchtes Huhn fegt er durch den Tankstellensupermarkt. Er flitzt mehrmals quer durch den Verkaufsraum. Diesmal kommt er mit einem Flachmann zurück.
»Jetzt haben wir es gleich geschafft«, spreche ich mir und ihm Mut zu.
»Wie viel bekommen sie noch?«, fragt mein Beifahrer.
»Noch zwanzig Euro.«
»Ich gebe Ihnen fünf Euro Trinkgeld; also kriegen Sie noch fünfundzwanzig Euro von mir.«
»Vielen Dank!«, sage ich schon einmal im Voraus.
Ich bin etwas erleichtert, als wir die Autobahn verlassen. Plötzlich klingelt mein Handy.
»Was ist das? Hören Sie das?«
»Ja, das ist nur mein Handy.« Ich stelle es einfach aus.
»Gehen Sie ruhig ran. Halten Sie bitte mal hier gleich rechts!«
Wir sind erst am Stadtrand, wo es kaum Bebauung gibt. Ich halte und rechne mit dem Schlimmsten. Der Mann wirft jedoch nur allen Müll aus dem Wagen, der sich zu seinen Füßen angesammelt hat – inklusive der restlichen vollen Bierflaschen. Dabei sehe ich erst, was für eine Sauerei er angerichtet hat.
»Ich gebe Ihnen ja noch fünfundzwanzig Euro – auch für die Umstände, die ich Ihnen gemacht habe«, besänftigt er mich.
Wir fahren weiter bis ins Zentrum. Er führt mich durch viele kleine Einbahnstraßen und weiß irgendwann selbst nicht mehr, wie wir weiterkommen können. Vermutlich ist er kein Autofahrer und denkt nur als Fußgänger. Nach mehrmaligem Im-Kreis-Fahren finden wir doch noch einen Weg durch den Irrgarten. Die Orientierung habe ich nun völlig verloren. Wir halten an einer kleinen Nebenstraße, in die wir nicht fahren dürfen.
»Ich muss nur noch jemanden holen, der muss mitkommen«, sagt er beim Aussteigen, »ich komme gleich wieder, bestimmt.« Und schon verschwindet er im Dunkel der Nacht – diesmal ohne Geld zu geben. Vielleicht hat er nicht mehr genug dabei und kommt nicht wieder. Und wenn doch: Wer weiß, wen er dann noch mitbringt? Womöglich holt er Verstärkung, um mich am Ende doch noch auszurauben? Wieder überlege ich, einfach wegzufahren und auf das Geld zu verzichten. Da nimmt mir ein Pärchen die Entscheidung ab. Die beiden jungen Leute nehmen auf der Rückbank Platz und ich fahre erleichtert los. Wenigstens habe ich noch eine Fahrt und bekomme eine Beschreibung, wie man am schnellsten auf die Autobahn nach Hannover kommt.
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