Kitabı oku: «Atemlos in Hannover», sayfa 4

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Kapitel 10

Mittwoch, 16. Mai

„Was ist denn das für eine Scheiße?!“, rutschte es Hauptkommissar Thomas Stelter heraus.

Er betrachtete das bedruckte weiße Blatt Papier auf seinem Schreibtisch, das er gerade mit Einmalhandschuhen aus dem ebenfalls weißen fensterlosen Umschlag im Format C5 gezogen hatte.

Außer Andrea Renner und Raffael Störtebecker standen die Oberkommissare Arif Kimil und Jan Schuster um ihn herum, die ebenfalls der Mordkommission Dr. Odem angehörten.

„Ach, jetzt wird’s aber irre“, kommentierte der dunkelhaarige Arif, ein mittelgroßer Mann um die vierzig mit türkischen Wurzeln, der schon jahrelang zum Kommissariat 1 gehörte.

„Das sieht nach einer Nachricht des tatsächlichen Täters aus“, kommentierte Jan, ein drahtiger Typ Mitte dreißig. „Die Formulierung auf dem Umschlag war ja schon ein kleiner Hinweis auf einen außergewöhnlichen Inhalt.“

Der verschlossene Umschlag war ganz regulär mit der Post verschickt worden und heute angekommen. Die aufgedruckte Adresse, vermutlich von einem Tintenstrahldrucker, lautete:

An die Mordkommission,

die sich mit Nadine Odem beschäftigt

Waterloostr. 9

30169 Hannover

Rechts oberhalb der Anschrift befand sich eine Automatenbriefmarke, die gestern mit einem Stempel des Briefzentrums Hannover entwertet worden war.

Ein Absender war nicht auf dem Umschlag vermerkt.

Thomas hatte das Kuvert vorsichtig geöffnet, das genau dieses eine in der Mitte gefaltete Blatt enthielt.

Auf die obere Blatthälfte war mit großen fetten Buchstaben ein Satz in der Schriftart Arial gedruckt worden: „Ich habe ihr den Atem genommen“.

Auf der unteren Blatthälfte dokumentierte der Verfasser unmissverständlich, um wen es ihm ging. Thomas und alle Anwesenden starrten gleichermaßen auf das gedruckte Farbfoto, welches die auf dem Bauch liegende Nadine Odem zeigte. Das Gesicht der Frau war im Profil erkennbar, wobei der Kragen der weinroten Windjacke ihren Hals verdeckte. Die Frau lag im Wald, neben ihr waren ein Kugelschreiber, ein Smartphone und eine Tupperdose mit einer kleinen Spielzeugfigur zu sehen.

„Das kann keine makabre Fotomontage sein“, äußerte Andrea mit gedämpfter Stimme. „Das ist direkt am Tatort fotografiert worden, wahrscheinlich kurz nachdem das Opfer getötet worden ist.“

„Dass jemand den Leichnam noch vor den beiden Geocachern gefunden hat und sich jetzt mit dieser geschmacklosen Nummer wichtigmachen will, kann man natürlich nicht ausschließen“, warf Arif ein.

„Das stimmt“, erklärte Raffael und hob etwas oberlehrerhaft den rechten Zeigefinger. „Aber die Chance, dass wir es hier mit einer Botschaft des Täters zu tun haben, erscheint mir sehr groß. Schließlich haben wir solche Tatortfotos nicht an die Öffentlichkeit gegeben.“

„Und was ist die Botschaft?“, grunzte Thomas.

„Der Verfasser hat Humor …“, äußerte Raffael spontan, der angesichts des irritierten Gesichtsausdruckes seiner Kollegen ergänzte: „Ich meine, er hat offenbar eine spezielle Art von schwarzem Humor. Er verknüpft in einem Wortspiel den Namen des Mordopfers, also die alte dichterische Bezeichnung für Atem, mit der vollzogenen Tötung, die Nadine Odem schließlich den Atem nimmt.“

Thomas und Arif guckten weiterhin irritiert.

„Ich bin gespannt“, meinte Andrea, „ob er dieses dürftige ‚Bekennerschreiben‘ auch an andere Stellen schickt, wie beispielsweise die Presse.“

„Wenn uns der Täter schon ein Bekennerschreiben zukommen lässt“, sagte Jan in einem gespielt klagenden Tonfall, „hätte er sich wenigstens noch die Zeit nehmen sollen, es ordnungsgemäß mit seinem Absender zu versehen.“

„Da er das aber nicht getan hat“, warf Andrea ein, „untersuchen wir eben Umschlag und Blatt auf die typischen Druckerspuren, mögliche Fingerabdrücke oder Hautpartikel.“ Ihre Stimme bekam einen optimistischen Tonfall. „Vielleicht wissen wir bald mehr über den Absender, weil der Typ der irrigen Auffassung war, dass man auf Papier keine verräterischen Spuren hinterlässt.“

Thomas zuckte mit den Schultern.

„Ich frage mich, aus welcher Motivation heraus er das Foto mit dem Einzeiler an die zuständige Mordkommission versendet“, brummte er. „Um sich aufzuspielen in dem Glauben, ihr kriegt mich doch nicht …? Ich denke, jetzt ist der richtige Moment, Mark Seifert anzurufen.“

Dr. Mark Seifert leitete als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit forensischer Erfahrung den Sozialpsychiatrischen Dienst der Region Hannover. Thomas Stelter hatte den Psychiater aufgrund seines kriminalistischen Spürsinns in den vergangenen Jahren öfters bei Mordermittlungen zur Erstellung eines psychologischen Täterprofils erfolgreich hinzugezogen.

Kapitel 11

Freitag, 18. Mai

Lara Klein las dieselben Textpassagen auf dem Computerbildschirm jetzt bereits zum dritten Mal.

Verdammt, ich muss mich endlich konzentrieren, sonst baue ich wieder Mist. Es sind diese blöden Gedanken, die mich immer wieder rausbringen.

Sie saß am Schreibtisch eines Doppelbüros ihrer zwanzig Jahre jüngeren Kollegin Romy Dudek gegenüber, die nach Beendigung eines Telefonats nahtlos wieder flüssig auf der Tastatur zu tippen begann.

Lara und Romy arbeiteten als Sachbearbeiterinnen für Eingliederungshilfe bei der Region Hannover, einem Kommunalverband besonderer Art, der neben der niedersächsischen Landeshauptstadt noch zwanzig weitere Gemeinden umfasste. Der Arbeitsplatz der beiden Frauen befand sich im sechsstöckigen Haus der Region am Rand der Südstadt von Hannover. Es gehörte zu ihren Aufgaben, die Anspruchsvoraussetzungen von Menschen mit Behinderung auf Eingliederungshilfe sozialhilferechtlich zu prüfen. Dabei ging es insbesondere um die Einkommens- und Vermögensprüfung sowie die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit. Lara und Romy forderten fachärztliche Stellungnahmen an, arbeiteten regelmäßig mit Ämtern und Einrichtungen zusammen und verfassten am Ende Bescheide mit eigenem Ermessensspielraum.

So viele Vorgänge, die täglich über meinen Schreibtisch gehen. Ich kenne nicht die Menschen, nur ihre Akten. Lara tauchte schon wieder in ihre Gedankenwelt ein. Eine Behinderung ist für manche bestimmt ein schweres Schicksal. Schon verrückt, dass ich jeden Tag Behinderte unterstütze und selbst eine schlimme Behinderung hab, die ich verschweige.

Sie versuchte sich wieder auf das Schriftstück zu konzentrieren, das ihr ein rechtlicher Betreuer per E-Mail zugeschickt hatte.

Laras Behinderung hieß Alkohol. Und der hatte sie schon vor über zehn Jahren zunehmend aus der Bahn geworfen. Alle Höhen und Tiefen dieser Abhängigkeit hatte sie bereits durchlebt.

Am Anfang war das Zeug eine willkommene Abwechslung, um den Schmerz zu betäuben. Da entschied sie noch selbst, wann sie sich zuschüttete. Belastende Themen gab es genug.

Aber nach und nach verspürte sie den Zwang, ihren Körper den ganzen Tag über mit einem Alkoholpegel zufriedenzustellen. Sie konnte das Trinken nicht mehr kontrollieren und steigerte ihren Konsum immer mehr, um quälenden Entzugserscheinungen entgegenzuwirken.

Im betrunkenen Zustand kam es zu fürchterlichen Streitereien mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Auf einmal ließ sie ihre Wut raus und beschimpfte die beiden. In dieser Phase riss der Alkohol wie eine unheilvolle Lawine sämtliche Hemmungen mit sich fort. Heute war sie froh, sich nicht mehr an alle grauenhaften Auseinandersetzungen erinnern zu können.

Damals hatte sie wiederholt versprochen, mit dem Trinken aufzuhören. Aber sie schaffte es nicht, ihre Versprechen einzuhalten, und schämte sich, wenn sie in der Wohnung und am Arbeitsplatz heimlich kleine Schnapsflaschen versteckte. Ihr ganzes Streben zielte darauf ab, so bald wie möglich den nächsten Schluck zu nehmen.

Die Behauptungen ihres Mannes, sie sei Alkoholikerin, wies sie wütend zurück. Sie leugnete jegliche Notwendigkeit, sich entgiften und suchttherapeutisch behandeln zu lassen.

Natürlich bekam ihr Arbeitgeber zuletzt mit, was mit ihr los war. Als Verwaltungsangestellte hatte sie unentschuldigt gefehlt und war wiederholt mit einer Alkoholfahne am Arbeitsplatz aufgefallen. Mehrfache Aufforderungen des Arbeitgebers, sich in Behandlung zu begeben, hatte sie in den Wind geschlagen.

Alles brach über ihr zusammen. Sie verlor ihre Arbeit, und ihr Mann ließ sich von ihr scheiden. Ihr Sohn, damals vierzehn, wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben und blieb beim Vater, dem das alleinige Sorgerecht zugesprochen wurde. Und das war nur der Anfang ihrer Talfahrt.

Lara kam allein nicht klar, übernahm zwischendurch verschiedene Tätigkeiten, trank weiter und brach mehrfach mit Filmriss in ihrer neuen Wohnung zusammen. Schließlich wurde sie mit einem Unterbringungsbeschluss zur stationären Entgiftung in die Psychiatrische Klinik der Medizinischen Hochschule eingewiesen. Es blieb nicht bei dem einen Krankenhausaufenthalt. Lara wurde über Jahre immer wieder rückfällig und landete noch mehrmals, psychisch und körperlich in schlechtem Zustand, in der MHH-Psychiatrie. Dort lernte sie Petra kennen, eine langjährige trockene Alkoholikerin, die regelmäßig auf die Station kam, um ihre Selbsthilfegruppe vorzustellen. Mit großer Überwindung schaffte es Lara, sich einzugestehen, Alkoholikerin zu sein. Sie nahm sich ein Beispiel an Petra, einer zehn Jahre älteren Frau, die nach einer katastrophalen Phase des Leugnens konsequent zu ihrer Alkoholabhängigkeit stand und durch regelmäßige Teilnahme an der Selbsthilfegruppe abstinent geblieben war.

Lara rang sich mit Petras Unterstützung dazu durch, eine stationäre Entwöhnungstherapie für Abhängige zu machen, die im Anschluss im ambulanten Rahmen in Hannover weitergeführt wurde. Während sie an den ambulanten Einzel- und Gruppengesprächen teilnahm, ging es langsam wieder bergauf.

Sie bekam letztes Jahr ihre jetzige Stelle bei der Region Hannover. Im Bewerbungsgespräch konnte sie sich als stabile und Zuverlässigkeit ausstrahlende Frau präsentieren. Dabei gestand sie ein, „lange zurückliegende und überwundene depressive Phasen“ gehabt zu haben. Die Alkoholabhängigkeit wurde in ihren Arbeitszeugnissen nie erwähnt. Lara konnte damals fast körperlich spüren, wie uneins sich das Auswahlgremium war, diese Frau mittleren Alters mit einer psychischen Störung in der Vorgeschichte einzustellen. Umso dankbarer war sie, als die Region Hannover bereit war, dieses Risiko mit ihr einzugehen und ihr eine neue berufliche Chance zu geben. Und wenn Lara in der halbjährigen Probezeit keine vernünftigen Leistungen zeigte und häufig fehlte, war sie ihre Stelle schnell wieder los. Auf keinen Fall wollte sie ihren neuen Arbeitgeber enttäuschen, der großes Vertrauen in sie gesetzt hatte. Ihre Probleme mit Alkohol hielt sie am Arbeitsplatz geheim.

Ich muss diese Gedankenketten unterbrechen und nicht ständig in die Vergangenheit abdriften, rief sich Lara im Stillen zur Ordnung, als sie merkte, dass Romy mit fragender Miene zu ihr herübersah.

„Ist was mit dir?“, fragte ihre Kollegin fürsorglich. „Ich hab schon die ganze Woche den Eindruck, dass dich etwas belastet. Geht’s um Timo …?“

„Nein, privat gibt’s keine Probleme“, schwindelte Lara. „Ich hab manchmal so Hitzewallungen, wahrscheinlich die Hormone.“

Die Andeutung, ihr könnten die ersten Auswirkungen der Wechseljahre zu schaffen machen, klang im Fall von Lara, die übernächsten Monat fünfundvierzig wurde, durchaus plausibel. Aber die hormonellen Beschwerden waren nur ausgedacht.

„Du Ärmste“, murmelte ihre Kollegin und gab sich damit zufrieden.

Romy war eine nette und lebenslustige junge Frau. Ihr hatte Lara anvertraut, dass sie dabei war, den Kontakt zu ihrem inzwischen 22-jährigen Sohn Timo wiederherzustellen. Vor ein paar Wochen hatte sich Lara von ihr überreden lassen, abends gemeinsam durch Hannover zu ziehen. Ein Abend, der Lara eine bittere und lebenswichtige Erfahrung bescherte. Völlig unbekümmert hatte Romy in einer Bar zwei Cocktails für sie beide bestellt. Lara war nach so langer Trockenheit der Meinung gewesen, es bei dem einen Glas Alkohol bewenden zu lassen. Aber auf das erste folgte das zweite und dritte, und sie stürzte ab wie früher.

Nach diesem Abend saß Lara der Schreck in allen Gliedern. Ihr war deutlich geworden, wie zerbrechlich ihre aktuelle Stabilität war. Seitdem hielt sie zu Romy Distanz und ging nicht wieder mit ihr auf Tour.

Heute ist mein Tag X. Wenn mein Plan funktioniert, ist es der erste persönliche Kontakt seit Jahren. Es hängt so viel davon ab. Mein ganzes Leben …

Sie tippte fast mechanisch einige der üblichen Formulierungen in die Tastatur. Ihre Arbeit durfte sie nicht vernachlässigen!

Für eine Mutter ist es das Schlimmste, wenn der eigene Sohn nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Ich liebe ihn doch.

Lara schaffte es nur vorübergehend, die volle Aufmerksamkeit ihrer Arbeit zu widmen. Zum Glück war heute Freitag und um 12:30 Uhr Dienstschluss.

Mit Timo und ihrem Ex-Mann Sven hatte sie sich seit Jahren nicht mehr persönlich getroffen. Zu massiv war die Ablehnung insbesondere von Timo, der seine Mutter seit der Scheidung um keinen Preis besuchen wollte. Lara wusste, dass Timo noch mit seinem Vater zusammenwohnte und inzwischen in Hannover studierte. Wenn sie versuchte, ihren Sohn anzurufen, beendete der sofort das Gespräch. Bei Sven hatte sie es immerhin vor ein paar Wochen geschafft, mit ihm ein kurzes Telefonat zu führen. Er war ablehnend, aber in den darauffolgenden Wochen hatte er sich dennoch auf weitere Anrufe von ihr eingelassen.

Ich kann Svens abweisende Haltung verstehen, nach allem, was er mit mir durchgemacht hat. Ich war damals zuletzt total ekelhaft zu ihm. Aber nach meinem schrecklichen Absturz weiß ich zu schätzen, was ich früher an ihm hatte. Ich glaube, ich würde alles dafür geben, ihm und Timo wieder näherzukommen. Wenn ich Sven zurückgewinne, schaffe ich es vielleicht auch bei Timo.

Sie brauchte einen kurzen Ortswechsel, verließ das Büro, um die Damentoilette aufzusuchen.

Über dem Waschbecken betrachtete sie kritisch das eigene Spiegelbild. Dabei strich sie mit beiden Händen ihre mittellangen rotblonden Haare zur Seite.

Wenn ich mich gut zurechtmache, wird ihm das gefallen. Vor unserer Scheidung hab ich mich zuletzt völlig gehen lassen. Die ersten Jahre nach unserer Hochzeit, als wir eine kleine Familie wurden, waren wir total glücklich miteinander. Er ist auf meine Wünsche eingegangen, war selbst so weich. Ich mochte seine anfängliche Schüchternheit, als wir uns kennenlernten. Nach unserer Trennung hatte ich mit einem Mann keine ernsthafte Beziehung mehr. Und wenn es stimmt, was Sven am Telefon erzählt hat, hat er ebenfalls momentan keine Partnerin.

Zurück im Büro brachte sie den allernotwendigsten Schriftkram zu Ende. Dann machte sie pünktlich Feierabend.

Im Supermarkt gegenüber kaufte sie noch einige Lebensmittel und Getränke ein. Eine besondere Herausforderung war der Gang mit den alkoholischen Getränken. Sie musste sich jedes Mal aktiv dagegen wehren, um nicht wie früher einfach zuzugreifen. Das Böse ist immer und überall, ging ihr spontan die Textzeile eines Schlagers ihrer Kindheit durch den Kopf.

„Mordkommission erhält Brief von Nadine Odems Mörder“, verkündete das TAGESBLATT Hannover auf seiner ersten Seite. Lara griff nach der Zeitung und las schnell die ersten Sätze des Artikels.

Der Täter schreibt der Polizei?! Unfassbar. Was geht da im Gehirn eines Menschen ab, der sinnlos einen anderen Menschen ermordet …?

Über den Inhalt des Schreibens stand nichts in dem Artikel.

Wahrscheinlich hält die Kripo das geheim.

Mit großem Interesse hatte sie jeden Tag die Berichterstattung der Presse über den Mord an der Bankerin verfolgt.

In ihrer Wohnung, die im nördlichen Teil von Hannover lag, fiel ihr Blick im Flur als Erstes auf die leeren Pappkartons, die sich schon wieder angesammelt hatten. Lauter Verpackungen ihrer Bestellungen bei diversen Online-Shops.

Alles Frustkäufe, weil ich seit Ewigkeiten ziemlich isoliert bin und fast immer alleine in meiner Bude hocke. Und als Highlight meiner Kaufwut bekomme ich zusätzlich diese sinnlosen Prämiengeschenke zugesandt.

Die einzige regelmäßige Besucherin ihrer Wohnung war Petra, die jeden Sonntagvormittag zum Frühstück kam. Für Lara ein willkommener Anreiz, ihre Wohnung nicht wie früher komplett vermüllen zu lassen. Die beiden Frauen hatten vereinbart, dass Petra immer Laras Wohnungsschlüssel mitnahm, damit sie im Zweifelsfall die Tür aufschließen konnte, wenn Lara wegen eines Alkoholrückfalls dazu nicht mehr in der Lage sein sollte. Darüber hinaus hielt Lara regelmäßigen Kontakt zur Selbsthilfegruppe.

Sven wollte sich am Telefon nicht auf ein Treffen mit mir einlassen. Es funktioniert nur, wenn ich ihn vor vollendete Tatsachen stelle. Ich hoffe, dass er mir persönlich nichts abschlagen wird. Um sechzehn Uhr ist er freitags immer zu Hause, hat er erzählt. Ich hab ihn geschickt ausgehorcht. Er ahnt nicht, dass ich heute vor seiner Tür stehe.

Laras Anspannung wuchs.

Hoffentlich krieg ich vor Aufregung keinen Durchfall. Ich tu unschuldig und sage, ich war zufällig in der Nähe und hab mir gedacht, einfach mal zu klingeln.

Sie zog sich im Badezimmer um, entschied sich für ein sportliches Outfit mit Pulli, Jacke und Sneakers. Danach nahm sie sich ausreichend Zeit für ihr Make-up.

Richtig geschminkt hab ich mich zuletzt bei meiner unsäglichen Sause mit Romy.

Mit ihrem Hyundai i10 fuhr sie zurück in die Südstadt, wo Sven mit Timo in einer Mietwohnung lebte.

Ich genieße es, mir wieder einen Kleinwagen leisten zu können und nicht mit den vollgestopften Öffis fahren zu müssen.

Sie arbeitete seit Monaten im selben Stadtteil, hatte aber dort weder ihren Mann noch ihren Sohn getroffen. Was zum einen sicherlich daran lag, dass die Südstadt eine große Fläche mit zahlreichen Wohnhäusern umfasste. Zum anderen hatte sie sich bis heute nicht getraut, sich Sven und Timo persönlich zu nähern.

Es war 16:30 Uhr.

Die Wohnung ihres Ex-Mannes befand sich im zweiten Stock eines dieser vierstöckigen Häuser, die sich zu beiden Seiten der Straße aneinanderreihten, immerhin mit Balkon und kleinem Vorgarten. Eine Grünanlage mit Spielplatz war nicht weit entfernt.

Dem Hauseingang schräg gegenüber fand sie einen Parkplatz. Svens Auto, ein schwarzer Rover Mini, stand direkt vor der Tür. Sie hatte plötzlich das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen, klammerte sich am Lenkrad ihres stehenden Fahrzeugs fest.

Was ist los mit mir? Wenn ich es jetzt nicht wage, mache ich es nie. Timo wird nicht mit mir sprechen, aber Sven. Ich werd ihn bitten, dass wir gemeinsam einen Spaziergang machen.

Ganz bewusst atmete sie langsam tief ein und aus.

Mir ist flau im Magen. Ich hätte vorher was Vernünftiges essen sollen.

Aber insgeheim hatte sie gehofft, mit Sven gemeinsam in einem der Bistros eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen.

Sie stieg aus und überquerte die Straße. Auf dem Gehweg vorm Eingang blieb sie stehen und ließ den Blick an der Hauswand nach oben bis zum zweiten Stock schweifen. In einem der Fenster hatte sich für eine Sekunde die Gardine bewegt, die Konturen einer Person waren kurz sichtbar.

Ist das Timo gewesen? Oder Sven?

Bilder überfluteten sie, verbunden mit Herzklopfen und der Panik, in diesem Moment etwas Fürchterliches loszutreten. Vor ihrem geistigen Auge erschien ihr Mann, dann ihr Sohn. Beide hatten den Mund weit aufgerissen, als würden sie schreien.

Soll ich umkehren?

Die Bilder verschwanden von einer Sekunde zur anderen.

War ja klar, dass ich Muffensausen bekomme. Aber ich ziehe es durch.

Sie ging zum Hauseingang und klingelte bei „Klein“. Als nach einer halben Minute keine Reaktion erfolgte, drückte sie den Klingelknopf zweimal hintereinander erneut.

Hat mich einer von ihnen am Fenster gesehen? Und jetzt tun sie so, als ob keiner zu Hause wäre?

Nach einem weiteren Versuch ging sie zu ihrem Wagen und fuhr weg.

*

Sven Klein mochte die Drei-Zimmer-Wohnung, in der er seit Jahren mit seinem Sohn Timo zusammenlebte. Die Südstadt bot ihm alles, was er schätzte: den Maschsee, die Eilenriede, Museen, Fitnessstudios, Biergärten und jede Menge Einkaufsmöglichkeiten.

Auf seinen Wagen, einen über zwanzig Jahre alten Rover Mini, ein britisches Exportfahrzeug mit Steuerrad links, war er als Liebhaber dieses Kult-Autos besonders stolz. Auch Timo durfte gelegentlich damit fahren, wobei diesem ein Auto mit moderner technischer Ausstattung lieber gewesen wäre.

Sven arbeitete im Fachbereich Gebäudemanagement der Stadt Hannover, war dort Teamleiter für das Sachgebiet Finanzen, Rechnungswesen und Controlling.

Die belastenden familiären Konflikte hatten Vater und Sohn fest zusammengeschweißt. Ihre gute Beziehung hatte selbst Timos Pubertät problemlos überstanden. Darin sah Sven die Erklärung, dass Timo bisher keine Anstalten machte auszuziehen. Aber spätestens, wenn er sein Studium abgeschlossen hatte, würde es so weit sein.

Das letzte längere Treffen mit Lara lag Jahre zurück. Ein paar Mal waren sie sich danach in einiger Entfernung kurz über den Weg gelaufen, in einer Stadt wie Hannover unvermeidlich.

Jetzt rief ihn Lara seit Wochen in gewissen Abständen auf dem Festnetz an. Die Telefonate wurden immer länger. Sven wollte sich auf keinen Fall mit ihr verabreden. Das hatte er Timo versprochen.

Und plötzlich kreuzte sie vor seinem Haus auf! Durch Zufall hatte er sie vom Fenster aus gerade noch rechtzeitig auf der Straße erkannt. Timo war noch in der Uni. Sven hatte gerade seine Sporttasche gepackt und wäre ihr beinahe unten in die Arme gelaufen.

Als es mehrfach klingelte, reagierte er nicht. Sie sollte glauben, dass er ausnahmsweise noch nicht zu Hause war. In ausreichendem Abstand von der Gardine konnte er beobachten, wie Lara in ihren Wagen stieg.

Sie haut ab. Schwein gehabt!

Er wartete noch eine Viertelstunde, dann verließ er die Wohnung.

Sven, sechsundvierzig, kurze dunkelblonde Haare, leicht angegraut, war schlank und wirkte körperlich fit. Er hatte sich etwas vorgenommen und wollte nicht zu spät kommen. Im Treppenhaus hörte er, wie unten die Haustür aufgeschlossen wurde. Gleich darauf kam ihm Annika Brennecke entgegen, eine ungefähr gleichaltrige Frau mit langen braunen Haaren, die im ersten Stock wohnte.

Sie blickte auf die Sporttasche in seiner Hand und fragte ihn mit spöttischem Unterton: „Na, noch was für den Körper tun, Sven?“

„Deinem scharfen Blick entgeht einfach nichts“, antwortete er ironisch. Dann sah er zu, dass er ohne ein weiteres Wort schnell an ihr vorbeihuschte.

Wenn ich ein Gespräch zulasse, verhakeln wir uns nur.

Vor vier Wochen hatten sie sich einmal hier in der Südstadt „auf ein nachbarschaftliches Getränk“ in einer Kneipe verabredet, waren anschließend im angeheiterten Zustand in ihrer Wohnung miteinander im Bett gelandet. Wobei er noch in derselben Nacht wieder gegangen war und die restlichen Stunden bis zum Morgen in seinen eigenen vier Wänden geschlafen hatte. Am nächsten Tag hatte er sich ihr gegenüber so benommen, als wäre nichts gewesen. Seitdem herrschte eine merkwürdige unausgesprochene Beziehung zwischen den beiden. Sven versuchte, ihr möglichst wenig über den Weg zu laufen. Was innerhalb desselben Hauses nicht wirklich funktionierte.

Er verließ das Haus und war erleichtert, die Begegnung mit Annika schnell hinter sich gebracht zu haben. Erfreulicherweise parkte sein Auto heute einmal direkt vorm Hauseingang. Das klappte nicht immer in der Südstadt. Schwungvoll verstaute er die Sporttasche im Kofferraum und setzte sich ans Steuer.

Bevor er losfahren konnte, öffnete jemand die Beifahrertür. Völlig überrascht drehte er den Kopf nach rechts und zuckte unwillkürlich zusammen.

Ach, du Scheiße! Heute ist wirklich nicht mein Tag.

Da stand Lara auf dem Gehweg neben dem Auto. Bevor er protestieren konnte, nahm sie bereits auf dem Beifahrersitz Platz und schloss die Tür. Sven fühlte sich ausgetrickst, hatte sofort die Vermutung, dass Lara nur ein kleines Stück mit dem Wagen weitergefahren war und sich dann vermutlich vorm Eingang des Nebenhauses versteckt hatte, um auf ihn zu warten.

Ich hatte nur meinen Wagen im Blick, hab sie gar nicht bemerkt.

„Hallo Sven“, meinte Lara mit einem verlegenen Lächeln, „ich freu mich, dich zu sehen.“

„Wo kommst du denn her?“, brummte er. „Hast du mir aufgelauert?“

„Nein, ich bin ganz zufällig hier … und da war auf einmal der Wunsch, dich persönlich zu sehen.“ Sie hatte etwas Flehendes in den Augen. „Vorhin hatte ich schon mal geklingelt, aber da warst du noch nicht zu Hause. Ich bin kurz weggefahren, hab was erledigt und mir dann überlegt, noch mal wieder zurückzugehen und mein Glück erneut zu probieren. Toll, dass es geklappt hat.“

Zufällig … ich glaub dir kein Wort, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn ich dich nicht gleich rausschmeiße, sülzt du mich wieder voll. Wehret den Anfängen!

„Unsere Telefonate haben mich in den letzten Wochen aufgebaut und mir wieder Lebensmut gegeben“, sagte sie mit anscheinend echter Begeisterung. „Danke, dass du die Gespräche nicht gleich abgebrochen und mir zugehört hast.“

Sven wollte ihr verärgert mitteilen, dass er am Telefon klar gesagt hätte, dass weder er noch Timo sie persönlich treffen möchten. Aber ihre freundlichen Worte machten es ihm jetzt unmöglich, seine Ablehnung zu formulieren.

Stattdessen murmelte er: „Ist ja schön, dass du das so siehst.“

Wenn sie gefeixt hätte, ihn überlistet zu haben, wäre es ihm leichtgefallen, ihr kontra zu geben. Aber das tat sie nicht.

„Hättest du heute Zeit für einen kleinen Spaziergang?“, fragte sie mit gesenktem Blick.

„Geht leider nicht. Ich muss zum Sport.“

„Fußball – wie früher?“

Sven hatte vor Jahren ein wenig im Verein gekickt. Es gab harmonische Zeiten, da hatten Lara und er im Fußballtrikot gemeinsam beim Public Viewing die Spiele der deutschen Fußballnationalmannschaft verfolgt. Mit dem Wort Fußball löste Lara bei ihm schlagartig positive Erinnerungen aus, wenn auch nur für Sekunden.

„Nein, Fitnessstudio“, antwortete er laut, und unterbrach selbst die sentimentalen Bilder.

„Merkt man gleich. Gut siehst du aus“, lobte sie. „Zu welchem Fitnessstudio fährst du denn?“

„Fitness for all in der Südstadt.“

„Trainiert Timo da auch?“

„Nein, der macht Hochschulsport.“

„Und du fährst jeden Tag nach Dienst ins Fitnessstudio …?“

„Ach was, meistens nur dienstags und freitags.“

Sie wickelt mich ein, ich muss sehen, dass ich hier wegkomme – ohne sie.

„Ich muss jetzt los“, sagte er mit Nachdruck. „Nach dem Training fahre ich direkt zum Stammtisch mit Arbeitskollegen.“

Er legte die rechte Hand symbolisch auf den Schalthebel. Noch machte sie keine Anstalten, den Wagen zu verlassen.

Stattdessen meinte sie: „Ich bin jetzt stabil, habe seit Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken.“

„Das mit dem Alkohol hast du mir schon am Telefon erzählt.“

„Es gab mal eine Zeit, da haben wir uns sehr geliebt …“

Er bemerkte, wie sich ihre linke Hand seiner rechten näherte, und zog die Hand rechtzeitig zurück.

„Und dann kam die Zeit“, konterte er, „da hast du mir ins Gesicht geschrien, dass du mich hasst, mich und Timo.“

„Das war nicht ich, das war der Alkohol“, beteuerte sie. „Durch unseren gemeinsamen Sohn sind wir immer miteinander verbunden.“

„Ich verspäte mich“, äußerte er unwillig, „ich würde jetzt gerne fahren.“

„Ja natürlich, entschuldige. Können wir statt heute am kommenden Wochenende spazieren gehen?“

„Am Samstag und Sonntag bin ich schon verplant.“

„Dann am Tag darauf …? Das ist Pfingstmontag.“

„Na gut, okay. Pfingstmontag. Aber nicht hier in unmittelbarer Nähe. Wegen Timo.“

Sie strahlte und schlug einen Treffpunkt am Montagnachmittag im Tiergarten in Hannover-Kirchrode vor.

Sven willigte ein und war froh, dass Lara endlich ausstieg. Mit einem gequälten Lächeln erwiderte er ihr freudiges Winken zum Abschied.

Ach, du meine Güte, dachte er sich. Wie wird das enden?!

*

Als Sven abends den Flur seiner Wohnung betrat, hörte er Geräusche aus Timos Zimmer. Sein Sohn war also zu Hause. Für Sven nicht selbstverständlich. Timo war oft bis spät in die Nacht unterwegs, mit Kommilitonen – wie er immer sagte –, „die du eh nicht kennst, Papa“. Seit Neuestem engagierte er sich für Tierrechte, obwohl er früher ein Riesenfan von Steaks und Schinkengrillern gewesen war.

Sven klopfte an die geschlossene Zimmertür. Zwar hatte Timo schon seit Längerem keine junge Frau mehr zu Besuch gehabt, aber das konnte sich womöglich schlagartig ändern. Momentan war Sven sich unsicher, ob sein Sohn momentan überhaupt eine Freundin hatte. In solchen Angelegenheiten hielt sich Timo gerne bedeckt.

Ein kurzes „Ja“ war die Reaktion auf Svens Klopfen.

Timo saß auf einem Drehstuhl am Schreibtisch, hatte einen Controller in beiden Händen und versuchte die virtuelle Autojagd auf dem Monitor für sich zu entscheiden. Auf dem Drucker neben dem Schreibtisch türmte sich ein Stapel Unterlagen, die Sven mit Timos Studium Bau- und Umweltingenieurwesen in Verbindung brachte. Das Zimmer war ansonsten praktisch eingerichtet mit einer relativ neuen Ausziehcouch, Timos altem Kleiderschrank aus der Schulzeit, einem breiten Regal mit Flachbildfernseher sowie Tisch und Stuhl.

Timo unterbrach das Videospiel, fuhr sich mit der linken Hand über die kurzen blonden Haare. Während er sich umdrehte, begrüßte er seinen Vater mit der obligatorischen Floskel: „Und, was geht ab?“

„Alles okay“, behauptete Sven.

Timo, der inzwischen ungefähr Svens Körpergröße hatte, presste skeptisch die Lippen aufeinander.

Seine Gesichtszüge erinnern mich an Lara, ging Sven durch den Kopf. Aber das mag er nicht hören.

„Wenn du so guckst, ist irgendetwas mit dir?!“, bohrte Timo.

„Nein, alles okay.“

„Ich kenn dich doch!“, ließ Timo nicht locker.

Sven rang einige Sekunden mit sich, dann sagte er: „Ich treffe mich mit ihr.“

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Yaş sınırı:
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22 aralık 2023
Hacim:
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ISBN:
9783827184146
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