Kitabı oku: «Hannover sehen und sterben»
In Erinnerung an John Lennon (1940–1980),
dessen geniale künstlerische Kreativität ich immer
als Auseinandersetzung mit seiner schwierigen
Kindheit interpretiert habe.
Der Kriminalroman spielt in der Region Hannover.
Personen und Handlung sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Geschehnissen wären rein zufällig.
Im Verlag CW Niemeyer sind bereits
folgende Bücher des Autors erschienen:
Toter Lehrer, guter Lehrer
Die Tote und der Psychiater
Schöne Frau, tote Frau
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de © 2019 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln www.niemeyer-buch.de Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: C. Riethmüller Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com Druck und Bindung: Nørhaven, Viborg Printed in Denmark ISBN 978-3-8271-9508-1
Thorsten Sueße
Hannover sehen
und sterben
4. Kriminalfall mit Dr. Mark Seifert
Dr. med. Thorsten Sueße, geboren 1959 in Hannover, verheiratet, zwei Kinder, wohnt seit vielen Jahren mit seiner Familie am südlichen Rand seiner Geburtsstadt. Er ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, leitet den Sozialpsychiatrischen Dienst der Region Hannover.
Bei der Darstellung der Handlung seiner Kriminalromane orientierte er sich an seinem eigenen Arbeitsalltag, der durch eine regelmäßige Zusammenarbeit mit der Polizei geprägt ist.
Der Autor veröffentlichte bisher unter anderem ein Fachbuch über die NS-„Euthanasie“ in Niedersachsen, ein Theaterstück und zahlreiche Kurzgeschichten in diversen Anthologien, außerdem schrieb er ein Drehbuch für einen Spielfilm. Als Auszeichnung für seine wissenschaftliche Dokumentation über die Tötung psychisch Kranker aus den niedersächsischen Heil- und Pflegeanstalten im Dritten Reich erhielt er (zusammen mit einem Koautor) den Dissertationspreis 1986 der Gesellschaft der Freunde der Medizinischen Hochschule Hannover.
Daneben betätigte er sich als Schauspieler, hauptsächlich im Bereich Theater, hatte aber auch Sprechrollen in Fernseh- und Kinoproduktionen.
Er ist Mitglied im Bundesverband junger Autoren und Autorinnen.
Hier gelangen Sie zur Internetseite von Thorsten Sueße: www.thorsten-suesse.de
Teil 1 Das erste Opfer des Rosenquarz-Mörders
Kapitel 1
Philipp Rathing beendete die Vorlesung seines Buches, indem er langsam den Kopf hob und für zwei Sekunden, ohne ein Wort zu sagen, den Blick durch die Reihen seiner zahlreichen Zuhörer schweifen ließ. Diese zwei Sekunden, kurz vor dem zu erwartenden Applaus, genoss er immer besonders, wenn das Publikum weiterhin an seinen Lippen hing, um sicherlich liebend gern noch die eine oder andere Passage aus seinem Roman vorgetragen zu bekommen.
Und wie jedes Mal an dieser Stelle verkündete er lakonisch, in einem gespielt belanglos klingenden Tonfall: „So, das war’s für heute Abend.“
Die Antwort war ein anhaltendes Klatschen. Philipp nickte lächelnd in die Runde. Die Autorenlesung, veranstaltet von der Buchhandlung Decius in der Celler Innenstadt, war zum Glück vollständig ausverkauft.
Es folgten die üblichen Fragen aus dem Publikum, in dem für Lesungen überdurchschnittlich viele Männer saßen – was sicherlich mit der Thematik des Romans „Hannover sehen und lieben“ zu tun hatte:
„Warum haben Sie das Thema Homosexualität in dieser ungewöhnlichen Weise behandelt? In manchen Punkten wirkt Ihre Darstellung tatsächlich missverständlich.“
„Gab es einen besonderen Grund, gerade über dieses Thema zu schreiben?“
„Halten Sie Homosexualität wirklich für psychotherapeutisch behandelbar?“
„Hatten Sie mit den schwulen Bikern oder dem Pastor vorher persönlich zu tun?“
„In der Zeitung liest man immer wieder von Anfeindungen gegen Sie und Ihren Roman. Was sagen Sie dazu? Haben Sie manchmal Angst, aus dem Haus zu gehen?“
Philipp antwortete mit wohlgesetzten, zuvor genau durchdachten Formulierungen, einem Mix aus Humor und sozialem Engagement, angelehnt an das Motto: Tu Gutes und rede darüber.
Auf das Frage-und-Antwort-Spiel folgte das Signieren der verkauften Romane. Dann die Verabschiedung mit Shakehands vom Veranstalter mit dem gegenseitigen Versprechen, beim nächsten Roman wieder für eine gemeinsame Veranstaltung in Celle zusammenzukommen. Für den Erfolgsautor aus Hannover, dessen Romane (zumindest früher) bundesweit auf der Spiegel-Bestsellerliste standen und auch schon in andere Sprachen übersetzt worden waren, gehörte Celle natürlich nicht unbedingt zu denjenigen Städten, in denen er im kommenden Herbst als Erstes sein nächstes Buch präsentieren wollte. Da hatte er Berlin, Hamburg, München oder Köln im Blick. Aber letztendlich durfte er sich nie zu schade sein, selbst in noch viel kleineren Städten als Celle aufzutreten.
Es war kurz nach 22 Uhr, als er in seinen BMW einstieg, um nach Hannover zurückzufahren. Seine gute Stimmung, gepuscht durch die gelungene Lesung, bekam einen erheblichen Dämpfer, als er sein iPhone wieder anstellte und sofort registrierte, dass ihm Melanie auf die Voice-Mailbox gequatscht hatte.
Hör ich mir ihr Gejammer jetzt an – oder erst morgen? Scheißegal, bring ich’s hinter mich.
„Das lasse ich mir nicht mehr bieten!“, tönte Melanies Stimme aus dem iPhone. „Ich will das jetzt klären. Melde dich kurzfristig!“
Das Wort „bitte“ hatte sie nicht verwendet. Er wusste, um was es ging.
Kein Bock, mir heute noch den Abend mit ihr zu versauen. Sie soll dankbar sein, dass ich überhaupt noch mit ihr und ihren Kindern Kontakt halte!
Er würde sie morgen Vormittag anrufen. Eine Strecke von vierzig Kilometern und ungefähr eine Dreiviertelstunde Fahrt lagen vor ihm. Das Gespräch mit dem Publikum in Celle ging ihm durch den Kopf.
Die meisten haben die feine Ironie meines Romans kapiert. Aber ein, zwei Hohlköpfe waren damit mal wieder überfordert. Fast wie dieser dämliche schwule Biker aus Hannover, der überhaupt nichts rafft.
Philipps Gedanken schweiften ab zu dem durchgeknallten Psycho, der den Autor in seinem eigenen Garten überfallen hatte. In seiner damaligen Verfassung war Ralf Grothe recht bedrohlich aufgetreten. Gut, dass Mark Seifert dafür gesorgt hatte, den Kerl für ein paar Wochen in die geschlossene Psychiatrie einzuweisen. Inzwischen musste der Typ längst entlassen sein.
Solange der seine Psychopharmaka schluckt, müsste er mich in Ruhe lassen. Aber die letzten Tage habe ich da meine Zweifel, dass er das tut.
Vor Kurzem hatte sich Philipp auf seinem Grundstück mehrfach beobachtet gefühlt, hatte sogar eine Gestalt direkt vor seinem Gartenzaun weghuschen sehen. Das passte zusammen! Bevor Grothe ihn vor mehreren Monaten körperlich attackiert hatte, war der Biker ebenfalls zwei Tage zuvor um Philipps Haus gezogen.
Mark hat versprochen, dass sich sein Sozialpsychiatrischer Dienst um Grothe kümmert. Mal sehen, ob seine Leute das hinkriegen. Oder hat das was mit Ramona zu tun? Quatsch! Bodo wird kaum um mein Grundstück schleichen.
Philipp versuchte seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Viel angenehmer war es, sich mit dem derzeitigen Erfolg zu beschäftigen. „Hannover sehen und lieben“ lief eigentlich ganz gut, trotz – oder vielleicht auch wegen – der anfänglichen Kontroversen. Schon seit zehn Jahren stand auf dem Cover seiner Romane nur noch das Namenskürzel P. R., welches hoffentlich jeder potenzielle Käufer sofort mit Philipp Rathing verband. Eine raffinierte Anspielung auf Public Relations, die gleichfalls Assoziationen weckte zum weltweit bekannten Kürzel J. R. aus der amerikanischen Erfolgsserie „Dallas“.
Für die Fahrt im Dunkeln von Celle nach Hannover konnte Philipp bequem die Autobahn nutzen. In Anderten, einem Stadtteil im Osten der niedersächsischen Landeshauptstadt, besaß er ein Einfamilienhaus mit Garten, welches er nach dem Auszug von Melanie und ihren Kindern meistens allein bewohnte.
Als er in die Straße einbog, die zu seinem Haus führte, hatte er plötzlich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Er verspürte einen unangenehmen Druck im Magen, der sich schnell im gesamten Bauch breitmachte.
Die blöden Gedanken vorhin an den Psycho-Biker. Jetzt mach ich mich schon selbst verrückt. Hat er’s doch geschafft, dass ich mich wieder unwohl fühle.
Philipp erreichte die Einfahrt zu seinem Haus, bremste ab und fuhr langsam auf sein Grundstück Richtung Garage. Im Licht der Scheinwerfer war nichts Ungewöhnliches zu entdecken.
Was hab ich erwartet? Grothe wird schon nicht hier im Dunkeln vor dem leeren Haus auf mich warten.
Mit der Fernbedienung öffnete er die Garage und fuhr den Wagen hinein. Die Bewegungsmelder erhellten den vorderen Teil des Gartens. Als er das Garagentor wieder verschloss und auf die Haustür zusteuerte, wurde er zunehmend ruhiger. Kein ungebetener Gast, der ihm ans Leder wollte.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss der Haustür, als er hinter sich ein Geräusch hörte.
Scheiße! Ich hatte doch recht!
Er drehte sich um und sah der Gestalt direkt ins Gesicht. Als Letztes bemerkte er irritiert die Pistole, die sein Gegenüber auf ihn gerichtet hatte. Dann beendeten zwei Schüsse das Leben des hannoverschen Bestsellerautors.
Kapitel 2
Irgendwann vorher …
Er lebte sein ganzes Leben in zwei Welten, wobei er meistens in der einen nicht wusste, was er in der anderen tat. Das ging schon fast zwanzig Jahre so.
An die ersten sechs Lebensjahre hatte er allerdings keinerlei Erinnerung. Sie waren komplett ausgelöscht. Diese Zeit kannte er lediglich von alten Fotos oder aus Erzählungen.
Seit seiner frühen Kindheit war er ein Schlafwandler. Mitten im Schlaf verließ er mit offenen Augen das Bett und ging im Haus seiner Eltern umher. Er bediente sich am Kühlschrank, fing an zu essen. Mehrfach war es sogar vorgekommen, dass er beim Schlafwandeln das Haus verlassen hatte. Wenn er später wieder ins Bett zurückkehrte und am nächsten Morgen aufwachte, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Einmal hatte sich ihm beim Schlafwandeln sein älterer Bruder in den Weg gestellt. Er war gewalttätig geworden und hatte den Bruder geschlagen. Später wusste er nicht, was passiert war. Ängste und Hemmungen verschwanden während des Schlafwandelns.
Er wurde mehrfach von neurologischen und psychiatrischen Fachärzten untersucht, war in einem Schlaflabor. Die Diagnose lautete Somnambulismus, was lediglich die medizinische Bezeichnung für Schlafwandeln war. Eine Schlafstörung, bei der der Erbfaktor eine Rolle spielte. In seiner Familie hatten zumindest seine Mutter und ihr Bruder als Kind damit zu tun gehabt.
Nach der ärztlichen Prognose hätte das Schlafwandeln bei ihm mit der Pubertät aufhören müssen. Bei ihm war das nicht der Fall. Das typische Nachtwandeln war tatsächlich seltener geworden. Aber stattdessen weitete sich sein ungewöhnliches Verhalten zunehmend auf den ganzen Tag aus. Er vollzog tagsüber komplexe Handlungen, für die ihm jegliche Erinnerung fehlte. Er joggte durch den Park, kaufte im Internet ein oder stritt sich mit einer Person. Wenn andere ihm davon erzählten, spukte manchmal eine vage Erinnerung durch seinen Kopf, von der er zuvor gedacht hatte, es wäre nur ein Traum gewesen.
Die Ärzte sprachen davon, dass er neben dem Schlafwandeln in dissoziative Zustände geraten würde. Einzelne Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalte würden dabei voneinander abgetrennt. Offenbar ein Schutzmechanismus der Psyche, um bestimmte belastende Vorgänge und Erinnerungen fernhalten zu können. Er hatte auf Anraten der Ärzte zwei Jahre eine ambulante Psychotherapie gemacht. Nach Ende der Therapie fing er an, seine erste Mystery-Geschichte zu schreiben. Sie handelte von Gaylord, dem Schlafwandler, der zusätzlich unter dissoziativen Zuständen litt und der sein Störungsbild dafür nutzte, um in einer gnadenlosen Welt seine Ideale durchzusetzen. Die Inhalte der Zeitungsausschnitte, die er vor Jahren gesammelt hatte, waren in seine erste Geschichte eingeflossen. Vor einigen Jahren hatte in der Region Hannover ein Serienmörder neben jedes seiner Opfer Gegenstände deponiert, welche vermutlich eine symbolische Bedeutung hatten – ein Grablicht und eine Spielkarte. Aus ermittlungstaktischen Gründen hatte die Polizei diese Information erst nach Aufklärung der Mordserie an die Presse gegeben.
Mit achtzehn veröffentlichte er bei Amazon seine erste Mystery-Geschichte als E-Book. Ein Jahr später folgte die zweite.
Als Autor gab er seinen richtigen Namen an: Paul Stern.
Kapitel 3
Drei Monate vor dem Mord an P. R.
Der Wecker meldete sich pünktlich um sechs. Mit der flachen Hand versuchte ich dem nervigen Gepiepe ein Ende zu machen, erwischte aber leider nicht den Aus-Knopf, sondern die rechte Seite des Weckers, der zwischen mein Bett und meinen Nachttisch fiel und munter weiterpiepte, natürlich mit zunehmender Frequenz und Lautstärke. Ich machte das Licht an, brachte mühsam den Störenfried wieder zum Vorschein und beendete den Krach. Auf jeden Fall war ich jetzt putzmunter, aber schon zu Beginn des Tages schlecht drauf. Der Blick auf die zweite leere Doppelbetthälfte verstärkte mein Stimmungstief. Dort hatte bis vor zwei Wochen Anna gelegen. Jetzt war sie weg, ausgezogen bis auf Weiteres. Dabei hatte Anfang dieses Jahres alles noch so anders ausgesehen.
Vor zwei Jahren wollten wir den Zustand mit den zwei eigenen Wohnungen beenden und uns gemeinsam ein Haus anschaffen. Wir hatten bereits ein Objekt gefunden, aber die Kaufverhandlungen zogen sich hin und scheiterten schließlich. Stattdessen war Anna als Übergangslösung in meine Drei-Zimmer-Wohnung im hannoverschen Zooviertel eingezogen. Ihre Wohnung in Linden hatte sie aufgegeben.
Momentan wohnte Anna bei einer befreundeten Kollegin, die wie sie Lehrerin am Lindener Hermann-Hesse-Gymnasium war. Manchmal hatte ich ein Fünkchen Hoffnung, dass Anna und ich wieder zusammenkommen würden. Aber nur manchmal – und heute Morgen gerade nicht.
Es war Freitag, der 16. Dezember. In gut einer Woche war Heiligabend, und ich würde die Festtage mit großer Wahrscheinlichkeit ohne Anna verbringen.
Ein kleiner Lichtschimmer war mein rechter Fuß. Vor einigen Wochen war ich damit umgeknickt und hatte mir im oberen Sprunggelenk einen Außenbandriss zugezogen. Bis gestern musste ich deshalb eine Stützschiene tragen. Die Genesung meines Fußes vermochte meine Laune nur unwesentlich zu verbessern.
Ich schleppte mich ins Badezimmer. Der Spiegel dort zeigte einen achtundvierzigjährigen Mann mit einem deprimierten Gesichtsausdruck.
„Mark Seifert, du gefällst mir gar nicht“, sagte ich zu mir selbst.
Schade, dass ich mich als Psychiater nicht selbst behandeln kann. Momentan hätte ich es bitter nötig.
Ich war Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitete den Sozialpsychiatrischen Dienst, eine Einrichtung des öffentlichen Gesundheitsdienstes des Kommunalverbands Region Hannover. Der Sozialpsychiatrische Dienst verfügte über eine Zentrale und zwölf Beratungsstellen, ausgestattet mit insgesamt hundert Fachkräften, die sich um die ambulante Versorgung derjenigen psychisch Kranken kümmerten, die nicht oder nicht ausreichend vom kassenärztlichen System erreicht wurden.
Nach einem mageren Schnellfrühstück machte ich mich auf den Weg zur Arbeit.
Jeden Freitag hatte ich mich selbst zur psychiatrischen Notfallbereitschaft für das Gebiet der Landeshauptstadt eingeteilt, um den Bezug zur Praxis zu behalten.
Kurz vor acht Uhr betrat ich die Zentrale des Sozialpsychiatrischen Dienstes in der vierten Etage des Timon Carrés, einem sechsstöckigen Gebäudekomplex, in dem sich ansonsten zahlreiche Arztpraxen befanden, mitten im hannoverschen Stadtteil Döhren.
In meinem Vorzimmer war Sonja Mock, meine langjährige Sekretärin, gerade am Telefonieren. Mit der freien Hand gab sie mir ein Zeichen, mich ruhig zu verhalten.
„Nein, Frau Dahlmann-Weinberger“, sagte Mockie auf ihre ruhige, aber bestimmte Art, „leider ist Herr Dr. Seifert nicht im Hause, und ich weiß auch nicht, ob er heute noch reinkommt.“
Bei dem Namen „Dahlmann-Weinberger“ spürte ich gleich meinen flauen Magen. Es handelte sich dabei um eine Frau Ende dreißig, mit der ich in den letzten Wochen bereits mehrfach ausführlich telefoniert hatte. Unsere Gespräche drehten sich dabei im Kreis. Die Frau suchte immer wieder Beziehungen zu dem Typ Mann, mit dem sie in ihrer Jugend äußerst schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Die Reinszenierung eines alten Traumas. Dabei lehnte die Frau jegliche Gespräche mit Therapeuten der zuständigen Sozialpsychiatrischen Beratungsstelle ab. Bei Frau Ende dreißig waren meine Gedanken sofort wieder bei Anna.
Meine Sekretärin legte den Hörer auf und lächelte mich an: „Das ist für heute erledigt.“
„Danke, Mockie, Sie haben mich gerettet. Ein Telefonat mit Frau Dahlmann-Weinberger gleich zu Beginn des Tages hätte ich diesen Freitag nicht durchgehalten.“
Ich ging in mein Büro und hoffte, dass Mockies erfolgreiche Abwehr dieses Telefonats ein gutes Zeichen für den weiteren Tagesverlauf sein würde. Da hatte ich mich leider gründlich geirrt.
Kapitel 4
Philipp Rathing unterbrach die Arbeit am Manuskript seines neuen Buches. An diesem Freitag hatte er ganz früh mit dem Schreiben begonnen.
Der Nachfolge-Roman von „Hannover sehen und lieben“ musste unbedingt wieder ein Bestseller werden, nachdem sich sein vorletztes Buch und das davor leider nur mäßig verkauft hatten. Philipp gehörte zu den wenigen Schriftstellern, die tatsächlich von ihrem künstlerischen Schaffen recht gut leben konnten. Nebenher schrieb er journalistische Artikel für bundesweit erscheinende Magazine, lektorierte zusätzlich Bücher und Magazine, hatte früher bereits Drehbücher für eine erfolgreiche Fernsehserie verfasst. In seinem aktuellen Manuskript ging es um Flüchtlinge in Deutschland, ein Thema, mit dem er zwar in seinem eigenen Alltag wenig zu tun hatte, das er jedoch als aktuell und zugkräftig einschätzte. Er saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und überflog auf dem Monitor seines PCs die letzten Sätze, die er in die Tastatur getippt hatte. Dann blickte er über den Bildschirm hinweg durchs Fenster. Das Arbeitszimmer lag im ersten Stock seines Hauses.
Übernachtungen von Frauen kamen in dieser Arbeitsphase nicht in Betracht. Seine Konzentration galt von morgens bis abends, manchmal sogar bis spät in die Nacht, ausschließlich dem Buch. Als seine langjährige Lebenspartnerin Melanie und deren Kinder noch hier wohnten, hatte es deswegen öfters Streit gegeben. Ihnen fehlte bisweilen das Verständnis, dass laute Musik, Geschrei oder sonstige Turbulenzen ihn bei seiner Arbeit störten. Ein offenes Ohr für Alltagsprobleme aller Art hatte er hingegen in der Findungsphase für das Thema eines neuen Romans. Seit er die Adventszeit allein in Anderten verbringen musste, verzichtete er im Haus auf jeglichen vorweihnachtlichen Schnickschnack.
Das Haus hatte er vor achtzehn Jahren, zusammen mit seiner drei Jahre später verstorbenen Frau, gekauft. Viele persönliche Erinnerungen an diese Zeit waren mit dem Gebäude verknüpft, in welchem er, allein schon wegen des ansprechenden Gartens (seine zweite Passion neben dem Schreiben!), um jeden Preis wohnen bleiben wollte. Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau war Melanie mit ihren beiden kleinen Kindern dort eingezogen. Aber das spielte heute alles keine Rolle.
Am späten Nachmittag vor zwei Tagen hatte ein Mann auf einem Motorrad vor Philipps Grundstück, das in einem ruhigen Wohngebiet mit Einfamilienhäusern lag, haltgemacht. Der Mann war korpulent, trug schwarze Lederkleidung mit einer Kutte darüber, die vorne und hinten die geschwungene Regenbogenflagge zierte. Vom Fenster hatte Philipp in der einsetzenden Dunkelheit nicht alles genau erkennen können. Aber es konnte sich nur um Ralf Grothe handeln. Der Kerl hatte einen leeren Flachmann in den Garten des Schriftstellers geworfen und irgendetwas gerufen, das Philipp im Haus nur undeutlich verstehen konnte – möglicherweise „blödes Schwein“ oder so. Für die Einschaltung der Polizei reichte der Vorgang nicht aus. Grothe war ein Mitglied der Rainbow-Biker. Die hatten in den vergangenen Monaten mehrfach gegen sein Buch gewettert. Und ihm vermutlich auch die anonymen Mails mit den fiesen Beschimpfungen geschickt, deren Adresse sich nicht zurückverfolgen ließ. Im September, kurz nach Veröffentlichung von „Hannover sehen und lieben“, war Philipps Haustür von Unbekannten mit Hundekot beschmiert worden. Er konnte den Anfeindungen, über die schon mehrfach die Presse berichtet hatte, auch Positives abringen. Sie machten sein Buch für unentschlossene Käufer interessanter.
Zum Einlegen einer Zigarettenpause entschloss er sich, in den Garten zu gehen. Er hatte sich eine Winterjacke angezogen. Es war etwa fünf Grad über null. Die Weihnachtstage würden vermutlich wieder ohne Schnee auskommen müssen. Er ging im Garten auf und ab, was meistens seine Einfälle für die nächsten Passagen des Romans beflügelte.
Von der Straße her hörte er das Knattern eines Motorrads. Auf der Maschine hockte die korpulente Gestalt von vorgestern.
Er ist es! Grothe! Was mache ich jetzt?
Philipp war nicht der Typ, der sich gleich wie ein ängstliches Mäuschen verkroch. Er entschloss sich, ruhig stehen zu bleiben und mit keiner Geste zu signalisieren, dass ihm die Situation Unbehagen bereitete.
Der Biker war ungefähr im gleichen Alter wie Philipp, also Ende vierzig. Ein ungepflegt wirkender dunkler Vollbart mit etlichem Grau ließ ihn verwegen aussehen. Er trug wieder die typische Motorradkleidung mit der Rainbow-Kutte. Und darunter sah er recht kräftig aus.
Bei einer Prügelei zieh ich mit Sicherheit den Kürzeren! Standhaft bleiben, aber nicht provozieren.
Grothe hatte den Schriftsteller ebenfalls ausgemacht. Er brachte sein Motorrad zum Stehen, stieg ab und stürmte mit schnellen Schritten durch das vordere Gartentor auf Philipp zu.
Weglaufen oder Stärke zeigen?
Philipp erstarrte auf dem Rasen und war für einen kurzen Moment entscheidungsunfähig. Die brennende Zigarette entglitt seiner Hand.
Okay, bleibt nur Stärke vortäuschen.
Grothe machte keine Anstalten, stehen zu bleiben. Philipp streckte den rechten Arm aus und hielt die Handfläche nach vorn: „Stopp! Was soll das? Was wollen Sie?“
Sein Gegenüber kam tatsächlich zum Stehen. Die Mundwinkel zuckten, beide Arme vollführten ruckartige Bewegungen, bevor er laut verkündete: „Ich bin gekommen, um mit dir, du verkappter Schwulenhasser, abzurechnen. Dein verdammtes Drecksbuch!“
Der steht total unter Dampf!
„Verlassen Sie bitte sofort mein Grundstück!“, entgegnete Philipp, wobei seine Stimme leicht brüchig wirkte.
Grothe stand mit zwei Schritten direkt vor dem Schriftsteller und drückte ihm die rechte flache Hand ins Gesicht. Philipp taumelte zurück. Der Biker setzte nach, schubste seinen Widersacher mit beiden Händen gegen den Brustkorb. Philipp kam ins Straucheln, konnte mit Mühe verhindern, zu Boden zu stürzen.
In seiner Verzweiflung hatte der Autor einen Geistesblitz.
„Da ist die Polizei!“, schrie er und deutete mit dem Finger hinter Grothe, der verblüfft innehielt und sich umdrehte. Aber da war niemand!
Philipp nutzte die Verwirrung und flüchtete Richtung Terrasse.
„Eh, du Arsch, dich krieg ich!“, hörte er hinter sich den Biker brüllen.
Der Schriftsteller stieß die angelehnte Terrassentür auf, rettete sich ins Wohnzimmer und verschloss sofort hinter sich die Tür. Der Angreifer erschien auf der Terrasse. Philipp fingerte sein Smartphone aus der Hosentasche und rief mit zittriger Stimme die Polizei um Hilfe.
Grothe schlug wechselseitig mit beiden Handinnenflächen gegen die Glasscheibe der Terrassentür. Dann machte er einige Trippelschritte und rieb die Hände an seinen Oberschenkeln. Er war sichtlich aufgeregt, aber noch unentschlossen, ob er die nächste Grenze überschreiten und versuchen sollte, das Glas der Tür einzuschlagen.
Philipp atmete kurz auf, als der Angreifer die Terrasse verließ und in den Garten zurückkehrte.
Zu früh gefreut!
Grothe hatte einen der größeren Ziersteine entdeckt, aufgehoben und marschierte damit auf die Terrasse zu.
Philipp rannte über den Flur zur vorderen Haustür. Hinter ihm klirrte eine Scheibe. Durch den Haupteingang flüchtete er aus seinem Haus, rannte zur Straße, rief laut um Hilfe.