Kitabı oku: «Was du nie siehst», sayfa 2
Sonntag I oder: Ein erstes Gespräch ist noch kein Anfang
Die Gemütlichkeit der Küche dämpft angenehm die Arbeitsstimmung. Die Minuten zerfließen, ich höre hinter mir die Uhr deutlich ticken. Es ist die Stimmung, die kurz vor einem Absprung entsteht. Das will nicht so recht zu einem Sonntag passen. Damit schrumpft alles zu einem kleinen Kosmos zusammen, zu einem kleinen Raum, in dem, im Gegensatz zur übrigen Welt, etwas beginnt. Oder zumindest stattfindet.
Wir sitzen uns an dem großen Holztisch schräg gegenüber. Ich höre, wie er sich klappernd einrichtet, und warte. Durch das gekippte Fenster kann ich die Vögel hören und ihr aufgeregtes Hin und Her schraubt sich hinauf und hinab. Der abendliche Gesang, dessen Hall durch den Trichter des Hinterhofes verstärkt wird, und die kühle Frische versprechen den Frühling. Ich zünde mir eine Zigarette an und gebe der Situation dadurch eine zusätzliche Note. Erst einmal abwarten, wie er das Ganze nun angeht.
Mit energischem Griff zieht er die Bierflasche vom Tisch und öffnet sie mit zischendem Schmatzgeräusch. Die Vögel werden vom Glucksen seines tiefen Zuges unterbrochen. Ich ziehe mit, trinke erst einmal einen Schluck. Ein bisschen Mut. Unpassenderweise muss ich gerade jetzt daran denken, dass ich schon lange neue Stühle und eine Bank in der Küche haben will. Diese hier, auf denen wir nun sitzen, passen gar nicht zu mir. Es ist schwierig, auf ihnen entspannt und locker zu sein. Die Lehnen sind zu hoch. Das Polster so pseudosamtig.
Er setzt die Flasche schwer ab. Jemand, der es gewohnt ist, Raum einzunehmen. Und der jetzt da ist, um mir Raum zu geben.
Einen kurzen Moment habe ich noch einmal diesen Zweifel. Das ist der Moment, kurz bevor es endgültig zu spät ist zurückzurudern, auch wenn es jetzt schon echt peinlich wäre. Wir verstehen uns auf diese unbestimmte Art. Irgendwie gut. Aber dass wir uns kennen würden, das kann man nicht behaupten.
Aber das wird sich jetzt ändern. Ob wir wollen oder nicht: Gleich fangen wir an, uns kennenzulernen.
Das kann auch unangenehm sein.
»Ich schalte das Aufnahmegerät jetzt ein.« Seine Stimme verrät nicht, ob er gespannt ist, aufgeregt, neugierig. Oder sonst was.
»Okay«, kann ich nur sagen.
Mit diesem einen Wort schlucke ich meine Zweifel hinunter. Erstickungsgefahr nicht ausgeschlossen.
Aber das Risiko ist es wert. Um die nervige Stimme zum Schweigen zu bringen. Diese Stimme, die leise sagt, dass es ganz toll ist, was ich mir da wieder eingebrockt habe. Diese Stimme, die fragt, wie man nur auf diese bescheuerte Idee kommen kann, ein Buch schreiben zu wollen. Also, nicht ich selbst. Und eigentlich auch nicht mit mir. Und nicht einfach nur so über mich. Sondern irgendwie bin ich jetzt das Buch.
Die Stimme zeigt mir den Vogel.
Manchmal hat diese Stimme den Akzent meines Vaters und das Vibrato meiner Mutter. Voller Sorgenbass und liebevoller Höhen. Wird aber seltener in letzter Zeit.
»Wir haben heute den 3. März und unsere erste Sitzung.«
Er spricht etwas näher an mir, um dem Aufnahmegerät seine Stimme einzutrichtern. Er hat es gleich links neben den Aschenbecher vor mich gestellt. Also näher zu mir als zu ihm. Solche Sachen merke ich mir. Weil ich es muss. Normalerweise fällt mir das nicht so deutlich auf. Aber in diesem Moment, da macht es den Unterschied aus, um den es wohl auch gehen wird.
»Wir fangen einfach mal an«, fügt er hinzu.
Ich nicke in seine Richtung.
Da ist dieses Gefühl, das man kennt, wenn man Musik macht. Oder wegen anderem Zeug auf irgendwelchen Bühnen steht. Dieses Gefühl, dieses Angetörntsein davon, im Mittelpunkt zu stehen – während man sich gleichzeitig davor scheut. Einen kleinen Teil gibt es, der mich dann immer für die eigene Selbstverliebtheit ohrfeigt.
»Also, Hansi, erzähl mir doch zum Einstieg mal deine Woche.«
Damit fangen wir also an. Ich nehme an, es ist so gut wie jeder andere Anfangspunkt. Wenn man alles erzählen will, kann man von überall starten. Hat er mir erklärt. Das ist also der Anfang.
Nun muss ich. Den Zurückruder-Moment hab’ ich wohl verpasst.
Okay, here we go:
Eine Woche hat sieben Tage. Aber diese Woche hatte einen Einstieg, einen Auftakt. Wenn man einen Auftritt spielt, dann gehören einfach der Tag davor und der Tag danach dazu. Und die Woche, die nach diesem Wochenende folgte, war so unter der Kontrolle der Ereignisse, dass es der Start sein muss; das Wochenende, mit dem das alles losging, das zu einem Tag verschmilzt. Wie ein langer Ritt. Damit ging es los. Der Tag null, das ist der Freitag.
Also, ich fange mit dem Freitag, dem Einstieg in den Taumel an.
Es ist Freitag und ich sitze auf dem Polster des rollenden Bürostuhls in dem kleinen Radiostudio. Die Luft und der Schall sind etwas drückend, wie unter Watte. Ich nehme an, weil es sich gegen außen abschottet. Die Kopfhörer tun ihr Übriges. Über sie kann ich den Moderator hören, die Musik, die er einspielt. Und leider auch meine eigene Stimme. Wenn niemand etwas sagen und keine Musik gespielt werden würde, dann könnten diese Kopfhörer mich von der Außenwelt abschneiden. Aber diesen Gedanken habe ich nur kurz. Ich bin aufgeregt. Nicht wegen des Interviews. Während ich da sitze und über die Kopfhörer Dave Grohl den ersten Song seiner neuen Scheibe in mein Ohr zementiert, wird mir plötzlich klar, dass es jetzt losgeht. Deswegen bin ich aufgeregt. Mir wird klar, dass morgen alles klappen muss und dass ich auf der Bühne stehen werde. Das passt gut, denn Daves Song schraubt sich gerade in den Höhepunkt und lässt mich mitvibrieren.
Das Mikrofon vor mir hatte ich mir zuvor schon so hingedreht, dass ich die ganze Zeit im gleichen Abstand sitzen bleiben kann. Meine Hände liegen deshalb auf dem Tisch, aus dem das Mikro wie ein biegsamer Rüssel ragt, so dass ich den Abstand beibehalten kann, ohne dass ich drüber nachdenken muss. Das lässt mich etwas steif sitzen. Aber im Radio kann sowieso niemand etwas sehen. Mich auch nicht.
»… das war ein echtes Brett, liebe Rockfreunde. Und zu einem echten Brett kommen wir auch jetzt. Bei mir im Studio sitzt der Sänger von The Dehydrators und der Initiator der Benefizveranstaltungsreihe Rock the Kids, Johann Mühlbauer. Hansi, schön dass du da bist!«
»Hey, freut mich, hier zu sein!«
Benefizveranstaltungsreihe – das geht auch nur im Deutschen. Eigentlich fehlt in dem Wort noch Konzert und Abend.
»Wirklich toll, dass du Zeit finden konntest, momentan ist ja wirklich viel los bei dir, denn morgen ab zwanzig Uhr geht es ja mit Rock the Kids im K4 los.«
Dieses Dauerlächeln, das er in der Stimme hat, das ist das erste Anzeichen dafür, dass da noch was im Busch ist.
»Allerdings, wir sind ziemlich im Stress. Schließlich soll morgen alles klappen und da steckt eine Menge Vorbereitung drin. Proben, Organisation und so.«
Toll, noch mehr Aufregung. Egal, was noch im Busch ist, ich freue mich, dass unser Benefiz Runde um Runde so gut ankommt. Und dass ich meine Stimme on air dazu benutzen kann, Werbung zu machen.
»Hansi, die Dehydrators heizen dem Publikum ordentlich ein. Da erleben du und deine Bandkollegen bestimmt einiges als Aufstiegsregionalrockband. Was bedeutet es für dich, Musik zu machen?«
Aufstiegsregionalrockband? Ich glaube, jetzt habe ich so eine Ahnung, wo das hinführen könnte.
»Ja, wenn man in einer Indie-Rock-Band spielt, geht einiges.« Ich betone das Wort Indie. Sollte Chris das hören, dann beißt er gerade in die Tischkante. Unser Gitarrist hasst diese Bezeichnung. Ich beherrsche meinen inneren Lachkrampf und konzentriere mich. »Musik beeinflusst mich, ich höre viel und gerne Musik. Das ist über die Jahre für mich immer wichtiger geworden. Und auf der Bühne zu stehen und mit den Leuten gemeinsam abzugehen, zu spüren wie die Musik uns alle vorwärtsschiebt, ist einfach toll.«
»Das kann ich mir vorstellen. Und weil wir euch das nicht vorenthalten wollen, hört ihr nun The Dehydrators mit ihrem Song Paranoid.«
Die ersten Riffs des Songs überlagern den Schluss seiner Ansage. Aus Erfahrung weiß ich, dass man jetzt die Kopfhörer abnehmen darf. Aber ich nehme sie nicht ab. Nicht, dass es dann plötzlich weitergeht und ich dann suche und sie nicht finde. Also lass ich die Dinger auf. Gefangen zwischen den gepolsterten Bügeln kann ich unserem Song nicht ausweichen. Meine Ohren glühen schon richtig. Man sollte sich kurz vor einem Auftritt nicht die eigenen Songs anhören. Das macht einen wirklich doof im Kopf.
Einfach drauf einlassen.
Nicht verkrampfen.
Ich gebe mich ein bisschen hin.
Um dem inneren Mitsingen zu widerstehen, denke ich an die ersten Jamsessions im Proberaum. An das erste gemeinsame Bier. Daran, dass ich die Jungs kennenlernte, als sie einen Sänger suchten, und ich sagte: »Na, singen kann ich auch.« War nicht gelogen, aber auch nicht unübertrieben. Aber ich habe da diesen Drang, in die Dinge reinzuspringen, die mir Angst machen. Ich gehöre wahrscheinlich zu den Tausenden von Menschen, die sich beim Hören ihrer Lieblingsbands vorgestellt haben, auch auf der Bühne zu stehen. Ich erinnere mich daran, wie der Zug mich wieder fort von meinem Heimatdorf, zurück in die Stadt brachte, weg vom Land. Die schmierigen Kunstlederpolster, die Luft, die zwischen den Sitzen stand, irgendwo eine lachende Familie mit Kindern. Das Klacken der Sohlen des Schaffners. Das Zischen und Rumpeln der sich schließenden Türen. Die Sonne schien durch das Fenster des Zuges, ich fühlte, wie sie warm auf meinem Gesicht und meiner Hand lag, manchmal flirrend unterbrochen von irgendetwas, an dem er mich vorbeifuhr. Das gleichmäßige Rattern der Bahn drang durch die mit Schaumstoff überzogenen Kopfhörer. Aus ihnen sang scheppernd Greg Graffin, und ich klopfte zum amerikanischen Heiland den Takt auf meinen Knien. Damals dachte ich noch, wenn überhaupt, dann passe ich in den Hintergrund einer Band. Natürlich will jeder Sänger werden, aber wie ich mich auf einer Bühne bewegen sollte, das konnte ich mir damals einfach nicht mal im Ansatz vorstellen. Am Schlagzeug sitzend, da wäre ich kein Problem. Aber mit dem Singen-kann-ich-auch-Gerede hatte ich mich eben wie immer einfach reingeschmissen. Dann muss man eben auch und Punkt. Nur weil man mal mit siebzehn hinter seinen Kopfhörern von singenden Menschen im Stadion träumt, während man den Rhythmus drischt, heißt das nicht, dass man mit einunddreißig nicht Sänger in einer Rockband sein kann, die keine Stadien, aber punkige Kulturschuppen füllt. Manche Kopfhörer begleiten einen so lange, bis man richtig zuhört.
Jetzt höre ich durch die Kopfhörer, wie meine eigene Stimme zu den letzten Riffs unseres Songs klingt.
»Das waren The Dehydrators mit Paranoid, und gerade sitzt bei mir im Studio der Sänger der Band und Veranstalter der Benefizveranstaltungsreihe Rock the Kids: Hansi Mühlbauer.«
»Meine Bandkollegen nennen mich auch Johnny Nolook«, grinse ich.
Kurz bevor der Moderator lacht, entsteht diese kleine Pause.
»Hansi, du hast vorhin schon kurz erwähnt, dass ihr gerade alle Hände voll zu tun habt«, sagt er, seine Unsicherheit überspielend.
»Ja, richtig. Morgen Abend gehen wir mit Rock the Kids an den Start. Es kommt jedes Jahr besser an, und wir freuen uns auch auf die anderen Bands, die sich morgen mit uns die Bühne teilen werden.«
»Wie bist du auf die Idee für Rock the Kids gekommen?«
War ’ne Schnapsidee, wortwörtlich. Und das sich damals immer mehr in mir ausbreitende Gefühl, etwas zurückgeben zu wollen. Helfen zu wollen.
»Na ja, da gab es die Dehydrators noch nicht so lange. Wir waren auf einer Party und haben uns unterhalten und kamen irgendwie darauf, wie verdammt noch mal gut es uns eigentlich geht. Da war gerade diese Flutkatastrophe. Und während wir so quatschten, wurde klar: Wer was ändern will, muss seinen Arsch halt auch hochbekommen und nicht nur über andere reden. Von da an ging dann Rock the Kids los.«
»Das ist Sozialengagementrock, liebe Freunde!«, sagt er begeistert.
Mein Grinsen ist das einzige, was ich von meinem inneren Lachanfall zulasse. Was für ein Spaß. Ich könnte auch noch ein Wort erfinden.
»Mit Aufdiefresserock einfach auch mal helfen – das ist das Ziel!«, setze ich nach. Na ja, war nicht der große Treffer. Aber Chris weiß jetzt, dass ich nur Spaß mache, und kann die Tischkante wieder aus dem Mund nehmen. Mein Grinsen würde mich verraten. Sieht aber ja keiner. »Deswegen ist es auch super, dass ich hier in der Sendung sitzen darf. So kann ich noch viel mehr Leuten sagen: Kommt vorbei, es wird ein Spitzenabend! Dieses Jahr unterstützen wir das Kinder- und Jugendhaus Bienenstock.« Warum ich an dieser Stelle die Geste für Anführungszeichen mache, ist mir unklar. »Wir haben einige Sponsoren dabei, die uns jedes Jahr super unterstützen.«
»Da tut ihr und die anderen wirklich was Gutes! Wirklich toll!« Keine Frage. Aber eine Pause. »Ist das auch … also hängt das mit …« Seine Stimme bekommt plötzlich einen anderen Unterton.
Mir ist klar, was kommt, aber wirklich helfen will ich gerade irgendwie auch nicht.
Jetzt spielen wir erst mal Katze aus dem Sack.
»Also, du … bist ja blind.«
»Richtig!« Ich imitiere schon seine Sonnenscheinstimme. Klingt, als ob er gerade etwas gewonnen hätte.
»Hat das auch, also dass du blind bist, auch mit der Hilfe für die Kindertagesstätte zu tun?«
»Nein, im Bienenstock sind keine Blinden, würde sonst ja Blindenstock heißen …«, lache ich. Und er lacht mit, ehrlich. Sehr gut, Stimmung wieder gelöst. »Und es heißt ja auch nicht Rock the Blind«, lege ich nach.
Das war auch einen Lacher wert.
Es hilft dem Benefiz tatsächlich, dass ich blind bin. Ganz klar, wenn der Blinde anruft und sagt: »Hey, wir machen da eine sozial engagierte Party mit Konzerten, ich organisiere das, und wir wollen Sie dabeihaben«, dann ist die Sache geritzt. Ob das jetzt richtig ist, dass ich mit dem Zeug, was andere Menschen ja auch machen, automatisch mehr Eindruck schinde, darüber lässt sich streiten. Ich verzeichne das unter dem Ausspielen der Kartenhand, die man eben bekommen hat. Was sollte ich auch sonst machen – auf den Spaß beim Helfen, meine langen Haare und meinen tollen Musikgeschmack verweisen?
»Meine Band hat mir vor einigen Jahren mal ein T‑Shirt geschenkt«, erzähle ich ihm und dem Mikro, »mit einem Bild von mir darauf. In großer Verehrung von Mr Cash stand darüber: ›Listen to the man in blind‹. Das unkorrekte Englisch hat mir damit auch meinen immer wieder mal aufkommenden Spitznamen eingebracht: Mr Johnny Nolook.«
Der Moderator lacht wieder. Aber das wird nicht reichen, es geht schon noch ein bisschen um die Katze.
»Aber die anderen in der Band, die sind …?«
»Die sind normal. Also eigentlich sind sie das gar nicht. Aber sie können sehen, was sie so machen, wenn sie morgen Abend auf der Bühne stehen und die Show rocken.«
»Ihr habt es gehört, Freunde – kommt morgen Abend ins K4, ab zwanzig Uhr wird für die Kids und den Bienenstock gerockt – mit am Start sind noch weitere Bands, Party hinterher und das alles für nur 9 Euro Eintritt, was komplett den Kindern zugutekommt. Und jetzt hier noch einmal für euch die Dehydrators mit ’till hell breaks loose!«
Der Song setzt ein. Ich setze die Kopfhörer ab. Die Sendung ist vorbei.
»Hey, megagut – vielen Dank, dass du mich in die Sendung gebracht hast«, wende ich mich ihm zu und halte ihm die Hand entgegen.
»Is’ doch klar, Alter«, schlägt er ein.
Das ist die Startrampe. Jetzt kann es losgehen.
Anfahrt, Geschwindigkeit aufnehmen, Absprung und dann mit dem Kopf voraus hinein. Es ist ein Abtauchen, treibend darin untergehen. Atemlos und trunken jeden Moment gierig aufsaugen, als ob es der letzte sein könnte, der letzte verdammte Moment, der es wert wäre, dass danach die ganze Welt zum Teufel geht. Jaulende Riffs, mehr Drinks, ein Taumel und Zechen, ein Lachen und Drehen, es flirrt in der Blutbahn und Applaus klingt noch in den Ohren nach, den leisen, fiependen Ton, der sich als Beweis für die anderen Bands einnistet, übertrumpfend. Es ist nicht nur die Nacht selbst, nicht nur der Auftritt an sich.
Es sind die Tage davor.
Und der Tag danach.
Die Nächte dazwischen.
Es gehört alles zusammen, wie die einzelnen Mitglieder unserer Band, die Instrumente, die einzeln für sich genommen Macht und Kraft besitzen – aber erst gemeinsam bringen sie die erste Reihe zum Springen und Pogen.
Nichts ist vergleichbar. So wie alles das einmalig, geil, groß und wahnsinnig ist, einfach jeden Vergleich hinter sich lässt. Also, man steckt da drin, in diesen Tagen und Nächten, in diesem Auftritt. Im Rausch. Und der Sonntag ist dann nur eine sich anschließende, zähflüssige Masse. Die Jungs und ich bauen ab, trinken ein letztes Bier und ich falle irgendwann einfach um, glücklicherweise in mein Bett. Es stampft und rockt über mich hinweg, und wie immer kann ich erst danach sagen, dass es passiert ist. Am Montag, dem Tag, an dem diese Woche wirklich beginnt, folgt das Erwachen:
Ein wenig durchgekämpft und abgefuckt werde ich am Montagmorgen aufwachen und bemerken, dass ich es verdammt noch mal verloren habe.
Denn damit beginnt diese Woche – mit einem Verlust.
Montag oder: Wer verliert, der sucht
Ohne geträumt zu haben, mit dem Gefühl halbseiden gegart worden zu sein, wühle ich mich aus der Decke. Tastend suche ich auf dem Tischchen neben dem Bett, um zu erfahren, ob ich den Tag verschlafen habe. Und finde nichts. Der Wecker muss runtergefallen sein. Das lässt mich erst einmal in die Decke zurücksinken. An einem solchen Morgen wäre eine Motivation dringend nötig.
Ein »Fuck, es ist schon spät« hätte helfen können.
Ich genieße noch einmal kurz, aufgewacht zu sein, und die Ruhe in mir. Ohne Druck. Ohne Fuck.
Das Fiepen in den Ohren ist weg. Das Gefühl im Schädel, von einem Laster getroffen worden zu sein, ist zumindest fast verflogen. Dass ich wieder klar höre, ist verdammt gut. Sonst müsste ich jetzt zum Arzt rennen. Mit meinen Ohren bin ich manchmal ein bisschen vorsichtig. Aber irgendwie dann auch nur manchmal. Es ist ein etwas seltsames Verhältnis, könnte man sagen. Ich weiß, wenn meinen Ohren etwas passiert, dann bin ich sozusagen weg. Oder anders herum: Die Welt ist dann fast weg. Kurz vor dem Horizont. Trotzdem gibt es nichts Besseres, als sich vorne im Moshpit gut betrunken dem gut geführten Krach mit jeder Faser hinzugeben. Von Muskelstrang bis, ja, bis eben zum Trommelfell. Trotzdem, wenn etwas länger anhält, ein Fiepsen in den Ohren, ein Druck oder Drückchen, Schmerz oder Schmerzchen, dann sitzt der Herr Rocker extrem beunruhigt auf einem klebrigen Wartezimmerstuhl und wartet darauf, dass er seinen Namen hört. Und verflucht sich dafür, um sein Gehör gepokert zu haben.
Bevor ich da sitze, denke ich trotzdem nicht darüber nach, was passieren könnte. Die Freude über jeden Moment auf der Bühne ist einfach überwältigend.
Kurz bevor ich wieder einschlafe, bemerke ich, dass ich immer noch keine Ahnung habe, wie viel Uhr es ist. Stöhnend rolle ich mich auf die Seite und taste neben dem Nachttisch, auf dem Boden, neben meinem Bett. Ich greife irgendwas Sockiges. Kein Wecker. Ich muss das verdammte Ding wieder mal im Bad stehen gelassen haben. Wenn ich jetzt das Musikhören während des Duschens gegen die Uhrzeit eintauschen könnte, würde ich es tun. Es hilft alles nichts – ich stehe auf, tappe schlaftrunken und gähnend durch das Wohnzimmer und über den kurzen Flur ins Bad. Mit der rechten fahre ich über das kühle, angeraute Plastik der Waschmaschine gegenüber der Badewanne. Hab’ ihn. Mit dem Zeigefinger drücke ich auf die glatte Erhebung. Mechanisch klingend wie eine Robotervorstellung aus den Siebzigern sagt er die Zeit: neun Uhr zweiunddreißig. Und während ich mich freue, dass es noch nicht zu spät ist, ein bisschen was vom Tag zu haben, da habe ich es noch nicht richtig registriert. Oder wieder verdrängt. Vergessen.
Ich stelle den Wecker zurück und merke mir, wo ich ihn hingestellt habe: linke Kante, Waschmaschine.
Ich muss mir natürlich viele Dinge merken. Es würde sehr helfen, wenn ich für Dinge wie meine Hausschlüssel, meine Unterlagen, mein Taschenmesser oder eben meinen Radiowecker, einen wirklich festen Platz hätte. Oder für mein Handy. Es wäre praktisch, wenn ich schnell losmöchte oder mal meine Rechnungen sortieren muss. Und es wäre vielleicht sogar logisch, also angebracht – das denken zumindest die meisten. Es ist eines der Klischees, die ich leider einfach nicht erfülle. Es wäre manchmal ein praktisches Klischee. So wie jetzt. Dann würde mir jetzt auffallen, dass mein Handy nicht an seinem Platz liegt. Tut es aber nicht.
Das Einzige, was mir jetzt einfällt, ist erst einmal: Sport, Dusche, Frühstück und Kaffee.
Das Erste (Dusche) geht pfeifend und singend vonstatten. Das Zweite (Frühstück und Kaffee) mit Sonne auf dem Rücken. Das Dritte (Sport) verschiebe ich erst einmal auf später. Während ich das Müsli vor mich hinlöffle, denke ich daran, wohin ich sie einladen könnte.
Ob ich sie einladen sollte.
Statt dem Fiepen habe ich immer noch ihre Stimme im Ohr, ihr Lachen. Ich frage mich, was sie gerade macht, ob sie auch ausschlafen konnte. Ob sie gerne etwas von meinem Müsli abhaben wollen würde.
Was ich anziehen könnte. Wenn ich sie einladen würde.
Ob ich verliebt bin.
Ich beschließe, dass es eine gute Idee ist, sie zu fragen, ob sie mit mir essen gehen möchte. Nichts Schickes, eher in diesen kleinen Burgerladen. Burger sind irgendwie lässig, wenn auch ein bisschen arg Berlin zurzeit. Aber der Schuppen ist super, Rock ’n’ Roll und fränkischer Burger. Gegen den Burger sprechen die Soße und das komplizierte Essen. Ich grinse über kompliziertes Essen und löffle mein Müsli.
Es ist wirklich so, dass soßiges Essen für mich ein Kriterium ist, nicht in einen Laden mit jemanden zu gehen. Das gilt allerdings nur für Menschen, die ich noch nicht kenne. Bei Freunden wird mir das egal. Die Gefahr, sich bei soßigen Sachen vollzusauen, ist da. Nicht übermäßig groß. Aber da. Und jemand, der mich gerade kennenlernt, soll nach dem Abend nicht denken: Mann, der Idiot kann nicht mal essen. Deswegen sollte ich so einen Laden meiden.
Also, Soße fällt flach beim ersten Date. Oder Sachen, bei denen ich viel schneiden muss. Dann muss ich das Besteck so kurz am Stiel nehmen, dass meine Zeigefinger fühlen können, was ich schneide, wie viel ich abtrenne. Wenn das auch noch soßig ist, was da geschnitten wird, brauche ich hinterher einen Stapel Servietten. Oder die Toilette; also, genauer, das Waschbecken. Das kann sogar ich voneinander unterscheiden.
Noch so ein Kriterium: Ein Laden, den ich kenne. Es kommt einfach nicht gut, zwischen tollen Witzchen und intimer werdenden Fragen einzuschieben: »So, jetzt muss ich aber pinkeln. Zeigst du mir das Klo?«
Vielleicht sollte ich nicht nur ans Essen denken. Liegt wahrscheinlich am Müsli. Über einen Scheiß kann man nachdenken. Und immer wenn ich über diesen Scheiß nachdenke, fällt mir auf, dass es ein Gedankengang ist, der mir beigebracht wurde.
Es war ein scheißkalter Winter und das Klassenzimmer roch nach Heizungsluft. Mein Platz war in der hinteren Reihe rechts. Ich konnte durch die Fenster einen Vogel singen hören. Meine Deutschlehrerin war eine schon etwas ältere Dame. Ich kann ihre leicht raue Stimme noch hören, wenn ich über diese Dinge nachdenke.
Sie sagte: »Bedenkt immer: Wenn ihr euch beim Essen bekleckert, mit einem Fleck auf dem Pullover herumlauft und es nicht bemerkt, weil ihr es nicht sehen könnt, dann seid ihr nicht einfach ein Mensch mit einem Fleck auf dem Pullover. Ihr seid ein Blinder, ein behinderter Mensch, der nicht fähig ist, sich selbst sauber zu halten. Im besten Fall hilfsbedürftig. Bemitleidenswert im schlechtesten Fall.«
Es ist ein Unterschied, ob man Hilfe bei manchen Dingen braucht oder hilfsbedürftig ist. Das habe ich allerdings nicht nur in der Schule gelernt.
Essen gehen ist vielleicht auch einfach schon die zweite Stufe, ich sollte sie erst mal auf einen Kaffee treffen. Irgendwo schön draußen, Sonne auf meinem Rücken, leckerer Kaffee, tolles Gespräch, super Schattenplatz, wenn es zu heiß wird. Obwohl, so warm wird es noch nicht.
Ich kaue und esse. Die Sonne scheint mir durch mein Küchenfenster auf den Rücken. Ich frage mich, ob ich ihr Typ bin. Oder ob ich es nicht bin. Aber wenn nicht, tja, dann hätte sie mir nicht ihre Nummer gegeben. Ihre Nummer. Nulleinsirgendwas. Zahlen bekomme ich einfach nicht mehr in mein Hirn. Bevor ich Talks auf dem Handy hatte, konnte ich mir Telefonnummern problemlos merken. Ging nicht anders, aufschreiben nützt ja nichts. Ich habe mich lange gegen die Sprachsoftware gewehrt, alle um mich herum, also die Blinden, hatten sie schon. Nur ich nicht. Vielleicht wusste ich instinktiv, dass es mir zwar helfen, aber mein Telefonnummern-Gedächtnis verkommen lassen würde. Das blinde Orakel vom Lande.
In dem Moment schiebt sich eine Wolke oder irgendetwas Unheimlicheres vor die Sonne. Es wird plötzlich kühl. Ich kaue immer langsamer und mein Lächeln verschwindet, während es mir langsam dämmert. Ihre Nummer konnte ich mir nicht merken, also habe ich sie in mein Handy gespeichert. In mein Handy, das ich heute noch nicht in der Hand hatte. Wo es ja schon wegen des Namens hingehört. Das Scheißhandy, dieses nummernfressende Gerät, auf das ich jetzt schiebe, dass ich mir ihre Nummer nicht merken konnte. Und nirgendwo in meinen Hirnwindungen, weil die schon so aufgeweicht sind durch das ewige Zahlen-nicht-merken-Müssen, kann ich einen Hinweis darauf finden, wo das kleine Mistding ist. Oder weil ich einfach schlampig bin. Da ist es wieder, das nicht erfüllte Ordnungsklischee.
Ich lausche, aber bis auf das leise Brummen des Kühlschranks höre ich nichts. Hey, sag mal Piep.
Aber alles kein Problem, gibt für alles eine einfache Lösung. Ich schiebe die Schüssel von mir und gehe mit angehobenen Armen und einem kurzen Kontakt zum Türrahmen in den Flur, taste auf dem Schränkchen. Zumindest das Festnetztelefon ist an seinem Platz. Meine eigene Nummer wählend, mache ich mir Hoffnungen, dass es irgendwo, vielleicht dumpf aus einer Tasche heraus, klingeln wird. Wählen und hoffen. Toll, meine Nummer kann ich auswendig. Ein leises Knacken und kurze Stille im Hörer. Ich warte. Fehlanzeige. Die Mailbox geht ran. Das Scheißding ist aus.
Etwas zu heftig ramme ich das Telefon zurück in die Ladestation. Jetzt hilft nur suchen.
Zuerst suche ich noch ruhig und langsam. Ich bewege mich systematisch, ertaste den rauen Stoff der Jacke an der Garderobe im Flur; weiter zum stummen Diener im Schlafzimmer, über dem lasch die Hose hängt, Jeansstoff, die Tasche innen ist weich und leer; dann durchsuche ich die Tasche, die ich das Wochenende über dabei hatte, befühle die Innentaschen. Nichts. So viele Taschen. Überall Fehlanzeige.
Jetzt kann ich nur noch raten. Ich versuche, ruhig zu bleiben, zu atmen, nicht hektisch zu werden. Das ist so eine Sache, mit der Hektik, das kann blöd ausgehen. Dann schmeiße ich was um oder runter oder werfe alle Systematik über Bord und taste immer wieder da, wo ich schon war. Bringt nichts, sich aufzuregen. Ruhig bleiben. Tastend fahre ich über das Sideboard im Wohnzimmer, über die Furnierfläche des Wohnzimmertisches, taste mich über den Boden des Schlafzimmers auf allen Vieren, fühle mich vorwärts über die schmalen Linien zwischen den Holzdielen, die kühl sagen: Sorry, du Depp, kein Handy hier.
Als ich wieder im Wohnzimmer ankomme, gibt etwas in mir auf. Ich setze mich auf den weichen Teppich, meine Hände versinken ein ganz klein wenig darin.
Früher war ich jähzornig. Manchmal wiederhole ich das so oft, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich nicht doch Lust habe, irgendwas auf den Tisch zu hauen und zu brüllen. So wie jetzt.
Das eine Mal, wenn ich jemandem so offen begegnen kann und sie mir ihre Nummer gibt, muss ich es verlieren. Ich brauche das Scheißhandy. Nachdenken, das hilft vielleicht mehr als Schreien. Also, am Samstag hatte ich das Handy noch, den kleinen, sprechenden Mistapparat.
Am Samstag fuhr ich mit dem Taxi vor dem K4 vor. Und das Taxi hatte ich bei mir um die Ecke aus der Stammkneipe mit dem Handy gerufen. Da hatte ich es noch.
Seit dem ersten Benefiz machten die Jungs und Mädels vom Engel das Catering für uns und die anderen Bands. Tina half mir, die Styroporkisten in den Kofferraum des Taxis zu hieven. Und dann ging es mit der Verpflegung quer durch die Stadt.
Zwei Techniker standen rauchend vor dem Eingang und begrüßten mich. Ein paar Kisten packten sie schon mal backstage. Die letzte balancierte ich auf einer Hand, während ich tastend das Geld für das Taxi zusammensuchte. Den Stock in der einen, die Kiste in der anderen, wandte ich mich Richtung Treppe. Der Druck wuchs in dem Moment, da ich die schwere Türe aufzog und mir durch den hallenden Vorraum die Stimme unseres Gitarristen entgegenrief.
»Mr Nolook, zu allem bereit?«
»Klar«, sagte ich, den Kopf in Chris’ Richtung wendend.
Umarmung, Schulterklopfen.
Darf ich vorstellen? This is the band:
Chris ist der Typ Surfer und Rampensau, wie er im Lexikon unter »Gitarrist« steht. Auch wenn wir uns mit unseren beiden Egos im Raum des Öfteren mal gegenseitig im Weg stehen, verbindet uns viel. Das Surfen, das andere Ende der Welt, Freundschaft. So Zeug eben.
Sein Gitarrenkollege Fabi ist ein Typ mit zwei Gesichtern. Auf der Bühne schaut er drein, als ob er jemanden fressen würde. Also, das höre ich zumindest immer. Ist er von der Bühne runter, ist er einer der wenigen Menschen, die ich kenne, die eigentlich immer fröhlich sind.
Oli, der Bassist, ist dieser große, etwas lethargische und gutmütige Typ, immer mit Mütze, als ob sie nicht zu trennen wären und er schon mit dem Ding auf die Welt gekommen wäre.
Flo schließlich ist unser Schlagzeuger. Flo und Fabi kannten sich schon von einem Hardcoreprojekt, und die Härte im Verbund mit der Präzision, mit der Flo die Drums bearbeitet, tut unserer schnellen Rock-Punk-Mischung gut. Wir raufen uns nun schon seit sechs Jahren zusammen und dehydrieren die Massen. Na ja, Massen; die Leute, die auf unsere Konzerte kommen.