Kitabı oku: «Ahrenshooper Narrenspiel»

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Tilman Thiemig

AHRENSHOOPER NARRENSPIEL


Für Hans-Georg Assmann

VORAB. »Ahrenshooper Narrenspiel« erzählt eine fiktive Geschichte, die an jene im »Ahrenshooper Todholz« geschilderten Ereignisse anknüpft. Auch wenn das Romangeschehen die Leserschaft abermals zu zahlreichen existierenden Schauplätzen führt, sind die dort anzutreffenden zeitgenössischen Personen jedoch Gestalten meiner Fantasie und mögliche Ähnlichkeiten somit lediglich dem Zufall geschuldet. Zur besseren Orientierung habe ich im Anhang eine Übersicht dieses handelnden Personals beigefügt. Überdies findet sich eine Reihe von zumeist weniger bekannten Namen aus Kunst und Literatur, die meines Erachtens einer Erinnerung würdig sind. Die Kapitelüberschriften verweisen auf historische und literarische Narrenfiguren aus verschiedenen Kulturkreisen.

Inhalt

1. Kaspar

2. Stańczyk

3. Taugenichts

4. Prangerl

5. Kuony von Stocken

6. Dagonet

7. Dummer August

8. Oskar Matzerath

9. Rigoletto

10. Bajazzo

11. Kunz von der Rosen

12. Pierrot

13. Peter Schlemihl

14. Hans Wurst

15. Till Eulenspiegel

16. Simplicius Simplicissimus

17. Grobian

18. Schelm von Bergen

19. Jack Oldfield

20. Mathurine

21. Bracke

22. Don Quixote

23. Hans Clauert

24. Joseph Fröhlich

25. Baudolino

26. Paul Zopf

27. Juan Calabazas

28. Claas Narren von Ranstedt

29. Emanuel Quint

30. Perkeo

31. Squirrel

32. Harlekin

33. Baron Schmiedel

34. Hersch Ostropoler

35. Parzival

36. Pamphalon

37. Narrenschiff

Dramatis personae

Literatur

Dank

1. Kaspar

Der Bote vertraut dem Admiral. Auch wenn jener an Land kämpft. Auf wenigen Quadratmetern. In seiner Box, umgeben von Gestänge und Plankenholz. Bodenhart und Gitterrost. Seine Arena. Sein Ring.

Er ist stark. Groß. Schwarz. Muskeln. Sehnen. Fesseln. Hufe. Zorn. Ein Vulkan. Im Ausbruch. Eine einzige, ewige Eruption. Schweiß strömt an den Flanken. Augen drängen aus Höhlen. Die Nüstern beben.

Nur ein wenig hat er nachhelfen müssen. Forcieren. Mit der Forke Spitz. Der furiose Tanz wird vom inneren Rhythmus getaktet. Bestimmt. Als ob der Hengst darauf gewartet hat. Lange schon. Erwartet. Diesen Moment. Diesen Waffengang. Allein mit seinem Herrn, Besitzer, Peiniger, für den nun die Minuten der Abrechnung angebrochen sind.

Es scheint zu stimmen, was er gehört, gelesen, gefunden hat. Dass jener nicht gut zu seinen Pferden ist. Den eigenen ebenso wenig wie zu den anderen, den Logiergästen. Ein Scheusal. Unbeherrscht und brutal. Jähe Raserei.

Doch das ist eigentlich gleichgültig. Für ihn, den Boten. Bedeutungslos für das Geschehen. Darum geht es ihm ja nicht. Selbst wenn die furore Rache des Admirals seine Aufgabe erleichtert. Zudem hat er sich nie sonderlich für Pferde interessiert, gar Gefühle gefunden. Obwohl oder gerade, weil sein Vater sie ihm nahebringen wollte. Ihm auch die Bücher gab, aus seinem Schrank. »Mein Freund Meteor«, »Meine Pferde und ich« und manch einen anderen Band, den er von Freunden aus dem Westen bekommen hatte. Thiedemann. Winkler. Schockemöhle auch. Damals. Als sein Vater noch vom eigenen Ruhm im Sattel geträumt, es jedoch nicht einmal mehr zum Triumph als Tonnenkönig gereicht hatte.

Und auch die Kaltblüter auf dem kleinen Hof der Eltern hatten ihn kaltgelassen. Lotte und Selma. Die ihn über die Wiesen, den Strand getragen hatten. Auf breitem Rücken. In ruhigem Schritt.

Lange her. Er wollte kein »söchtener Reuter wer’n«, wie sein Vater einer gewesen war. Bis ihm Skåne die Zügel aus den Händen genommen hatte.

Oktober 1967. Im Darßwald. Wo er helfen wollte. Nein, er wollte nicht helfen. Kein Reiter sein, sondern ein Bote. Wandernd. Der dem Galopp zuschaut. Der nun beinahe am Ziel. Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp. Über Stock und über Steine. Brich dir aber nicht die Beine.

Dir nicht. Sondern ihm. Und nicht nur die Beine. Was nun beinahe vollbracht ist. Im Fell des Admirals sprengselt sich Rot. Sprengselt? Nein, es mäandert. Und das Stroh changiert in vagem Grau. Frieden kehrt ein. Das Pferd verschnauft. Sein Opfer? Verschwindet. In welchem Jenseits auch immer. Lässt nur Haut und Knochen zurück. Schmutz, Lumpen und Loden.

Nicht einmal ein Echo. Hat der Bote ihn doch bereits zuvor verstummen lassen.

Ein Knopf seines Trachtenjankers hat sich retten können. Ist durch die Gitter gehüpft. Hirschhorn. Ohne Blut. Ohne Hirn. Kurz erwägt der Bote, ihn einzustecken. Doch sein Erinnern bedarf keines Mitbringsels. Seine Freude keiner Trophäe fürs Daheim. Die Siegeszeichen wird er zurücklassen.

Er denkt wieder an das Bild im Flur. Über dem Tischchen mit dem Telefon. Es hing schon immer da. Schaute ihn an seit frühen Kindertagen. Erzählte seine Geschichte und die seines Malers, der ein Großonkel von Mutti war, wie sie wieder und wieder stolz betont hatte. Der Onkel Schorse. Von dem noch andere Bilder im Haus hingen. Der Heilige Franz. Ein Mann mit Geige. Eine Frau auf einem Pferd. Doch am besten gefiel ihm das über dem Telefon. Schon immer. Genau! Es ist so, als ob ihn das Bild anrufen würde. Ihm sagt, was er zu tun hat. Jetzt.

Und er ist vorbereitet. Greift zum Rucksack, holt die Möhren hervor. Und die Schere. Geht zu den anderen Pferden.

Den Admiral lässt er noch zur Ruhe kommen. Zuerst Montana. Dann Bella und Domino. Nun die Shetlands. Björk und Avalon. Schließlich Maestro und Sunshine. Zum Abschluss dann den Admiral. Die Krönung.

Jedes Mal die gleiche Prozedur: Möhren. Kraulen. Streicheln der Mähne, der Flanken und Kuppe. Behutsam. Sanfte Worte, die ihr Vertrauen wecken. Wimpernblick. Und dann das Kappen des Schweifes. Nicht zu nah an den Wirbeln, doch lang genug. Damit das Rosshaar etwas hermacht. Wenn es dann mit rotem und grünem Band geflochten ist. Gebunden. Vor den Boxen abgelegt. Wie die Strecke nach der Jagd. Nur dass die gestreckten Schweife noch nicht das Ende markieren, das Finale. Sondern den Auftakt, den Aufbruch, das Anblasen des Treibens.

Der Bote betrachtet sein Werk. Die Nachricht. Seine Botschaft. Lies, wenn du es verstehst! Prüfe, wenn es gefällig ist!, wie seine Oma immer geraunt hatte. Märenhaft. Orakelt. Er ist zufrieden. Wirft einen letzten Blick in das Geviert des Admirals. Vergewissert sich, dass dort im Rappen das einzige Leben pulsiert. Verlässt den Stall.

Draußen empfängt ihn Nacht. Abnehmender Mond. Merkur und Saturn. Der Kadaver des Hundes. Es tut ihm leid, ihn erschlagen zu haben. Es war nötig gewesen. Er nimmt das tote Tier, auffällig schwer ist er, der Dobermann. Bettet ihn auf die Ladefläche des Land Rovers. Er wird ihn begraben. Später. Beerdigen. Bestatten. Vielleicht findet er einen Feldrain mit letzten Sonnenblumen. Oder Herbstastern aus einem Bauerngarten. Zur Not eine Nachttankstelle. In Wismar. Mit Blüten im Folienkleid.

Zuvor nimmt er jedoch das Schlüsselbund. Geht zum Herrenhaus, öffnet die Tür, sucht und findet schließlich das Büro. Findet Papier und Stift. Hinterlässt zwei Notizen in Druckschrift: Namen, Datumsangaben, Telefonnummern. Drapiert die Zettel sichtbar. Doch willkürlich positioniert auf dem Schreibtisch. Zettels Traum. Verlässt das Zimmer. Das Gebäude. Schließt ab, greift seinen Wanderstecken, steigt dann in den Wagen mit dem Schriftzug Reitergut Wohlbehagen.

Wohlbehagen. Ein Lächeln huscht über seine Lippen. Er startet den Motor. Verlässt ohne Licht das Gehöft und fährt in den neuen Tag.

2. Stańczyk

Der neue Tag begrüßte Robert Aaron Zimmermann auf der Meiningenbrücke. Mit Schwellenschlag. Unterm Wagen. Einem munteren »Guten Morgen, mein Freund!« des Fahrers. Und frischen Sonnenstrahlen aus dem Osten.

Richard Sonntag und er kamen auch aus jener Richtung. Genauer gesagt aus Südost. Aus Polen. Woiwodschaft Kleinpolen. Region Krakau. Oder Kraków. Je nachdem, aus welcher Richtung, welcher Zeit man kam, schaute. Für Zimmermann war es immer noch Krakau. Wie er es als Kind gekannt hatte. Gerade nachdem, was alles geschehen.

»Ist das nicht herrlich, dieses Gerumpelpumpel? Das hört sich so richtig nach Zuhause an!« Sein Chauffeur ließ die Sonne guter Laune auch im Westen aufgehen. Seit beinahe einem halben Jahr stand Sonntag nun schon in Zimmermanns Diensten. Kutschierte ihn durch die Lande. Zunächst rund um Ahrenshoop. Dann durch Berlin. Die Straßen der Kindheit. Erinnerungen. Zu vergangenen Adressen. Untergegangener Heimat. Zuhause? Das stand für Zimmermann seit über achtzig Jahren jenseits des großen Teiches. In Kanada.

»Ach, mein treuer Gefährte, ob du es wahrhaben willst oder nicht. Nächste Woche geht es für mich wieder retour. Nach Halifax. Nur noch das Richtfest vom Partikel-Hof erleben. Feiern. Durchaus. Doch dann ist Schabbes, mein werter Sonntag!«

»Na komm, aber einmal zu den Kranichen sollten wir es wenigstens noch schaffen. Nach Groß Mohrdorf oder Pramort. Da kann man die Biester bestens sehen. Schau einmal, da sind sie schon! Die haben ja gerade ihre große Zeit hier oben.« Sonntag wies durchs geöffnete Sonnendach.

Zimmermann folgte dem Wink. Dem Flug der schönen Vögel. Die ihn jedoch kurz hinter Zingst in leichten Schlummer entführten. Halbschlaf. Dösen. Zwischen den Zeiten. In den zurückliegenden Wochen hatten sie sich auf den Spuren von Großmama Ruth befunden. Sie war das Ziel seiner Reise gewesen. Ihre letzten Jahre. Ihr Ende.

Sonntag hatte die beiden auch gewohnt sicher dorthin geführt. Zu jenem Ort, der heute Oświęcim heißt. Bekannter jedoch als Auschwitz. Auf dem großen Parkplatz hatte Zimmermann allerdings etwas verlassen. Der Mut? Die Entschlossenheit? Oder die Notwendigkeit, alles wissen zu müssen? Er hatte es nicht sagen können. Nicht in Worte fassen. Womöglich waren es die vielen anderen Besucher gewesen. Die wie Touristen wirkten, die auf dem Weg zu einer ganz besonderen Sehenswürdigkeit sind. Bei ihrem Anblick wollte der alte Mann auf einmal nichts mehr sehen. Schon gar nicht Großmama Ruth im Streifengewand. Ihre letzten Habseligkeiten in einer Vitrine. Oder ihren Namen auf einem Dokument. Ihr Leben zur Nummer reduziert. Einer Tätowierung.

Sonntag hatte ihn verstanden. Ohne große Erklärungen war er weitergefahren.

Später hatte Zimmermann dann bei einem Trödler Christbaumschmuck gekauft. Im Antiquarium in Krakau. Strohsterne, kugelbunt. Rauschgoldengel, feinstes Haar. Ein Schneemann, gedrechselt, Erzgebirge, Winterhilfswerk … Dort hatte er auch das Bildnis entdeckt: Stańczyk. Einst Hofnarr polnischer Könige. Jetzt Reisender in Zimmermanns Hofstaat. Er hatte das Gemälde ohne große Feilscherei gekauft. Zumal es von Katarzyna Gawłowa signiert war. Jener Volkskünstlerin, die ihm die Kunstdamen aus Ahrenshoop ans Herz gelegt hatten. Wobei ihn der Stil an einen anderen polnischen Künstler erinnerte: Er glich dem der Bilder Antoni Libudas. Der ebenso wie sie aus Zielonki stammte. Antoni Libuda. Der Vater Hans von Wustrows und der …

»Verdammter Köter!«

Sonntags Fluch schreckte ihn aus Gedankendämmer. Der Gefährte bremste. Riss das Lenkrad herum. Gefährlich. Bremste abermals. Der Wagen schlingerte für Augenblicke. Blockierte. Kam zum Stehen. Rechtzeitig. Gefahr gebannt. Auf der anderen Straßenseite glaubte Zimmermann einen Hund zu erkennen. Obgleich. Der Gang? Die Läufe? Die Flanken? »War das ein Wolf?« Zimmermann war nun endgültig im Tag angekommen.

»Glaub ich nicht. Auch wenn die Viecher immer näher rücken. Finde ich ja gar nicht so schlecht, eigentlich … Die schrecken wenigstens die Jogger ab. Und die Radler. Hat man im Wald wieder seine Ruhe. Aber das hier sah eher wie ein Hund aus. Oder ein Fuchs, so vom Fell und vom Kopf her. Aber mit mächtig langen Beinen. Wie so ein Model. Ein etwas räudiges Model mit Kohldampf. Schau mal, der will zu den Wasserbüffeln.«

Das wilde Wesen zockelte den Weg entlang Richtung Bodden und bog dann auf die Koppeln des Gutes am Wiecker Eichberg ab.

»Recht hat er. Ist Zeit fürs Frühstück. Lass uns Brötchen holen! Dann freut sich Lore noch mehr über das Wiedersehen.«

Sonntag startete den Wagen. Blinkte ein paar hundert Meter weiter. Bog ab. Und parkte keine fünf Minuten später vor der Wiecker Backstube. Schlenderte hinein. »Moin Tanja!«

Zimmermann wartete derweilen im Auto. In Grübeleien. Darüber, wie er Lore Bradhering beichten sollte, dass er in wenigen Tagen seine Zelte in ihrer Pension abbrechen würde. Ein Radler riss ihn aus jenem Gespinst. Ein großer Mann. Sehr schlank. Sehr schwarz gewandet. Hemd, Hose, Jackett, selbst die Krawatte. Die Stiefel ebenso. Anthrazite Symphonie. Eine Erscheinung. Wie Henry Fonda. »Spiel mir das Lied vom Tod«. Nur der schrillgrüne Fahrradhelm passte nicht ganz ins Bild. So wie die Weste mit ihren Reflektorstreifen und dem Klettverschluss. Ein Mann mit der Anmutung eines Auftragskillers sowie ausgeprägtem Sicherheitsbewusstsein. Eine interessante Kombination. Zimmermann musste an seine erste Begegnung mit einer ebenfalls ungewöhnlichen Gestalt denken, die in Ahrenshoop Körbchen genannt wurde. Auch er außergewöhnlich, auffällig. Nur anders.

»Schau mal, die Finnen, die mag Lore besonders gern. Und hier, die Wiecker Wickel, die sind auch klasse. Mit Walnuss und Sanddornklecks. Schmecken sensationell!«

Hungrige Blicke in geöffnete Tüten. Der Geruch frischer Backwaren. Und weiter ging die Fahrt nach Born, Nordstraße, Pension Kuhfuß.

Lore Bradherings schmuckes Kapitänshaus empfing die Reisenden im goldenen Oktoberglanz. Schon links und rechts der Pforte Kürbisse in allen Größen. Von Kinderfaust bis King-Kong-Format. Ebenso bewacht: die Haustür. Flankiert von Strohgarben, gebunden in blau-weiße Bänder. Der Wein am Mauerspalier schenkte dem Farbenspiel schillerndes Rot.

Nur eine Nuance blasser jenes auf den Wangen der heraneilenden Herrscherin dieses Reiches. »Robert! Wie schön, wie wunderfeinschön, dass du wieder daheim bist. Endlich!« Ein wenig zu stürmisch die Umarmung. Ein wenig zu lau ihr knappes »Hallo Richard«, mit dem sie ihren Schwager begrüßte.

Zimmermann ahnte, dass er sich mit der Ankündigung seiner Abreise noch etwas Zeit lassen würde. Er war noch nie ein guter Hiobsbotschafter gewesen. Obwohl das in seinem langen Berufsleben als Anwalt und Notar ungezählte Male zum Job dazugehört hatte. Allerdings musste er sich um die aktuelle Gesprächsführung keine Sorgen machen. Die hatte Lore Bradhering sofort an sich gerissen. Vollumfänglich. Und sie sollte sie im weiteren Verlauf des Frühstücks nicht wieder aus der Hand geben. Es fing schon mit seinem Geschenk an. Den Rauschgoldengel aus Krakau hatte er für sie ausgewählt. Zur Erinnerung gedacht an ihr Abenteuer im Eiskeller. Ihre Nacht in kalter Angst. Vor gut einem halben Jahr. Als die Polizei die Entführte auf dem Nachbargrundstück aus ihrem Verlies befreit hatte. In güldene Rettungsdecke gehüllt, war sie ihm wahrlich wie ein Himmelswesen erschienen. Engelsgleich. Weihnachtlich.

Lore fing den zugeworfenen Ball des Rückblicks dankbar auf. Öffnete das Tagebuch dieses Frühjahrs. Jener Wochen im März, April, Mai – ein ereignisreicher Lenz! Ausführlich schilderte sie die Geschehnisse, die allen bekannt waren. Ließ Namen fallen, einen nach dem anderen. Manch einer dieser Namen fand sich nun auf einem Grabstein oder auf kleinem Schild an einem Friedwaldbaum. Kurzes Gedenken. Stummer Blick. Um dann umso plaudriger fortzufahren. »Wisst ihr noch?« – »Kennt ihr noch?« – »Könnt ihr euch noch erinnern?« Auf Antworten konnte Lore gut verzichten. Auch die hatte sie parat. Leitete schließlich so geschickt aus der Vergangenheit in die Gegenwart über. Die Zukunft. Warf den Blick auf Ahrenshoop. Den Partikel-Hof. Das neue Museum. Das Haus des Verschwindens. Berichtete vom Stand der Bauarbeiten, die gut vorankamen. »Wir sind hier ja schließlich nicht Berlin!« Sie führte aus, wie schön das alles werden würde, schon jetzt aussehe. Mit dem Zaun, den Tafeln und Bildern daran, den Kunstwerken, der Aussichtsplattform und den Gucklöchern.

Zimmermann wusste um den Stand der Dinge. Hatte erst vor wenigen Tagen mit Andreas Kempowski, seinem Adjutanten, telefoniert, der ihm bei seiner Mission im Frühling treu zur Seite gestanden hatte. Trotzdem freute es ihn, nun von Lore so viel Gutes zu hören. Überdies beruhigte es, zu erfahren, dass auch die zwischenmenschliche Chemie bei der Ahrenshooper »Bande« stimmen würde und sich die Damen Müller-Paul, Riese, Seegers und Wahnschaffe prächtig vertragen würden. Auch mit dem Herren Schiffers von der Bunten Stube. Obwohl der ja zwischenzeitlich was mit der Seegers gehabt hätte. Und mit dem Kempowski würde das ebenfalls prima klappen, der ja nun der Syndikus von dieser Stiftung wäre. Sie sprach das Y als Ü. Und wählte zwei S fürs Ende.

Zufrieden griff Zimmermann zum zweiten Wiecker Wickel. Fast glücklich. Wie anders war doch die Atmosphäre im Frühjahr gewesen. Allein die Turbulenzen bei der Testamentseröffnung! Kabale und Ranküne. Eifersucht, Leidenschaften, Neid. Ahrenshoop hatte sich ihm als Jahrmarkt der Eitelkeiten präsentiert. Und nun: Friede, Freude, Eierkuchen. Nicht ganz. Denn Lore war am Kempowski hängen geblieben. An seinem Auszug. Umzug. Einzug bei Elisabeth Müller-Paul in Ahrenshoop. Was sie ja nun sehr, sehr bedauern würde. Doch zugleich betonte sie, wie schön es wäre, dass ja ihr lieber, lieber Robert, ihr Bobby, noch sein Zimmer bei ihr hätte. Sein Zuhause, das sie ihm auch immer recht behaglich machen würde, damit er sich bei ihr wohlfühle. Jetzt hatte sie ihn am Wickel. Am Borner.

Er legte sich gerade die passenden Worte zurecht, als Lore den letzten Knust ihres Finnbrötchens als Stichwortgeber nutzte. »Habt ihr eigentlich mitbekommen, dass Hakala-Holappas Schwiegervater gestorben ist? Erst vor ein paar Tagen. Wilhelm und sein Mann sind gerade zur Beerdigung in Helsinki. Dabei haben sie eigentlich gar keine Zeit für so etwas. Wo sie doch so viel zu tun haben mit dem Haus. Sie wollen doch demnächst schon einziehen. Im November. Matti hat extra Urlaub genommen von der Uni. Ein so lieber Mann, sehr höflich und männlich und immer korrekt gekleidet. Nicht so bunt wie der Wilhelm. Keine albernen Brillen. Keine närrischen Anzüge. Keine rosa Zigaretten. Merkt man gar nicht, dass der … na ja, ihr wisst schon. Ich musste mich erst daran gewöhnen. Als die beiden eine Zeit lang bei mir unter einem Dach gewohnt haben während des Umbaus. Aber es sind ja beide so liebe Menschen.«

Vom Tod des alten Holappa hatte Zimmermann noch nicht gehört. Und auch Matti kannte er nicht. Wusste nur, dass Wilhelms Partner einen Lehrstuhl für Finno-Ugristik an der Georgia Augusta in Göttingen innehatte. Und dass der Professor und der Profiler das Haus von Lores Patentante in Born gekauft hatten. Ihrer »Tante Wilhelm«. Wilhelmine von Wustrow. Künstlerin. Keramikerin. Und die Mutter Hans von Wustrows.

3. Taugenichts

»Hans von Wustrow ist das Problem. Sein Schweigen. Sieht man mal von allem anderen ab. Doch seine kategorische Verweigerungshaltung macht es noch schwieriger. Und ohne seine Einwilligung geht es nicht. Rein formal sind die Bilder Libudas ja sein Eigentum. Alles andere ist in der Schwebe. Das kann also ewig dauern.« Kempowski ließ zum wiederholten Male den kleinen Löffel durch das schwarze Kalt des Kaffees kreiseln und blickte dabei aus dem Fenster. Es regnete Bindfäden. Dabei bräuchte er jetzt dringend eine Zigarette. Zumal das Künstlerhaus Lukas über eine prächtige Terrasse verfügte. Rauchen mit Boddenblick.

»Und du meinst, da lässt sich nichts machen, zum Beispiel über seinen Anwalt?« Dörte Wahnschaffe stippte enttäuscht Streuselkuchen in heiße Milch. Kramte im Chaos ihres Schreibtisches. Holte Fotos hervor. Betrachtete sie versonnen. Die Leiterin des Lukas’ hatte die Arbeiten Antoni Libudas damals zusammen mit zwei Künstlerfreundinnen entdeckt. Und war von Anbeginn an begeistert gewesen. Liebe auf den ersten Blick. Ungeachtet der dramatischen Begleitumstände. Der Gefahr.

»Goldi? Den kannst du vergessen. Das ist ein echter ›Held der Arbeit‹. Kenn ihn ja schon Ewigkeiten, den guten Goltsche. Trägt seinen Spitznamen außerdem nicht ganz unbegründet. Und ist ja auch nur Pflichtverteidiger. Auf den können wir nicht zählen.« Ein weiterer Blick zum Fenster. Mit schlechten Aussichten. Kempowski hatte inzwischen sein Zigarettenetui hervorgeholt. Wenigstens ein bisschen Aroma schnuppern.

»Schade nur, dass das Gericht Hakala-Holappa als Betreuer wegen Befangenheit abgelehnt hat. Obgleich das auf der anderen Seite auch verständlich ist, ja, fast abzusehen war.«

Nun hatte er auch sein Feuerzeug hervorgeholt. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Ungeachtet des Dauerregens.

Dörte Wahnschaffe streuselte derweilen ein weiteres Stück. Bester Plattenkuchen von nebenan. »Ja, der Wilhelm ist ganz besessen von ihm. Der besucht ihn regelmäßig da unten und will ihn unbedingt aus der Reserve locken. Hat mich auch schon gefragt, ob ich nicht mal mitkomme und so eine Art Maltherapie mit ihm mache. Vielleicht wäre das was. Ist ja eigentlich ein armer Kerl.«

»Armer Kerl? Ich weiß ja nicht … Ich bin ein armer Kerl.« Ein Dreiecksblick: Etui – Feuerzeug – Regenguss.

»Als ich übrigens das erste Mal erfuhr, dass er in der JVA Waldeck ist, habe ich zunächst Waldau verstanden. Vielleicht auch verstehen wollen. Ist ja ein ganz berühmter Kasten. Die alte ›Irrenanstalt Waldau‹. Mit richtig prominenten Insassen. Dichtern, Künstlern, Robert Walser zum Beispiel. Oder Friedrich Glauser. Kennst du sein ›Matto regiert‹? Schauerlich, sage ich dir, wirklich schauerlich. Und dann war da noch der Wölfli, Adolf Wölfli. Einer meiner Heroen der Art brut, an dessen Stil mich ja die Bilder Libudas erinnern. Also insofern kein so großer Unterschied. Auch wenn die Waldau in der Schweiz liegt. Obwohl, da kommt ja schließlich der Wilhelm her … Ach, irgendwie hängt doch alles zusammen.«

»Davon bin ich überzeugt. Die Frage ist nur, wie?« Kempowskis Konzentration ließ nach. Spürbar. Entzug.

Wahnschaffe hingegen kam immer mehr in Fahrt. War in ihrem Element. Metier. Im Team des Partikel-Hofes war sie fortan für interdisziplinäre Themenausstellungen sowie das Stipendiatenprogramm zuständig. Außerdem führte sie das neue Museum zusammen mit Dr. Johanna Riese als Doppelspitze. Es war daher abzusehen, dass im Haus am Paetowweg zukünftig zahlreiche Künstlerinnen und Künstler der Art brut aus der Versenkung gehoben, dem Vergessen entrissen werden würden. »Der Mutismus ist in diesem Zusammenhang ebenfalls ein spannendes Phänomen. Ich bin ja davon überzeugt, dass Wustrow nicht schweigt, weil er nichts sagen will, sondern es aufgrund eines Schocks nicht kann. Eine Blockade, oder so. Wilhelm sieht das genauso. Er erinnert mich ein bisschen an Angus McPhee. Auch ein ganz großartiger Künstler. Schotte. Ganz einfaches Leben. Harte Kindheit, Jugend. Auf den Äußeren Hebriden. Wurde dann wohl während des Zweiten Weltkrieges auf den Färöer verschüttet, oder so. Kehrte auf jeden Fall total verändert zurück. Mürrisch. Introvertiert. Stumm. Verstummt. Worauf ihn seine Familie in eine Anstalt gebracht hat. Dort hat er wohl beinahe 50 Jahre verlebt. Ohne ein einziges Wort. Obgleich da die Aussagen abweichen und es Zeugen dafür gibt, gab, dass er ganz, ganz selten ein, zwei Sätze gesprochen haben soll. In Gälisch. Also die medizinische Differenzierung zwischen dem selektiven und dem totalen Mutismus. Doch das Bemerkenswerte ist, dass er in der ganzen Zeit Kunst gemacht hat. Versteckt. Im Stillen sozusagen. Und zwar ganz wunderherrliche Gebilde. Aus Gräsern, Schafwolle, Zweigen, Blättern, Flechtwerk. Sonderbarster Art. Aber auch in konkreter Formgestaltung. Kleider und andere Gewänder, Geschirre, Taschen, Mützen, Hüte und Kappen sogar. Oftmals von erstaunlicher Größe. Als ob es Geschenke für Riesen wären. Und er versteckte die Dinge im Buschwerk und den Hecken auf dem Anstaltsgelände. Ja, Angus, den würde ich auch gerne einmal bei uns präsentieren. Obwohl er ja inzwischen schon recht bekannt ist. Nicht wirklich vergessen. Es existiert sogar ein feiner Film über ihn.«

»Ein Schotte? Na, der würde ja bestens hierher passen. Da oben regnet es ja auch ständig.« Kempowski war ebenfalls kurz davor, sich in Schweigen zu hüllen. Mürrisch. Stumm.

»Nun übertreib mal nicht! Die letzten Tage waren doch herrlich. So richtig Goldener Oktober.«

Der trat in diesem Moment nach kurzem Klopfen in Form eines riesigen, in allen Farben des Regenbogens strahlenden Dahlienstraußes durch die Tür. Hinter ihm lugte Ann-Kathrin Seegers hervor. »Kinners, die Sonne geht auf. Ich habe ein paar Blümchen mitgebracht. Willst du auch ein Bund, Kempowski? Für deine Elisabeth? Obgleich, beim Anblick ihres Gartens hieße das ja eigentlich Eulen nach Athen tragen. Komisch, früher hatte sie es gar nicht so mit der Gärtnerei. Aber, wo die Liebe blüht, da sprießen auch die Blüten. Oder solltest etwa du den grünen Daumen mitgebracht haben? Ins neue Glück am Weg zum Hohen Ufer? Ich kann mir dich so gar nicht mit Spaten, grüner Schürze und Strohhütchen vorstellen.« Die Keramikerin pellte sich aus pitschnasser Pelerine. Schüttelte Tropfen aus grauen Locken. Der Schal stand ihrem Haar. Seide. Cadmiumorange.

Kempowski druckste ein wenig. Begossener Pudel mit Dackelblick. »Ich geb es ja zu: Ich mag das. Dieses Gärtnern. Außerdem kann man gut bei rauchen. In Rostock hatte ich sogar eine Datsche. In Brinckmansdorf, Kleingartenanlage Einsiedler. Die fand ich allein schon des Namens wegen klasse. Doch da ich ja nun dem Einsiedlerdasein abgeschworen habe, tobe ich mich halt bei Els … Elisabeth aus.« Beinahe hätte er Elseken gesagt. Was aber eigentlich nur für ganz besondere Ohren gedacht. Er brauchte wirklich eine Zigarette. Dringend! »Ach ja, wo wir schon bei Komplimenten sind: Deine Köpfe sehen prima aus!«

Seegers war im Partikel-Hof mit den Ausstellungen auswärtiger Künstler, dem später entstehenden Skulpturenpark sowie dem Bereich Museumspädagogik betraut. Außerhalb hatte sie zusammen mit Dörte Wahnschaffe und Johanna Riese den komplexen Bauzaun entworfen und gestaltet. Der eher eine eigene Kunstschöpfung voller Anziehungskraft als abwehrendes Bollwerk geworden war. Für Besucher und Gäste war die Symbiose aus Information, Kreation sowie einer gehörigen Prise Verspieltheit schon jetzt ein Anziehungspunkt. Bestaunt und beliebt. Und auch bei manch einem Einheimischen waren beim Anblick der Bastion die in Ahrenshoop nicht zu leugnenden Vorbehalte gegenüber dem neuen Haus geschwunden.

Bei der Farben- und Formenwelt hatte sich Seegers von Alfred Partikels »Kleinem Flügelaltar« inspirieren lassen, den der Maler 1920 gemeinsam mit dem Künstlerfreund Gerhard Marcks geschaffen hatte. Eine gute Wahl. Zudem eine bislang erfolgreiche Graffitiprävention.

Die Krönung waren jedoch die Köpfe, die auf den acht Ecken des Oktagons thronten. Wie Hähne auf Kirchtürmen verkündeten sie den Anbruch eines Morgens. Geboren aus dem Dunkel des Vergangenen. Auch hier hatte ihr zunächst Gerhard Marcks als Pate zugelächelt. Was war Seegers von den Bronzen fasziniert gewesen, die der Bildhauer Partikel gewidmet hatte! Doch dann war sie weitergegangen. Auf den Spuren der zwei Freunde. Ihnen gefolgt. Bis in die Antike. Hatte in ihrem Briefwechsel gestöbert. Und war auf Mars und Jupiter gestoßen. Von denen es nicht mehr weit war zu Janus, dem Gott des Übergangs, des Anfangs und des Endes. Der Eingänge wie Ausgänge, Tore und Türen. Der nun in achtfacher Gestalt über den Partikel-Hof wachte. Zwischen Bodden und Meer. Ost und West. Gestern und Morgen. Dem Vergessen und der Erinnerung.

»Schön, dass du da bist!« Wahnschaffe nahm die Blumen ab, drapierte sie in Krügen während sie weiterplauderte.

Kempowski war immer wieder fasziniert, wie Frauen es schafften, sich weiter zu unterhalten, während sie komplizierte Arbeiten verrichteten. Für ihn ein Rätsel. Mysterium. Stiele zuschneiden. Vasen auswählen. Wasser einfüllen. Sträuße arrangieren. So etwas konnte er auch. Durchaus. Aber nur, wenn er sich voll und ganz darauf konzentrierte. Die Klappe hielt.

Anders doch Dörte Wahnschaffe. »Ich habe nämlich vorhin einen interessanten Anruf bekommen. Von Elke. Elke Stolte aus Königslutter.«

»Elke? Elke Stolte?« Der Name schien der Seegers ebenso wie ihm nichts zu sagen.

»Ja! Hat dir Jo nichts von ihr erzählt? Von seiner kleinen Schwester? Seiner vernünftigen kleinen Schwester. Mit dem braven, ordentlichen Spießerleben. War früher ja ein beliebtes Thema von ihm.«

Jo? Königslutter? Jetzt klingelte es auch bei Kempowski. Joachim Majakowski kam doch aus diesem Kaff. Irgendwo bei Braunschweig. Und auch Dörte Wahnschaffe. Das hatte sie ihm vor Ewigkeiten einmal erzählt. Jo Majakowski. Der wilde Mann. Grobe Klotz. Mit der feinen Seele. Dem tragischen Ende. Kempowski hatte ihn gemocht. Er bedauerte es, ihn nicht auf seinem letzten Gang begleitet zu haben.

»Nein. Von einer Schwester hat Jo nie etwas erzählt. Schon gar nicht von einer mit einer bürgerlichen Existenz. Wobei er ja kaum eine Gelegenheit ausgelassen hat, über Spießer zu lästern. Das normale Leben. Normale Menschen. Allerdings hat er ja auch an den meisten anderen Künstlern kein gutes Haar gelassen. Wahrscheinlich hat er sie gemocht. Sehr gemocht. Der Jo …« Ann-Kathrin Seegers betrachtete eine verwirrte Locke ihres Haares. Verloren. Ein kleines Feucht im Blick.

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